Um zehn Uhr am Freitagabend klopft es an der Haustür. Anke und ich sind vor einer halben Stunde von der Maikirmes in Hoffnungsthal zurück und ich habe mich gerade auf dem Sofa ausgestreckt. Viviane, Guido und Martin kommen herein, es ist Zeit unsere Reise gen Italien und Frankreich anzutreten. Am Vormittag haben wir schon Martins Pritsche von zwei Jahren Baustaub gereinigt und lange an einer guten Lösung zur Befestigung der vier E-Bikes gearbeitet. Nun wollen wir durch die Nacht bis La Spezia, der Hafenstadt am Ligurischen Meer, fahren, dort den LKW parken und mit den Rädern zu unserem ersten Übernachtungsort in Cinque Terre weiterfahren.
Wir verstauen die Radtaschen in die Lücken zwischen uns, bevor wir zu unserer diesjährigen Tour rund ums Tyrrhenische Meer aufbrechen. Von Cinque Terre möchten wir südwärts bis Neapel fahren, dann mit der Nachtfähre übersetzen nach Stromboli und weiter entlang der sizilianischen Ost- und Südküste. Anschließend quer durch bis Palermo und wiederum mit der Fähre gen Sardinien. Zum Abschluss Korsika durchfahren, bevor wir von Bastia nach Genua schippern und unsere Rundreise in La Spezia abschließen.
Gegen elf Uhr am Samstagmorgen erreichen wir unseren Parkplatz, übermüdet aber auch froh nun unsere Räder ab- und beladen zu können. Wir brechen zügig auf und schieben uns die ersten steilen Hügel bergauf. Leider landen wir, nachdem eine Kommunionsgesellschaft feierlich gekleidet zum Fototermin an uns vorbeizieht, vor einer Treppe. Mit vielen Gesten und uns unverständlichen Worten wird uns erklärt, dass wir entweder hier hinaufschieben oder wieder unsere ganze Strecke zurückfahren müssen, um dann den richtigen Weg ins UNESCO-Weltkulturerbe Cinque Terre einschlagen zu können. Letztendlich versuchen wir an zwei Stellen, geben aber wegen des Gewichts von Rad und Gepäck als auch wegen der nicht enden wollenden Stufen beide Male auf und finden unseren Weg nur durch Umkehr ins Zentrum. Von hier befahren wir dann endlich die herrlich am Hang oberhalb des Meeres verlaufende Küstenstraße Richtung Volastra.
Der Besitzer des Restaurants in dem wir zu Mittag essen ist ein Freund unseres Gastgebers und so werden wir nach einem fürstlichen Mahl direkt vom Esstisch abgeholt und in unserer Wohnung abgeliefert. Wir geben der Müdigkeit noch nicht nach, duschen uns nur, um dann die Höhe haltend übers Dorfende hinaus durch die Gärten und Weinberge zu wandern. Bunte Wildblumen, Eidechsen und fantastische Ausblicke begleiten unseren Weg. Wir genießen jede Minute in dieser herrlichen Umgebung.
Die stark terrassierten Berghänge, schon teilweise in der Römerzeit entstanden, nötigen uns tiefen Respekt vor dem Willen und der Schaffenskraft des Menschen ab. Welche Mühsal in diese Landschaft geflossen ist, unermesslich! Mich erinnert es hier an unsere zweite Heimat Portugal, nur das dort die Terrassen oftmals etwas breiter sind und sich vor allem nicht an Steilhängen direkt über dem Meer befinden. Zum Abschluss schauen wir noch kurz der Dorfjugend beim Kick auf dem Bolzplatz zu, bevor wir den Abend in dem anderen der beiden Restaurants beschließen. Wir probieren die Weine der eben noch durchwanderten Hänge und ergeben uns dann der eigenen Müdigkeit.
Der blaue Himmel empfängt uns am nächsten Morgen und wir wandern über zahllose Stufen hinunter ins pittoreske, aber natürlich auch von Touristenhorden überrannte Manarola, eines der fünf namengebenden Dörfern der Cinque Terre. Wegen ihrer Abgeschiedenheit, in der Vergangenheit ohne Straßenanschluss jeweils nur mit dem Boot und später dann auch mit der Eisenbahn erreichbar, wurden die Dörfer fünf Erden genannt, jedes Dorf für sich ein abgeschlossenes System. Immer wieder bleibe ich zum schauen und fotografieren stehen. Im Dorf selber drehen wir nur eine kurze Runde, kapitulieren dann vor der schieren Menge von Besuchern und fahren mit der Touristenfähre zwei Dörfer weiter nach Monterosso. Da hier die Berge etwas mehr Platz gelassen haben entfaltet sich das Dorf weniger in die Höhe als in Tiefe und Breite. Sobald man der rummeligen Hauptachse entkommen ist, kehrt so etwas wie Beschaulichkeit ein. Hier können wir endlich auch die schöne Architektur und den recht romantischen Ortskern auf uns wirken lassen. Die zwei Hälften des Dorfes werden von einem steilen Felsen getrennt und durch einen Fußgängertunnel verbunden. Auf der neueren Hälfte schauen wir aus schattiger Position den Strandbesuchern bei Ballspiel und Badespaß zu. Für den Rückweg nach Volastra fahren wir per Zug zurück nach Manarola und mit dem Bus in unseren Adlerhorst.
Wider erwarten scheint uns die Sonne auch am ersten Fahrtag entgegen als wir morgens unser Frühstück auf der Terrasse zu uns nehmen. Martin einen Espresso und zwei Joints, der Rest auch Brot, Aufschnitt und von meinem Sohn Tomm für meinen gestrigen Geburtstag gebackenen Kuchen. Nachdem wir die herrlichen Kilometer entlang der Küstenstraße zurück nach La Spezia genossen haben empfängt uns der Berufsverkehr und lässt uns auf den nächsten zwanzig Kilometer gestresst und voller Abgase auf ruhigere Strecken hoffen. Bis Viareggio werden wir an hunderten von Strandbädern entlang auf einem breiten Radweg für den Qualm von La Spezia entschädigt. Auch wenn die schlechte Architektur zur linken und die meist billig wirkenden Strandbäder zur rechten zusammen mit breiten Teerbändern eher eine leichte Depression aufkommen lassen. Warum nicht direkt zur Goldküste fahren, wenn es dort für gleiche Hässlichkeit wesentlich mehr Alkohol fürs Geld gibt? Die Vorstellung von zwei Wochen Urlaub hier sind ein Albtraum...
Wir sind froh um vierzehn Uhr unsere erste Etappe hinter uns zu haben und in die wegen Schulschluss gerade recht volle, aber trotzdem mit ihren Grünflächen, Plätzen und schöner Architektur uns entspannende Altstadt von Pisa einzufahren. Auf dem Weg zum Apartment kommen wir an einer kleinen politischen Kundgebung vorbei. Plakate mit dem Konterfei der nun regierenden Postfaschistin Meloni zeigen an, dass die Fratelli d´Italia denken hier etwas zu sagen zu haben. Auf unserer letztjährigen Radtour durch die Alpen war Mario Draghi noch im Amt. Der fortschreitende Rechtsruck und der Weg der Populisten zur Macht in vielen Ländern Europas sind erschreckend. Die Schere zwischen arm und reich sollte definitiv nicht weiter wachsen, damit das Gefühl der Unzufriedenheit nicht noch größer wird und so den vermeintlich einfachen Lösungen weiter Auftrieb gibt. Es scheint als schaffe die digitale Blasenbildung den Konsens langsam ab und das Zeitalter der „alternativen Fakten“ führe große Teile der Menschheit zurück ins Mittelalter. Wie soll es erst werden, wenn eine Handvoll Menschen die Macht über eine jedem zugängliche Künstliche Intelligenz besitzen und so in der Lage sind Meinungen noch stärker zu beeinflussen? Der digitale Weg wird natürlich weiterführen, zu hoffen bleibt nur, dass unsere Demokratien stark genug sind, um den Demagogen zu trotzen und dem Volk die Notwendigkeit des eigenständigen Mitdenkens zu vermitteln.
Wir spazieren durch die Altstadt und schauen uns natürlich den schiefen Turm von Pisa an, das bekannte Wahrzeichen der Stadt. Eingebettet in einen Komplex von kirchlichen Gebäuden und große Grünflächen ist er in seiner Schräglage auch wirklich beeindruckend. Wohl am Rande einer ehemaligen Insel im versandeten Hafenbecken gegründet, gab es von Anfang an Schwierigkeiten mit den Fundamenten. Nachdem der Bau wegen der Umsturzgefahr hundert Jahre geruht hatte, wurden die nächsten vier Stockwerke mit geringerer Neigung gebaut mit dem Ziel, den Turm standsicherer zu bekommen. Letztendlich wird auch heute noch um den Bestand des Bauwerks gekämpft und um die passenden Maßnahmen gestritten. Das Ensemble mit Dom, Baptisterium und Camposanto gehört seit 1987 zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Unser Abend klingt auf der Terrasse eines in der Nähe unseres Apartments liegenden Restaurants bei leckerer italienischer Küche aus.
In der Nacht schlägt das Wetter um und wir starten in unseren Regenklamotten auf unsere heutigen hundert Kilometer. Kurz hinter den Vororten von Pisa biegen wir vom Teer auf eine Schotterpiste ab. Entlang eines Kanals geht es zurück Richtung Küste. Wir fahren Slalom um die teils kinderzimmergroßen Pfützen. Es beginnt eine Passage, auf der die Kommune den Weg abgezogen hat und so der blanke Lehm die Oberfläche bildet. Auf nicht einmal dreihundert Metern wird das weiterfahren unmöglich. Der Lehm setzt sich so komprimiert zwischen Reifen und Schutzblech fest, dass er nur noch mit kleinen am Rand gefundenen Stöckchen unter Mühen entfernt werden kann. Innerhalb eines Meters setzt sich aber alles wieder zu. Es wird letztendlich sogar unmöglich unsere Räder zu schieben. Viviane versucht es mit Gewalt und landet dabei rücklings im Matsch. Wir versuchen es mit tragen, aber der Lehm klebt sich auch unter unseren Füßen zu großen Placken zusammen und so entfernen wir erst einmal alles Gepäck von den Rädern und tragen es bis zu der Stelle an der die Arbeiten noch nicht angefangen wurden und der noch intakte Schotterweg weiterführt. Aber auch ohne Gepäck schaffen wir es nur das leichtere Rad von Viviane in die fahrbare Zone zu transportieren. Die am Morgen gegen den Regen um die Füße getapeten Plastiktüten hängen inzwischen in Fetzen runter und unsere Schuhe sind völlig durchnässt. Wir nehmen den etwa fünfzig Meter langen roten Bauzaun vom Rand weg und legen ihn flach über den Weg. Nachdem wir mit Stöckchen und Pfützenwasser den Lehm weitgehend entfernt haben können wir die Räder darauf problemlos fortbewegen. Nur meins steht zu weit hinten, so dass wir eine Eisenstange aus dem Zaun nehmen, die vorne durch den Rahmen schieben und damit dann zu dritt das Rad tragen können. Der Gewichtsunterschied zwischen unseren E-Bikes und einem Rennrad ist vergleichbar mit dem eines Mercedes mit einer Ente.
Etwa hundertfünfzig Meter hinter uns müht sich schon seit zwanzig Minuten ein weiterer Radfahrer mit den gleichen Problemen. Wir beschließen sein Gefährt auch noch durch das Gebiet zu tragen. Allen kommt aus Kanada und möchte gerne noch seine Fähre nach Korsika erreichen. Er ist dankbar für unsere Hilfe und so sind wir fünf nach etwa anderthalb Stunden fünfhundert Meter weiter und um ein Abenteuer reicher. Der Weg ist erst einmal gut fahrbar, auch wenn mir das Wasser inzwischen egal ist und ich jede Pfütze voll mitnehme – nicht zuletzt um den Lehm vom Rad zu bekommen. Als ein weiterer bereits abgezogener Abschnitt vor uns auftaucht können wir zum Glück rechts abbiegen. Nach kurzer Zeit stehen wir dann allerdings auf der Innenseite eines großen Tores. Wir sind auf einem Landgut gestrandet und kommen nur heraus, indem wir unsere Räder ein wenig durch das Gelände schieben und mit vereinten Kräften über eine kleine Mauer und den anschließenden Graben heben. Kurze Zeit später hat uns die Zivilisation in Form einer viel befahrene Schnellstraße wieder. Es regnet weiter in Strömen. Trotzdem kärchern wir unsere Räder an einer Autowaschanlage in einem Industriegebiet. So funktionieren Bremsen und Gangschaltung auch wieder tadellos. Im Vorraum eines Lidl wechseln wir unsere nasse gegen trockene Kleidung, tapen die Füße wieder mit Plastiktüten gegen die nächsten Stunden Regen ab und machen uns nach einer Imbisspause auf die letzten achtzig Kilometer des heutigen Tages.
Wie nahe an der Zivilisation doch immer wieder kleine Abenteuer möglich sind und tatsächlich alle Kräfte nötig werden, um aus einer zuerst eher lächerlich erscheinenden Lage zu entkommen. Aus der Situation nehme ich auf jeden Fall mit, dass meine Schutzbleche entfernt und durch hochgelegte Steckschutzbleche ersetzt werden, damit die Rollfähigkeit erhalten bleibt. Auf meiner Estland-Tour war ich schon einmal in einer ähnlichen Situation. Das Gewicht der E-Bikes und des Gepäcks beträgt etwa fünfzig Kilogramm. Wenn dann noch einige Kilogramm lehmartige Klumpen dazukommen und das Geläuf tief ist, wird es sehr mühsam! Ein Gedanke der mir schon oft im Kopf umhergespukt ist, beschäftigt mich mit dem nahe beieinander liegen von total unterschiedlichen Situationen. Während wir feststecken und hart um jeden Meter kämpfen, können wir weiter entfernt den Autoverkehr und die startenden Flugzeuge des nahegelegenen Flughafens sehen. Absolut verschiedene Bewusstseinszustände für die beteiligten Personen auf recht engem Raum. Mir kommt dazu der Gedanke in den Kopf, dass jeder zu unserem gemeinsamen Universum im Außen noch sein eigenes ebenso großes Privatuniversum im Inneren besitzt. Unendliche Weiten wohin man auch schaut...
Irgendwann hört auch der Regen auf und wir fahren auf weniger befahrenen Straßen. Endlich kommt das Toskana-Gefühl auf: Zypressen, Hügellandschaft und Weinstöcke begleiten uns. Gegen Ende geht es noch einmal in die Berge hoch nach Sassatta, ein pittoresk in den Fels gekralltes Dorf, umgeben von scheinbar endlosen Wäldern. Wir genießen kurz die wunderbare Fernsicht bevor wir uns auf die letzte Talabfahrt ins Val di Cornia zu unserem Hotel am See aufmachen.
Der nächste Tag bringt uns die Sonne zurück. Unsere über Nacht getrockneten Kleidungsstücke werden für den nächsten Regenschauer weggepackt und wir machen uns in Bestlaune auf den Weg. Aus unserem Tal rollen wir über wunderschöne Wald- und Wiesenstrecken Richtung Küste. Heute stimmt alles, die Strecke führt durch vielfältig-grüne Landschaften und auch der spätere Abschnitt am Meer ist von schöneren Dörfern als bisher gesäumt.
Ein Fasan am Fuße eines Buschsaumes ist von mir ebenso überrascht wie ich von ihm. Wir schauen uns kurz in die Augen, seine von der typischen roten Gesichtsrose umrandet. Ein wunderschönes Tier, vielleicht drei Meter sind wir voneinander entfernt. Schon am Vorabend war uns ein etwa sechzig Zentimeter großes recht kompaktes, mir unbekanntes Säugetier auf dem Rückweg vom Abendessen begegnet. Für mich bleibt ein Zusammentreffen mit der wilden Fauna immer ein Ereignis. Ich denke an die Fasane, die es in meiner Kindheit noch auf unserem Grundstück gab, bevor ihre Lebensgrundlagen immer weiter vernichtet wurden und die Tiere nun in unserer Gegend leider ausgerottet sind.
Alles läuft prima bis uns sowohl unser Navi als auch Google Maps auf die Autobahn führen möchten. Wir suchen sowohl digital als auch vor Ort nach einer Lösung. Letztendlich kostet uns die dann mehrere Stunden und fünfzig Extrakilometer, weil es nur mit einem Riesenbogen möglich ist eine Autobahnunterführung zu erreichen und auf die Seite unserer heutigen Herberge zu wechseln. So radeln wir unter der immer tiefer stehenden Sonne langsam in den Abend hinein. Viviane möchte ein Insekt von Guidos Hemd entfernen, hakt sich aber dabei mit ihrem Lenker in seinen ein und fällt böse hin. Das Tempo war nicht besonders hoch, aber es reicht für einige Blessuren im Gesicht und am Körper. Das am Morgen aus dem Eisfach genommene Stück Butter findet nun seine Bestimmung, als sie sich damit die schmerzenden Stellen einreibt, um größeren Schwellungen vorzubeugen. Wir überprüfen das Rad, Viviane ihren Körper und nachdem wir die Schrecksekunden einigermaßen verdaut haben fahren wir weiter dem Sonnenuntergang entgegen und sind froh, als die Odyssee für heute ihr Ende findet.
Um der Autobahn diesmal direkt zu entkommen, fahren wir von der Küste weg weiter ins Hinterland. Es sind schöne Aussichten über die ländliche Toskana, zwischendurch kleinere Ort wie das auf einem Fels thronende Capalbio. Die Gegend ist relativ dünn besiedelt und unsere Route führt über traumhafte schmale Straßen. Letztendlich landen wir wieder auf einer nicht asphaltierten Piste, die zudem mit fortlaufender Fahrt immer schlechter wird. Wir durchqueren einen kleinen Fluss an einer Furt, dies- und jenseits geht es recht steil bergauf. Alle kommen gut auf die andere Seite, aber Vivianne bringt leider einen platten Vorderreifen mit. Wir sind erst relativ verzweifelt, weil der Ersatzschlauch sich nicht aufpumpen lässt. Die kleine Pumpe erweckt unseren Argwohn, schließlich ist es aber doch der neue Schlauch, der aus uns unbekannten Gründen ebenfalls ein Loch hat. Wir flicken beide und sind froh, dass uns das Horrorszenario eines nicht zu behebenden Schadens erspart bleibt. Auf über dreißig Kilometern sind wir an keinerlei Geschäft, Tankstelle oder ähnlichem vorbeigekommen, seit zehn Kilometern an überhaupt keinem Haus mehr. Die Vorstellung hier Hilfe holen zu müssen oder einen von uns loszuschicken, damit er irgendwo eine Ersatzpumpe auftreiben könnte ist wenig erfreulich.
Als wir endlich weiterfahren wartet als nächstes wieder eine drei Kilometer lange Matschpiste auf uns. Mehrmals bleiben wir stecken und müssen wieder einmal den zäh-klebrigen Lehm zwischen Reifen und Schutzblech entfernen. Die Haftkraft dieser Materie ist erstaunlich und strotzt jeglichen Entfernungsversuchen hartnäckigst! Als wir in der Entfernung ein Auto fahren sehen und wir uns bald darauf dem Teer nähern, ist die Freude bei allen groß. Jetzt nur noch achtzig weitere Kilometer bis zu unserem kleinen Hinterhofhäuschen in Santa Marinella. Guido und Viviane gehen noch etwas zum kochen einkaufen, während Martin und ich uns selbst ein wenig organisieren...
Regen, Regen und Regen begleiten uns am nächsten Tag nach Lido de Ostia. Wir sind ausgelaugt von den letzten beiden Tagen und quälen uns entlang den endlos an uns vorbeizischenden Autos und Lastwagen. Obwohl die Etappe nur siebzig Kilometer lang ist, kostet sie einen Großteil unserer Kräfte. Am Ziel stehen wir in einer etwas heruntergekommenen Vorstadtsiedlung und ich pelle mich in einem Durchgang erst einmal aus völlig durchnässten Schuhen und Strümpfen bevor ich mich darum kümmere in einem der sechsstöckigen Blöcke unser Apartment klarzumachen. Der Gastgeber konferiert mit uns über Whatsapp. Wir schicken ihm Fotos unserer Ausweise, damit er uns im Gegenzug die Erklärung samt Videos zur Übergabe der Wohnung schickt. Es ist ein wenig wie in einem Escape Room als wir zuerst den Block finden müssen, dann einen in der Nähe befindlichen Baum ausmachen, an dem mit einer Kette ein Zahlenschloss-Kästchen befestigt ist. Wir sehen uns das Video zum dritten Mal an, finden die Nummernkombination, öffnen die Box und halten endlich unseren Schlüsselbund in der Hand. Die Wohnung ist überraschend geschmackvoll eingerichtet. Wir verbreiten sofort unser tägliches Chaos, benutzen alle Vorsprünge zum aufhängen der durchweichten Kleidungsstücke und stecken die Hälfte unserer Wäsche in die Waschmaschine. Auch nach einer Woche ist keine richtige Ordnung in unsere Taschen eingezogen, weil durch das oft wechselnde Wetter immer wieder das Unterste nach oben geräumt wird. So liegen wir nun erst einmal zum ausruhen zwischen unseren Kleiderbergen, bevor der Einkauf und das anschließende Kochen gestartet werden. Paolo Conti begleitet die Zubereitung der uns unbekannten Muscheln als Vorspeise, zum Hauptgang Geschnetzeltes an Gemüse und zum Abschluss Pfirsichkompott mit Joghurt. Die Seele und der Leib werden wieder einmal zusammengehalten! Wein wird getrunken und wir genießen alle die durch unsere heutige kurze Etappe etwas längere Freizeit zur Erholung.
Sonntagmorgen. Grau wechselt langsam zu blau. Wir fahren die ruhigste Etappe bisher. Immer am Meer oder auch einmal paar Kilometer durch das Hinterland. Wären nicht die Unmengen von Müll am Straßenrand, alles wäre einfach schön. Aber das hier offensichtlich ein Volkssport daraus gemacht wird Mülltüten aus dem Auto in die Macchia zu feuern oder gleich ganze Halden von Bauschutt, Klimaanlagen oder Plastikflaschen am Straßenrand zu stapeln erscheint uns unnötig und stößt ein wenig bitter auf. Das hat was von ins eigene Nest scheißen...
Schon am Mittag erreichen wir das Tagesziel und sind froh dass unser Gastgeber, ein lustiger älterer Herr, uns das Apartment so früh überlässt. Während seine drei Hunde um ihn herumscharwenzeln erklärt er uns, garniert mit einigen Geschichten, alles nötige. Sein Sohn kommt hinzu und erklärt auch noch ein bisschen mit. Vivianne inspiziert die Küche, um das Abendessen zu planen. Wir bekommen alle noch einen italienisierten Namen- Martino, Luigi...- dann sind wir alleine und breiten uns aus.
Unser Gastgeber kommt zurück und erzählt uns vom etwa drei Kilometer entfernten Nationalpark. Guido, Martin und ich setzen uns noch einmal auf die Räder und werden direkt am Anfang des Parks mit der Sichtung eines Wiedehopfs belohnt. Zuerst fliegt er erschrocken auf, landet aber dann fünf Meter entfernt am Wasser. Die beiden andere sind schon weitergefahren, ich beobachte den seltenen Vogel noch eine kleine Weile bevor ich ihnen folge. Den einzigen weiteren Wiedehopf habe ich im Barranco do Banho in Portugal gesehen. Ein paar Minuten später treffen wir noch auf einige weiße Flamingos. Die Vögel suchen im Brackwasser nach essbarem. Mit ihren charakteristischen Schnäbeln hacken sie immer wieder durch die Wasseroberfläche. Ich lese nach, das ihre so bekannte rosa Färbung erst später durch ihre Nahrungsgewohnheiten entsteht.
Mussolini hat die Gründung des Nationalparks angeregt, um den schon stark dezimierten Küstensumpfwald zu erhalten. Der Großteil des einst riesigen Waldes war da schon gefällt und der Sumpf entwässert worden. Heute wird die fruchtbare Erde außerhalb des Nationalparks stark landwirtschaftlich genutzt. Alle paar hundert Meter verläuft ein Entwässerungsgraben. Es gibt inn- und außerhalb des geschützten Gebiets eine artenreiche Vogelwelt. Wir sehen Blesshühner auf ihren Grasinseln brüten und Schwalben kreuz und quer durch die Lüfte sausen. Kurz vor dem Strand kommen wir auf eine breite Straße. An einer gemütlich wirkenden Bude bestellen wir zwei Runden Weißwein und frittierte Meerestiere. Wir haben großen Spaß, der uns erst mit der Rechnung etwas vergeht. Hier sind wir nun übers Ohr gehauen worden, nehmen es sportlich und ziehen trotzdem vergnügt weiter.
In einem Fischrestaurant in Formia bekomme ich von Anke in unserem täglichen Telefonat die Todesnachricht meines Cousins Jürgen. Dreiundsechzig Jahre war er als er seinen Kampf um das Leben verloren hat. Mein Bruder Claus schickt mir ein Foto aus den Kindheitstagen. Wir haben uns nicht so oft gesehen, aber sehr gut verstanden. Erinnerungen an die Kindheitstage kommen hoch, Besuche bei der Verwandtschaft in Wipperfürth. Das gemütliche Zimmer unterm Dach, die Schrägen mit Schwartenbrettern verkleidet. Als der kleinste der vier Enkel unserer Großeltern war ich immer stolz, wenn ich mit zu den Älteren durfte, die neue Deep Purple oder Traffic LP anhören, Gesprächen über Politik lauschen. Unten debattierten die alten Sozis, oben die etwas revolutionärere Jugend. Gegenbesuche auf Eigen, Jürgen mit langen lockigen Haaren in der Hängematte, Abendessen mit Kartoffelsalat und sauren Gürkchen. Die Mütter und Oma Erna in der Küche beim zubereiten und später beim Abwasch. Der Stolz der Väter auf das Eigenheim, ein Fertighaus von Streiff, Lindan- und Formaldehydgetränkt. Die erste Generation mit Besitz. Ich erinnere mich wie meine Eltern und mein Bruder Stefan, alle drei in den letzten sechs Jahren gestorben, zusammen mit meinen Großeltern das gerade gekaufte Grundstück in Hanglage in Wipperfürth-Ohl besichtigten. Da war ich vier Jahre alt und Jürgen dreizehn. Vorher wohnte die Familie in der Schrebergartensiedlung Waldfrieden in Wuppertal, sehr beengt, aber für uns als Besucher die Urform von Gemütlichkeit. Am Abend schaute die Igelfamilie vorbei und versaute sich den Magen mit der bereitgestellten Milch. Die Rückfahrten, auf denen ich immer eingeschlafen bin und am Anfang noch aus dem Auto in mein Bett getragen wurde. Jetzt also wieder einmal Abschied nehmen, wieder einer weniger, der solche Erinnerungen mit einem teilen und vergessenes auffrischen kann. Irgendwie geht auch wieder ein kleiner Teil von einem selbst verloren. Scheibchensterben.
Mit Starkregen starten wir unsere Etappe nach Neapel. Erst nach unserem Frühstücksstopp wird es besser und wir bekommen sogar vereinzelt Sonnenstrahlen ab. Langsam verdichtet sich die Bebauung, erste ärmliche Vorstädte werden durchfahren. Unfassbare Mengen von Müll liegen überall dort am Straßenrand, wo keine Gebäude stehen. Der Verkehr wird zunehmend chaotischer. Schon in Formia waren einige hellblau-weiße Fahnen zu sehen, jetzt werden sie zu Fahnenmeeren. Von unzähligen Balkonen hängen sie hinab und künden von der dritten italienischen Fußballmeisterschaft ihres SSC Neapel. Der ersten seit den beiden mit dem vergötterten Diego Maradona errungenen aus den Jahren 1987 und 1990. Und nun nach langem Warten der dritte Meistertitel der Gli Azzurri, der Blauen. Neapel ist tief katholisch, es gibt viele kleine Madonnentempel in den Straßen der Stadt und auch einen für ihren Diego, nach dem sogar das Stadion benannt ist. Neben dem Gottesglauben gibt es noch den an den Fußball, dem hier gehuldigt wird wie nur in wenigen anderen Städten. Der verhasste Norden, Turin, Mailand und Rom holen die Titel und so ist es hier, im armen Süden etwas ganz besonderes, beinahe religiös-erhöhtes, wenn den reichen Clubs aus den Industriemetropolen oder der Hauptstadt einmal einer entwendet werden kann. Für die gebeutelte Stadt ist ihr Verein die Verschmelzung von Hoffnung und Glaube. Eine Möglichkeit für ein paar wertvolle Momente den Sorgen zu entkommen und große Gefühle zu leben.
Wir durchfahren die Stadt vom Norden bis zum Hafen, an dem unsere Fähre nach Stromboli heute Abend ablegen soll. Es wird viel gehupt, laut geschimpft und jede Lücke gnadenlos zugefahren. Wir schlängeln uns durch das Verkehrschaos und zumindest Viviane und ich haben großen Spaß am heillosen Durcheinander. Immer wieder fallen kurze heftige Regengüsse vom Himmel. Die notorische Knappheit in der Stadt, das Chaos der Verwaltung ist überall sichtbar. Die Häuser sind vielfach heruntergekommen, viel Armut ist auf den Straßen sichtbar. Die Gesichter sehen verlebt aus, die Kleidung vom kleinen Geldbeutel zusammengestellt. Zum Zentrum hin wird es ansehnlicher, die reichere Vergangenheit hat hier einiges ihrer einstigen Größe in die Gegenwart hinüberretten können.
Wir erreichen den Hafen, finden ein überraschend ambitioniertes Restaurant und lassen uns erst einmal für eine längere Ruhepause nieder. Als wir danach schon einmal schauen möchten, wo unsere Fähre ablegt, finden wir leider heraus, dass sie wegen der unsicheren Wetterverhältnisse ausfällt. Stromboli besitzt keinen sicheren Hafen und so kommt es des Öfteren vor, dass Fähren nicht anlegen können. Wir fahren ein paar Mal zwischen Ticketbüro und Fährableger hin und her, bevor wir schließlich herausbekommen, dass es eine Nachtfähre nach Palermo gibt. Reisepläne werden geändert und wir finden uns pünktlich am Pier ein, um nun direkt nach Sizilien einzuchecken. Trotz des Ausfalls unserer zwei fahrfreien Tage auf einer der Äolischen Inseln freuen wir uns jetzt, dass die Planung zwar etwas durcheinander geraten ist, wir aber nun die Nordküste der Insel noch umradeln können und von Taormina an dann wieder im Reiseplan sind. Das ist insofern wichtig, weil wir noch weitere drei Fähren vor uns haben und damit in einem recht engen Zeitkorsett stecken.
Palermo empfängt uns zur morgendlichen Rushhour. Zu unserem Glück spielt sich der Verkehr hauptsächlich auf der stadteinwärts führenden Spur ab, so dass wir zügig den Großraum verlassen können und ruhig weiter nach Cefalù segeln. Gegen Mittag fahren wir ins Städtchen ein, buchen uns ein kleines Häuschen mit Dachterrasse, Blick auf Dom und übers Meer. Der Ort ist um diese Jahreszeit auch schon recht touristisch, jedoch nicht überlaufen.
Ab hier geht es weiter über die kaum befahrene Küstenstraße und schließlich hoch in die Berge zum zweiten Aufenthalt in Tortorici. In der kleinen Stadt sind wir wohl die einzigen Reisenden. Das Bergstädtchen klebt an zwei Bergflanken, die von dem mittig fließenden Gebirgsbach getrennt werden.
Zum Abendessen gehen wir in ein von Tripadvisor empfohlenes Restaurant und werden von unserem Essen nicht enttäuscht. In einer Ecke ist bunter Kitsch mit Einhorn und Ballonbogen aufgebaut. Eine Familie trifft sich hier um die Taufe der kleinen Rebecca zu feiern. Nach und nach treffen die Familienmitglieder ein. Alle müssen sich einmal unter dem Bogen mit Rebecca postieren, um fürs Familienalbum fotografiert zu werden. Die Kleine wird zwischen Tanten und Onkeln herumgereicht bis alle gewünschten Kombinationen auf den Bildern festgehalten sind. Dann gibt es verschiedene Gänge mit Rauchpausen zwischendrin, in denen die meisten für eine Zigarette nach draußen verschwinden. Die Kinder nutzen die Zeit für wilde Verfolgungsjagden zwischen den Tischen ohne maßregelnde Erwachsene im Nacken.
Bis auf zwölfhundert Meter führt uns unser Aufstieg am nächsten Morgen bevor wir durch die Portela dello Zoppo langsam wieder abwärts Richtung Taormina geführt werden. Auf halbem Weg sehen wir erstmals den weißen Kegel des Ätna weit über die anderen Berge hinausragen. Ein herrlicher Anblick, wie er leicht umwölkt mit seinem verschneiten Kegel aus dem frühlingshaften Grün und Gelb herausragt. Mit um die dreitausenddreihundert Meter Höhe ist er die Landmarke Siziliens, weit über die ansonsten unter zweitausend Meter hohen Berge hinauskragend. Wir sind völlig weg von dem Anblick und bleiben des Öfteren stehen, die sich immer neu öffnenden Perspektiven bestaunend. Mich erinnert der Ausblick an den heiligen Berg der Japaner, den Fuji. Der Ätna ist der höchste aktive Vulkan Europas und wirft immer wieder hohe Aschesäulen aus. Auch tritt periodisch glühende Magma aus. Noch 2021 stieg eine Aschewolke bis auf neuntausend Meter Höhe. Trotz dieser ständigen Gefahr werden seine Flanken wegen ihrer fruchtbaren Böden intensiv für Landwirtschaft genutzt und Häuser ziehen sich weit die Hänge hinauf. Um wenigstens Teile der einzigartigen Flora und Fauna vor drohender Zerstörung zu schützen wurde 1987 eine Fläche von über fünfhundert Quadratkilometern unter Schutz gestellt.
Obwohl der Weg nach Catania unsere kürzeste Etappe bisher ist, wird sie keiner von uns vergessen. Es regnet fast durchgehend, aber auf den letzten zwanzig Kilometern fällt uns der Himmel oder zumindest alle seine Wolken auf den Kopf. Der Regen trommelt so stark, dass er von überall zu kommen scheint. Die Straßen sind überflutet, faustgroße Steine werden vom Wasser fortbewegt. Die Gullis sind weit über Fassungsvermögen beansprucht. Die Autos ergießen riesige Fontänen beim vorbeifahren über uns. An einer Kreuzung ist der Gulli zur Fontäne umgebaut. Unmengen Wasser spritzen in alle Richtungen. Zuletzt verfahren wir uns auch noch und legen so zehn Extrakilometer zurück. Wir sind alle nass bis auf die Knochen, als wir endlich vor unserem Apartment stehen. So eine Regenschlacht hat keiner von uns je erlebt! Zum Glück gibt es eine Waschmachine und wir können die Wohnung heizen, so dass wir uns für den auch morgen wieder angesagten Regen vorbereiten können... Wir waschen zwei Maschinen und bauen das Wäschereck auf zwei Stühlen über der Heizung auf. Wahrscheinlich die einzige Chance wieder alles startklar zu haben, bevor es in die nächste Runde geht.
Als der Regen nachlässt spazieren wir noch eine große Runde durch die sehenswerte Innenstadt. Auch wenn vielerorts der Putz bröselt, Pflanzen aus den Dächern wachsen und einige Häuser unbewohnt scheinen, ist noch einiges vom einstigen Glanz vorhanden. Wir kehren zum Essen ins Tantikkia ein und völlen uns durch vier Gänge feinstens zubereiteter Speisen. Das Restaurant ist eine Augenweide, der Service angenehm und wir sind alle ganz seelig über den warmen Ausklang eines anspruchsvollen Tages.
Zuhause angekommen hören wir noch Musik, Guido und ich schreiben Tagebuch, jeder hängt seinen Ideen nach. Beim Zähneputzen fällt mir das vermeintliche Waschmittel ins Auge und ich lese Lava Pavimenti. Als ich laut durch die Wohnung rufe, dass wir mit Fußbodenputzmittel unsere Wäsche gewaschen haben gibt es noch einmal ein herzliches Gelächter.
Auf unserem Weg nach Syrakus kommen wir kilometerlang an Industrieruinen vorbei. Zwischendrin eine heruntergekommene Cafeteria. Da wir noch kein Frühstück hatten nehmen wir vier Cappuccini und ein paar Croissants. Viviane besucht die Toilette, findet aber weder Toilettenpapier noch funktionierende Spülung vor. Die anderen Gäste sind alle Männer, gekleidet in billiger Ballonseide, die mit Zigaretten im Mundwinkel und ihren restlichen Zahnstumpen die Welt besprechen. Auf der Weiterfahrt lösen Raffinerien die Ruinen ab. Wir halten noch einmal an einer Cafeteria. Einige Zähne fehlen auch hier den meisten, dafür ist es ansonsten deutlich freundlicher und gepflegter.
Auch auf dieser Etappe passieren wir wieder Dutzende wilder Müllkippen. Der fehlende politische Wille oder die Höhe der Schmiergeldzahlungen verhindert eine funktionierende Müllbeseitigung. Die weitgehende Abschaffung der Mülltonnen, eigentlich gedacht als Start in eine bessere Mülltrennung, ist bisher nicht über eben diese Abschaffung hinausgekommen. So liegen nun an den Ecken große Mengen an Tüten herum und die Müllabfuhr kommt immer wieder einmal mit einem Wagen vorbei, der dann von den armen Mitarbeitern vollgeschaufelt wird. Die Recyclingquote liegt bei unter zehn Prozent, eine der niedrigsten in Europa. Von den drei Deponien der Insel sind zwei wegen Korruption geschlossen worden, die Betreiber sitzen in Haft. Das hat aber erst einmal das Problem noch vergrößert und so bleiben inzwischen auch die Touristen zunehmend der Insel fern. Wer hat auch schon Lust zwischen stinkenden Plastiksäcken und Ratten am Strand zu liegen? Zumindest die Mafia verdient weiter glänzend: Der gesamten Müllbranche – und auch großen Teilen der Politik - wird eine enge Verbindung zum organisierten Verbrechen nachgesagt. Für uns ist besonders unangenehm, dass die großen Mengen an Unrat meistens an den schönen kleinen Nebenstraßen deponiert werden, weil hier genug Zeit ist und keine Zuschauer stören. So ist es manches Mal eine herbe Enttäuschung von einer Hauptstraße abzubiegen und statt blühender Natur stinkenden Müll vorzufinden.
Wir beziehen unser kleines Haus in Ortiglia, der ein Quadratkilometer großen, Syrakus nur wenige Meter vorgelagerten Insel. Hier drauf steht, dichtgedrängt Haus an Haus, die Altstadt mit ihren noch etwa viertausend Einwohnern. Einiges an Gebäuden ist inzwischen verfallen, besonders im engsten Teil der Altstadt, dem ehemaligen Fischerviertel. Die gesamte Insel ist denkmalgeschützt, was aber den Verfall leider nur begrenzt aufhält. Meine Theorie für die digitale Zukunft in Bezug auf solche Plätze am Meer sagt, dass in den nächsten Jahrzehnten hier eine gut vernetzte Gruppe von digitalen Nomaden und ortsunabhängigen Menschen wieder Leben in die alten Strukturen bringen wird. Einfach, weil es Plätze mit viel Seele sind, die nur unter den gegebenen Umständen nicht lohnend vermarktet werden können. Weil es zu wenig Arbeit für zu viele Menschen gibt und es finanziell aufwendig ist einen zeitgemäßen Standard herzustellen. Deswegen ist unter anderem auch die aktuelle Einwohnerzahl gegenüber der ursprünglichen von weit über zwanzigtausend so tief gesunken.
Am Morgen besuche ich noch die Santuario della Madonne delle Lacrime, die größte und modernste Wallfahrtskirche Siziliens. 1953 begann, so die Sage, ein Gipsbild im Haus eines Bauern Tränen zu vergießen. Die Nachricht über dieses vermeintliche Wunder verbreitete sich schnell und es pilgerten Hunderttausende von Gläubigen nach Syrakus, um das Madonnenbild zu sehen. Nach drei Tagen veranlasste die Kurie, dass von den Tränen eine Probe genommen wurde. Der Tränenfluss stoppte. Die Analyse ergab laut Kirche eine ähnliche Zusammensetzung wie menschliche Tränen. Der Bischof von Palermo erklärte die Tränen für echt und es wurde ein Wallfahrtsort geplant. 1994 wurde die aus Spannbeton gebaute Kirche des französischen Architekten Michel Andrault fertiggestellt. Ihre Grundfläche von viertausend Quadratmetern gibt elftausend Gläubigen Platz. Der Kontrast zwischen verfallender Altstadt und der wirklich sehenswerten, aber eben weder viele Arbeitsplätze noch zeitgemäßen Wohnraum gebenden Großkirche stößt mich einmal mehr auf die Diskrepanz zwischen Glauben an das Leben nach dem Tod und Hilfe für die nun Lebenden. Vielleicht weil ich vor kurzem eine Dokumentation über die großen Kirchen der USA gesehen habe und welche Summen den Gläubigen für Heilsversprechen aus der Tasche gezogen werden und auch wegen dem pompösen alten Reichtum der katholischen Kirche, ekelt es mich trotz zugegebenerweise ergreifender Architektur.
Unsere Reise geht weiter von Syrakus über Noto. Leider habe ich am gestrigen Abend etwas falsches gegessen, so dass ich zwar noch eine Runde zu Fuß mit den anderen durch das Barockstädtchen drehe, mich aber dann verabschiede und in unser Apartment gehe. Ich bekomme kalte Schweißausbrüche, muss mich übergeben und habe auch noch Durchfall. Zum Glück wird es gegen Abend besser, die Träume zwar noch fiebrig, aber am nächsten Morgen kann ich immerhin weiterfahren. Der Weg bis Ragusa sammelt einige Höhenmeter und ich bin froh eine größere Unterstützung wählen zu können und mich so etwas zu entlasten. Als wir nach über hundert Kilometern Gela erreichen, dusche ich mich noch und lege mich danach erst einmal für eine Weile ab, während die drei etwas für das morgige Frühstück aufstöbern gehen.
Am Abend gehen wir durch die Stadt spazieren. Es sind auffällig viele Männer, besonders ältere, auf den Straßen. Als ich später an einer der zahlreichen Kirchen vorbeikomme, lockt mich die Musik näher heran. Gitarre und Orgel spielen und eine herrliche Frauenstimme singt solo, bevor all die anderen Frauen in den Bänken mit einstimmen. Ein schöner Chor und eine bewegende Melodie nehmen mich gefangen und lassen einen besonderen Moment entstehen. Mein Blick geht zum Himmel und ich schaue den hunderten von Schwalben bei ihrem abendlichen Ballett hinterher. Ein warmer Abend in einer angenehmen Stadt. Und jetzt weiß ich auch, warum mir vorher die Überzahl an Männern so auffiel! Gela ist kein geleckter Touristenort, sondern eine Stadt, die durch die Petrochemie einige Arbeitsplätze bietet und somit ihre Einwohner halten kann. Gerade dieses unaufgeregte ist für mich aber spannend, besonders nach den überlaufenen Städtchen Taormina und Noto, in denen selbst die Italiener größtenteils als Touristen auftreten. Das zusammenstehen in kleinen Gruppen, das gestikulieren und die temperamentvolle Erzählweise sprechen mich an und weiten mein Herz für Bella Italia...
Kurz vor Montallegro, auf einem der Berge vor der Kleinstadt, liegt unser Haus. Mit seinem 360°-Blick auf Meer und die umliegende Landschaft ist es die vielleicht schönst gelegene Unterkunft bisher. Vivianne möchte Ennio Morricone hören und so sitzen wir in der langsam sinkenden Sonne vor dem Haus, hören die alten Filmmelodien und schwelgen in den Kompositionen des 2020 verstorbenen italienischen Komponisten. Guido und Vivianne fahren noch einmal los, um in Montallegro einzukaufen. Martin und ich genießen unser Natural High in der Abendsonne. Gegen Ende des Abends fange ich an für Anke eine Playlist, inspiriert von eben gehörten, anzulegen. Ich beginne mich erstmals ernsthaft in die Musik von Phillip Glass einzuhören. Mich faszinieren die perlenden, in langsam sich ändernden Schleifen mäandrierenden Melodien. Eddy schreibt mir eine Whatsapp, weil ich seinen Account benutze und er jetzt auch gerne Musik hören möchte. Ich wünsche im eine gute Zeit in Italien, wo er mit Lars ein paar Bike-Trails unsicher machen möchte, sein erster Urlaub nach dem Ende der Schule. Ich hoffe es wird gut für ihn und das sie ein paar verrückte Abende haben...
Während ich meinen Magen-Darm-Virus auf Nimmerwiedersehen verabschiedet habe, trifft es nun einen nach dem anderen. Zuerst ist Martin noch am Abend dran, dann höre ich Vivianes Röhren mehrmals in der Nacht und zuletzt erwischt es Guido als wir schon einige Kilometer ins Inselinnere abgestrampelt haben. Die drei sind sichtlich geschwächt und die Etappe bis Campoverde ein vielmaliges auf und ab. Landschaftlich ist es eine sehr reizvolle Etappe, richtig wahrnehmen kann das außer mir aber niemand. Etwa auf halbem Wege zu unserem Ziel sehen wir Giuliana, einem Adlerhorst gleich, hoch am Felsen kleben. Herrlich von der Sonne beschienen schwebt der Ort scheinbar in der Ferne über dem Felsen. Langsam kommen wir näher und hoffen noch, dass eine Straße uns den Aufstieg erspart. Doch es wird immer klarer, dass wir bis fast ganz oben die teils sehr steile Straße fahren müssen. Meine Mitfahrer leiden deutlich sichtbar, strampeln aber tapfer Kurve um Kurve, bis wir letztendlich unseren höchsten Punkt auf etwa siebenhundert Metern über Meeresniveau erreicht haben. Die drei sind etwas blass um die Nase, fassen aber langsam wieder Mut. Zu ihrem Glück ist der zweite Teil leichter zu fahren und wir passieren grandiose, fast menschenleere Landschaften. Von Ferne rückt ein Gewitter immer näher, wir sehen die Abrisskante des Regens über einer Bergkette. Auch fernes Grollen hören wir schon und so wird eine weitere Rast recht kurz, in der Hoffnung unser Ziel noch im Trockenen zu erreichen. Die Straßen sind teilweise weggerutscht und mit Lehm überspült worden. Da es noch trocken ist, müssen wir zwar aufmerksam bleiben, haben aber keine größeren Probleme.
Erstmals lerne ich Löcher kennen, in denen ein Kleinwagen verschwinden könnte. So etwas war bisher Berichten von Off-Road Abenteuern im Kongo vorbehalten. Zum Glück sind sie so abgeschrägt, dass wir hinunter und auch wieder heraus fahren können. Immer wieder stoppe ich kurz, um der Landschaft ein paar Impressionen abzugewinnen. Da außer mir niemand mehr als ein Auge für die Landschaft hat, bin ich genötigt die Gruppe immer wieder einzuholen. So bleibt nicht viel Zeit für das einzelne Bild und ich hoffe, einen Schnappschuss in ausreichender Qualität dabeizuhaben. Auf der letzten Anhöhe ist der Regen schon über fast den ganzen Horizont aufgezogen. Trotzdem schaffen wir es unter Blitz und Donner das Gepäck trocken in unsere Wohnung zu tragen. Erleichterung macht sich unter meinen Mitstreitern breit, die Betten werden eingelegen, nur Viviane hat etwas später schon wieder die Kraft für unser Abendessen einkaufen zu gehen.
Die Wand vor uns sieht nicht so aus als gäbe es ein Durchkommen. Aber mit jeder Kurve und jedem Höhenmeter wird deutlicher, wo entlang es durch das uns von Palermo trennende Gebirge führen wird. Kurz vor der Passage rasten wir noch einmal und genießen den Blick zurück auf die landwirtschaftliche Patchwork-Decke aus Olivenhainen, Weinbergen, Feldern und Wiesen, die uns die letzten beiden Tage begleitet hat. Die bisherige heutige Etappe liegt unter uns noch einmal ausgebreitet, gut sichtbar die eben so nah scheinenden Windräder, nun am fernen Horizont stehend.
Von jetzt an geht es achthundert Meter abwärts Richtung Stadt. Eine endlose Abfahrt, die uns aus dem grün ins grau führt, aus dem Gesang der Vögel in die Kakophonie der Großstadt.
Aber zuerst halten wir noch einmal auf halber Höhe an einer nach nichts aussehenden Kaschemme mit angeschlossenem Kiosk und Internet-Raum. Überraschend bekommen wir aber hier die besten Teilchen unserer Reise und beim Gang zur Toilette stelle ich fest, dass diese sogar in der hauseigenen Konditorei hier vor Ort hergestellt werden. Wir lassen uns den Kaffee dazu schmecken, um danach weiter gen Küste zu treiben. Palermo erscheint in unserem Blickfeld, schön gelegen in seiner Umarmung aus Bergen und Meer. Im höher gelegenen Teil des Tales herrschen Einfamilienhäuser vor, bevor die Verdichtung durch die Vorstädte beginnt.
Unsere Route führt immer an der Bergflanke entlang, so dass wir auf fast zwanzig Kilometer Abfahrt mit kurzen Zwischenpassagen in die Stadt geführt werden. In der Stadt herrscht, wie schon bei unserer Ausfahrt vor zehn Tagen das Verkehrschaos. Durch die topografisch bedingt wenigen Möglichkeiten nach Palermo einzufahren sind diese chronisch verstopft. Wir schlängeln uns zwischen den Autos hindurch, bis wir in ruhigere Seitenstraßen abbiegen können.
Unserer Gastgeberin treffen wir zufällig direkt vor dem Haus und sind heilfroh unsere Räder mit in den ersten Stock nehmen zu können. Über Google-Übersetzer lässt sie uns wissen, dass die treuen Mulis in der Stadt keine Nacht überstehen würden, zumindest nicht in unserem Besitz...
Weil die anderen beiden ihre Fahrräder zur Reparatur bringen möchten, spazieren Martin und ich alleine los in Richtung Galleria d´Arte Modern di Palermo. Wir möchten uns eine Retrospektive des amerikanischen Fotografen Richard Avedon anschauen. Das abgekürzt GAM genannte Museum ist in einem restaurierten ehemaligen Barockkloster inmitten der Stadt untergebracht.
Avedon war nicht nur ein hervorragender Portrait- und Modefotograf, sondern auch ein Chronist der USA des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Mit seinen Projekten „Nothing Personal“ über das Civil Rights Movement und „In the American West“, wie auch in Serien über psychisch kranke Menschen und über durch Napalm im Vietnamkrieg verwundete Kinder bezog er auf seine Art politisch und gesellschaftskritisch Stellung. Ich bin sehr froh nun einige Bilder einmal im Original zu sehen und dabei auch dem feinen Humor und der Menschenkenntnis dieses Ausnahmefotografen in seinem Werk zu begegnen. Besonders die frühen Aufnahmen aus den Fünfzigern, aufgenommen im Ritz oder im Casino von Monte Carlo sind phantastisch und lassen uns jede Ecke genau anschauen.
Wir erkunden den umliegenden Stadtteil Kalsa, der gerade auf der Kippe steht zwischen seinem verfallenden Charme eines alten Arbeiter- und Einwandererviertels und der einziehenden Hipness mit ihren Bars und Boutiquen. Eine Menge hübsches und interessantes Volk zieht, zunehmend mit fortlaufendem Vormittag, durch die Straßen. Ich fotografiere eine Frau mit einem "No Mafia"-Sticker an ihrer Bluse. Gerade unter den jüngeren Leuten regt sich Widerstand gegen das Gesetz des Schweigens. Es wird versucht, die alten Strukturen aufzubrechen und so aus Palermo wieder eine lebenswerte Stadt für möglichst viele Menschen zu schaffen.
Momentan noch ein starker Kontrast, wird der Stadtteil Kalsa mit seinem abblätternden Charme in den nächsten Jahren mehr und mehr gentrifiziert werden. Martin und ich rauchen ein paar Joints und genießen unseren fahrfreien Tag in dieser anregenden Atmosphäre, während wir abwechselnd herumspazieren und uns im Schatten der Cafés bei frischem Orangensaft abkühlen. Sobald wir den Kern des Zentrums verlassen, sehen wir teils sehr einfache Lebensverhältnisse und ganze leerstehende Blocks. Viele Graffiti zeugen von einer rege aktiven künstlerischen Szene. Öfters komme ich über die Kamera in kurze Konversationen und freundliche Begegnungen.
Manchmal wünsche ich mir, der Zustand von Ort und Zeit könnte eingefroren werden und dieses Viertel würde nun in diesem Entwicklungsstadium verharren, noch bevor die Investoren ihr Drama weiterspinnen und für viele der jetzigen Einwohner vielleicht keine Luft zum atmen bleibt.
Wir verlassen unser Apartment am frühen Morgen, um die Fähre nach Sardinien zu nehmen. Wieder einmal, wie schon in Neapel, ist der Dame an der Kontrolle unser Papier zu wenig. Wir sollten eigentlich noch vier Voucher besitzen, die ich aber nie bekommen habe. Sie arbeitet kurz ein paar hinter uns eintreffende Reisende ab, bevor sie einen Vorgesetzten zur Hilfe holt. Für den ist die Situation überhaupt nicht stressig und anhand der Passagierliste ist es auch kein Problem unsere Legitimität zu prüfen. Wir fahren die Räder an Bord der Fähre. Da keiner da ist, uns bei der Befestigung zu helfen, klettert Martin auf eine größere Tonne, hinter der die Spanngurte aufgereiht hängen. Laut rufend kommt nun ein Mitarbeiter auf uns zu, lässt sich dann alle Gurte reichen und verschwindet wortreich. Während Vivianne und Guido schon in die oberen Etagen weiterziehen, warten Martin und ich, damit wir mit eigenen Augen sehen, dass unsere Räder gesichert werden. Der Mitarbeiter kommt zurück, versichert uns, jetzt sehr freundlich und mit danke und bitte auf Deutsch, dass die Räder bei ihm in besten Händen seien. Wir gehen mit gutem Gefühl an Deck.
Zwölf Stunden dauert die Überfahrt von Palermo nach Cagliari, eine kleine Ewigkeit in reizarmer Umgebung. Wir bekommen während der Fahrt noch weitere drei Stunden dazu, weil ein Fahrgast kollabiert und per Helikopter ausgeflogen werden muss. Wir fahren bis zu dessen Ankunft und der Bergungsaktion langsamer und auch mit geändertem Kurs, so dass möglichst wenig Zeit bis zur Übergabe verstreicht. Der Helikopter fliegt Backbord an das vorher geräumte Oberdeck heran, zwei Sanitäter seilen sich ab und beginnen mit der Erstversorgung. Viele Passagiere stürmen auf das untere Außendeck und beginnen zu filmen. Der Patient wird in einer roten Trage an Bord gehievt und der Helikopter dreht Richtung Sizilien bei. Die Aufregung legt sich wieder und überall gucken sich die Schaulustigen ihre aufgenommenen Trophäen an... Wir lassen unserer Lethargie weiter freien Lauf, sind froh als wir gegen Mitternacht mit dem Anlegen erlöst werden und nach kurzer Fahrt trotz der späten Uhrzeit direkt in unsere Betten einchecken können.
Was uns schon am Abend bei unserer Ankunft und auch nun während der ersten Sardinien-Etappe auffällt, ist der himmelweite Unterschied im Umgang mit Müll. Alle Straßen in den Orten sind durchgereinigt und auch außerhalb finden wir um Lichtjahre weniger Abfälle im Straßengraben und überhaupt keine wilden Müllkippen vor. Welch´ angenehme Veränderung, welch´ Belohnung für die Augen! Unsere Fahrt geht durch das Flachland, über guten Asphalt und außerhalb des Ballungsraums Cagliari fast autofrei. Die Landschaft eher langweilig, das Wetter stechend heiß, versuchen wir die knapp neunzig Kilometer ruhig runterzufahren. Gegen Ende wird der Himmel dunkelblau. Wir geben die letzten zwanzig Kilometer noch einmal volles Tempo, damit wir vielleicht doch noch dem vom Meer reinziehenden Regen entkommen können. Links und rechts von uns sehen wir die Regenfahnen in einigen hundert Metern Entfernung herunterprasseln, während wir tatsächlich bis kurz vor Schluss in der Sonne zwischen den beiden Fronten hindurchfahren. Entfernt sehen wir Blitze über den Horizont fliegen, hören aber noch keinen Donner. Mit unserem eintreffen und dem unterstellen der Räder knallt es laut und der Regen beginnt. Wir genießen den klärenden Schauer vom Hotelfenster aus. Uns bekommt heute nur die hervorragend funktionierende Dusche nass...
Die übliche Morgenroutine vor der Abfahrt startet meistens gegen sechs, wenn der erste es nicht mehr unter dem Federbett aushält und durch gezieltes lärmen die übrigen aufweckt. Duschen, anziehen und Taschen packen werden nach und nach erledigt, während einer von uns schon einmal eine Bialetti Caffettiera auf den Herd setzt. Ein paar Teller werden gedeckt und alles Essbare aus unseren notorisch wenigen Vorräten wird auf den Tisch gelegt. Die GPS-Geräte müssen auf das Tagesziel eingestellt werden und nach etwa einer Stunde setzen wir uns in Bewegung, packen alles auf die Räder und dann geht es auf die nächste Etappe unserer Reise.
Wir radeln in zwei Tagen über Bosa nach Castelsardo an der Nordküste. Bosa, in einem Verband der schönsten sardischen Dörfer, gefällt uns allen sehr gut. Der Ort liegt eingebettet zwischen den Ausläufern des Gebirges an einem Fluss, zwei Kilometer von Bosa Marina und dem Meer entfernt. Wir laufen im Dorf immer aufwärts, bis wir freie Sicht bis zum Wasser haben. Sehr schön mäandriert der Fluss Richtung Meer durch die grünen Wiesen. Auffallend an Bosa sind die vielen sich am Berg entlangziehenden bunt gestrichenen Häuser. Wir schlendern wieder abwärts und setzen uns in ein Restaurant am Fluss, uns aus dem Tag hinausvöllend.
Am Morgen müssen wir von Meeresniveau in einem stetigen Aufstieg erst einmal bis auf sechshundert Meter hinauf. Immer schöner werden die Ausblicke, immer weiter schauen wir ins Land, über Küste und Meer. Korkeichenwälder begleiten uns, hin und wieder ein Bauernhof mit umliegenden Weiden. Ein Wildschwein steht am Straßenrand und verschwindet nachdem es mich bemerkt hat im Dickicht. Zweimal warten Bauern mit ihren Milchkannen am Straßenrand auf den Transporter. Unsere Fahrt durch die sardischen Berge gehört zu den schönsten Abschnitten unserer Reise. Da auch noch das Wetter mitspielt und die Sonne immer wieder durchbricht, genießen wir jede Wegbiegung und jeden neuen Ausblick. Ein kurzer heftiger Wolkenbruch überrascht uns auf den letzten Kilometern und durchnässt wieder einmal unsere Schuhe. Wir haben zum Glück nur den Ausläufer des Gewitters mitbekommen, sehen aber doch noch übergelaufene Kanalisation und Wassermassen, die sich ihren Weg die Straße hinunter bahnen. Bei einer Kaffeepause wechsele ich T-Shirt und Socken aus und reite so recht komfortabel die letzten zwanzig Kilometer bis Lu Bagnu herunter.
Nach einer weiteren Fahrt durch den Norden der Insel nehmen wir die Fähre von Santa Teresa di Gallura nach Bonifacio auf Korsika. Italien ist erst einmal Geschichte und ein paar Tage in Frankreich warten auf uns. Die helle Steilküste der Insel mit ihren Leuchttürmen und dem am Felsrand erbauten Bonifacio erfreut die Augen. Wieder ist ein Abschnitt zu Ende gegangen und wir sind bereit für Neues. Auf dem Weg in unsere Unterkunft, eine schöne kleine Villa etwas außerhalb gelegen, kaufen wir noch für das Abendessen ein. Im Haus fliegen die Kleidungsstücke aus allen Ecken schon Richtung Waschmaschine als die Vermieterin wegen des Wifi-Passworts noch einmal zurückkommt. Amüsiert sieht sie dem Kleiderflug zu und verschwindet zügig wieder. Es ist Guidos Geburtstag heute, den wir bei einem guten Essen und leckerem Wein auf der Terrasse ausklingen lassen.
Bonifacio könnte ein schönes Stück Geschichte sein, ist aber auf Grund seiner Lage und Vergangenheit schon jetzt relativ überlaufen. Alles ist auf den Tourismus ausgerichtet und so fährt die elektrische Bimmelbahn die Rentner durch die engen Straßen. Im Sommer muss es hier nicht auszuhalten sein. Es gibt zwei Arten von Geschäften, die mit Essbarem und die mit Souvenirs. Wir schauen uns den alten Friedhof auf der Inselspitze an. Die Grabhäuschen mit dem Kreuz zuoberst erzählen mit ihren Familiennamen über den Türen ein wenig von der Vergangenheit des Ortes.
Immer wieder war die Festung belagert, immer wieder musste verteidigt werden. Auch die Fremdenlegion hatte eine Zeit lang ihre Kaserne hier. Ihre Quartiere sind heute verlassen. Die ersten werden nun für neue Zwecke renoviert. Bonifacio selbst ist nur Station zum Eis essen. Aber am Hafen bleiben wir noch etwas länger. Eine Megajacht fährt gerade rückwärts zu ihrem Liegeplatz. An Steuer- und Backbord sowie an Bug und Heck sind jeweils Angestellte mit Funkgeräten postiert und stehen mit dem Steuermann in Verbindung. In richtiger Position liegend fällt der Anker an schwerer Kette ins Wasser. Neben dieser Yacht wirken die anderen, auch viele teure Boote darunter, wie Kinderspielzeuge. Wir kaufen noch ein paar fehlende Lebensmittel im Supermarkt ein und freuen uns auf einen faulen Tag am Haus. Viviane kocht gerne und wir kommen so in den Genuss eines drei Gänge Menüs ohne die saftigen Preise Korsikas zahlen zu müssen. Hier, wo ein Päckchen Tabak das doppelte und ein Milchkaffee manchmal das dreifache des sardischen Preises kostet, wollen selbst wir ein wenig auf unsere Ausgaben achten.
Unser Zwischenstopp auf dem Weg nach Bastia ist das Nudistencamp Naturista Riva Bella. Ich habe diesen Ort gewählt, weil es die preisgünstigste Lösung war und in einer für uns guten Entfernung zwischen Bonifacio und Bastia liegt. Wir ziehen uns vor unserer Hütte erst einmal aus und machen es uns bequem. Auch unser bisher einziger Gang ins Meer steht an. Gewöhnungsbedürftig sind die älteren Männer mit tiefhängenden Hoden und Runzelrüssel, die zu ihrer Nacktheit Schirmmützen gegen die Sonne tragen. Das Konzept des Nudistencamps erschließt sich mir nur so halb. Für mich wirkt es etwas aus der Zeit gefallen, ein Kind der Sechziger oder Siebziger. Auf jeden Fall aber ein wenig Abwechslung in unserem Alltag, auch wenn Viviane als Kind schon mit ihren Eltern in Nudistencamps Urlaub verbringen mußte und es in der Jugend gehasst hat. Wer mag in der Pubertät auch schon die intensiven Blicke älterer Männer auf dem gerade sich entwickelnden Körper ertragen?
Gegen Abend sind dann alle bis auf einen Mann wieder angezogen. Das Wetter gibt auch nicht so viel Wärme her. Trotzdem geht der eine noch stolz umher, vielleicht ein notorischer Exhibitionist.
Am Morgen sehe ich die zwei Eichelhäher wieder, die mir wegen ihrer Zutraulichkeit schon gestern aufgefallen sind. Wir frühstücken draußen und legen ein kleines Stück Käse fünfzig Zentimeter entfernt auf einen Holzpfosten. Nach einer kurzen Zeit des Beobachtens kommt der erste der beiden sich seinen Leckerbissen abholen, kurz danach auch der zweite. Unsere Vormieter scheinen sich den beiden schon als Futterlieferanten angedient zu haben. Die sonst so scheuen Vögel hat noch niemand von uns vorher so nah gesehen. Nach dem verlassen des Platzes steht eine Herde Alpakas auf der Straße, die uns nicht durchlassen wollen. Wir versuchen sie nach links oder rechts zu lenken, worauf sich die Tiere allerdings nicht einlassen. Als eines von ihnen mit einem beeindruckend fachmännischen Geräusch ausspuckt halte ich etwas Abstand. Schließlich lassen sie uns doch vorbeiziehen. Das vorderste Alpaka winkt mit dem rechten Ohr und kniept dazu sein linkes Auge kurz neckisch zu...seltsame Wesen, diese Alpakas!
Wir fahren einige Umwege auf unserem Weg nach Bastia und halten deswegen zu einer Extrapause an einem Café an. Kurze Zeit später röhren eine Reihe 50ccm-Mopeds aus den fünfziger bis siebziger Jahren, samt ihren italienischen Fahrern heran. Die Jungs sehen ebenso verlebt wie ihre Maschinchen aus, hier und da ein Blechschaden, knautschige Kleidung und Rauchergesichter. Einer fährt noch einmal weg und trudelt dann mit der Nachhut und dem Begleitfahrzeug ein. In dem sind auch schon zwei wohl unterwegs ausgefallene Mopeds untergebracht. Auffallend ist ein äußerlich heruntergekommener gelber Roller, an dem hinten ein Plastikhuhn kopfüber hängt. Mir kommen die armen, noch lebendigen Vögel in den Kopf, die wir in Kambodscha hinten an einem Auto festgezurrt gesehen haben. Da ist mir der kleine Witz hier schon wesentlich sympathischer! Zwölf Maschinen parken nun vor dem Café und ihre Fahrer stellen sie noch einmal am angrenzenden Supermarkt ins Trockene, weil nun die ersten Tropfen fallen.
Während sie es sich nun an den Tischen bequem machen, zahlen wir, damit wir vor dem Regen unser Ziel für heute erreichen. Martin bleibt etwas zurück, weil er sich seine Regenjacke anziehen möchte. Dabei fällt ihm zum zweiten Mal am heutigen Tage sein Ständer ab, und das Rad hin. Kurze Zeit später rutscht er dann auch noch auf dem Sand in einer Kurve weg und findet sich – zum Glück unverletzt – auf dem Boden wieder.
Ich habe mir gerade eine Liste der größten Mittelmeerinseln angeschaut und erstaunt festgestellt, das wir die größte Insel, Sizilien, umrundet und die zweit und viertgrößte, Sardinien und Korsika nun jeweils von Süd nach Nord durchquert haben. Was mich aber wirklich gewundert hat, ist die Größe im Vergleich zu Mallorca. So ist Sardinien mehr als sechsmal so groß, Korsika mehr als doppelt und Sizilien etwa sieben mal größer als Mallorca. Sizilien ist mit fast fünf Millionen Einwohnern auch bei weitem die bevölkerungsreichste Insel im Mittelmeerraum. Während auch Sardinien mit über 1,6 Millionen Einwohnern noch relativ dicht besiedelt ist, weißt Korsika mit über dreihunderttausend Menschen die geringste Dichte auf. Vor kurzem habe ich gelesen, das Sardiniens Inselregierung Neuankömmlingen fünfzehntausend Euro bei einem Hauskauf zahlen möchte, wenn sie sich ständig auf dem Eiland ansiedeln. Allerdings gilt die Regelung nur für Dörfer mit weniger als dreitausend Einwohnern. Dem Kampf gegen Abwanderung wegen Armut und fehlender Arbeit soll so genauso etwas entgegengesetzt werden wie mit den sogenannten ein Euro Häusern in Gebieten mit besonders großer Landflucht. Fehlende Anreize ziehen immer mehr junge Menschen fort von den Inseln, hin in die großen Städte des Festlandes, dort wo die guten Universitäten, die besser bezahlte Arbeit und die Kultur locken. Strukturprobleme, die wir aus unseren ländlichen Gebieten auch kennen. Ein Teufelskreis mit immer weniger Ärzten, Überalterung, fehlende Infrastruktur wie Geschäfte und regelmäßigem Nahverkehr. Gerade in den Dörfern im Landesinneren wird es schwierig noch bei der Jugend zu Punkten. In der Nähe des Meeres sieht es durch Tourismus und größere Ansiedlungen besser aus.
Die letzte Fähre auf unserer Reise bringt uns von Bastia zurück auf das italienische Festland. Wir erreichen Genua am späten Nachmittag und werden von der Stadt mit Regen begrüßt. Nach einer halben Stunde irrlichtern in den engen Gassen der Altstadt zeigt uns ein Junge aus einem Obstladen den Weg zu unserem Apartment.
Auf einem Spaziergang durch die Stadt sehen wir an vielen Stellen noch die Grandezza der alten Seehandelsmacht durchscheinen. Heute ist einiges heruntergerockt, was gerade bei den engen Gassen oft zu Pissfahnen in der Luft und Kothaufen auf der Erde führt. Letztendlich wirkt Genua aber wie eine interessante Hafenstadt mit großer Vergangenheit und ich wünschte mir ein paar Tage mehr zur Erkundung der verschiedenen Viertel. So geht es am nächsten Tag schon weiter auf unsere letzte Fahrt gen La Spezia, wo sich unser Kreis schließen wird. Durch die schönen Badeorte der Riviera verschwinden wir in die Berge des ligurischen Hinterlandes, erklimmen einige Höhen und müssen ein letztes Mal durch einen viel zu langen stickigen Tunnel, bevor wir in La Spezia einrollen. Wir sind heilfroh, als unsere Pritsche, nur um eine leere Bierflasche auf der Ladefläche und einen Strafzettel unter der Windschutzscheibe reicher, an ihrem Platz steht. Wir haben uns in den letzten Tagen doch ein paar Gedanken gemacht, ob sie einen Monat auf unbewachtem Gelände auf uns warten würde. Wir laden alles auf, um dann ein paar Kilometer zurück in die Berge fahrend unsere finale Übernachtung anzusteuern.
Zweitausenddreihundertundeinpaar Kilometer sind wir in den letzten Wochen unterwegs gewesen. Einmal rund um das Tyrrhenische Meer plus um ein paar Einsprengsel des Ligurischen Meeres sind wir gekurvt. Die schönsten Strecken waren oft nicht die direkt am Wasser entlangführenden, sondern die im inneren von Festland und Insel liegenden. Mehr Natur, weniger Verkehr und nur sporadische, eher in die Landschaft passende Bebauung sind, gepaart mit bergigen Abschnitten, hier der Garant für schöne Rad-Tage. Aber auch an der Küste gab es einige grandiose Etappen. Um Cefalù herum, von Genua nach La Spezia, Cinque Terre und Siziliens Südküste sind Traumstrecken des Mittelmeers.
Diese Reise waren auch ungewöhnlich viele Städte auf dem Speiseplan. Die kleinen geschichtsträchtigen sind leider meistens zu touristisch, um interessantes neben den geschichtlich relevanten Bauwerken zu bieten. Neapel, Catania, Palermo und Genua rufen alle nach Wiederkehr. Wie immer ist auf einer mehrwöchigen Radtour mit so vielen Kilometern zu wenig Zeit für das nähere kennenlernen der Nuancen einer Großstadt. Aber für ein Gefühl reicht es durchaus und das verspricht sich einiges von einem zweiten Besuch. Wie erwartet haben wir als Team Tropicana gut funktioniert und neben kleinen gemeisterten Abenteuern auch gemeinsam viel Spaß gehabt. Die richtige Mischung aus sich zurücknehmen und nach vorne denken ist über eine längere Zeit ein wichtiger Punkt. Das haben wir vier ausgesuchte Individuen gut geschaukelt!
Mir ist eine Statistik aus der FAZ im Kopf hängengeblieben: im Mezzogiorno, dem italienischen Süden, lesen nur halb so viele Menschen ein Buch wie im wohlhabenden Norden. Die wenigsten Leser leben auf Sizilien. Ausnahme im Süden ist Sardinien, das fast mit dem Norden auf gleicher Höhe liegt. Das deckt sich ungefähr auch mit der industriellen Entwicklung und der Wertschöpfung im Land. Der Süden ist arm und das hat mehrere Gründe: Das Städtedreieck Mailand, Genua, Turin schöpft mit Mode, Schiffsbau, Automobilindustrie und anderen Branchen viel vom Rahm der erwirtschafteten Gewinne ab. Touristisch liegt auch ein Großteil der besuchten Orte im Norden. Der Süden hat ärmere Böden, die zudem in großen Teilen noch immer Großgrundbesitzern gehören und somit von den Bauern teuer gepachtet werden müssen. Die Verkehrswege sind durch das Gebirge in Süd-Nord Richtung ungenügend erschlossen. Kriminelle mafiöse Strukturen schaffen zudem ein investitionsfeindliches Klima. So bleibt der Süden sichtbar abgehängt gegenüber dem reicheren Bruder aus dem Norden der Republik. Für Besucher, die der Folklore des einfachen Lebens nachspüren, ist das vielleicht sogar ein Grund zum Besuch, für die Bewohner eher einer zur Landflucht. Noch immer verlassen viele Menschen Sizilien und das südliche Festland, um in den nördlichen Städten oder in den Ländern Mitteleuropas Arbeit und Glück zu finden. Dabei hat der Süden mit seinen alten Kulturstätten, den lebendigen Städten und seiner teils großartigen Landschaft alles für das große Kino. Ich komme auf jeden Fall wieder und schreibe ein Kapitel meines persönlichen Dramas im sonnenverdorrten Süden...