Alle Jalousien heruntergezogen, Müll im Randstein und kaum Menschen auf der Straße. Dafür ein paar herumstreunende dünne Katzen, die sich unter parkenden Autos wegducken. In einer Großstadt wie Marrakesch nach Mitternacht anzukommen gibt ein nicht allzu einladendes Bild ab. Der von unserem Riad geschickte Fahrer liefert uns an der Haustür ab, wo Ahmed uns in Empfang nimmt und mit leicht zerzausten Haaren und etwas verschlafenem Blick einen ersten Überblick gibt. Wir lassen uns den Weg um zwei Ecken zum anscheinend durchgehend geöffneten Kiosk beschreiben und gleichen mit Wasser, Nüssen und ein paar Schokokeksen das entfallene Abendessen aus.
Die Zimmer sind, wie so oft im Riad, um den großen nach oben nur mit einem Plastikdach gedeckelten Innenhof ausgerichtet. Das ist zwar sehr gemütlich, aber wegen der fehlenden nach außen öffnenden Fenster auch recht stickig. Ich putze meine Zähne und bin etwas genervt, weil das Wasser nicht ablaufen will. Noch ein paar harte Kissen aus dem Bett entfernt und ein wenig im Netz gesurft. Peter schläft schon neben mir mit seiner Darth Vader Maske über dem Gesicht. Wegen Schlafapnoe wird er über einen dickeren Schlauch und einen kleinen Generator mit Sauerstoff versorgt. Das sieht recht abenteuerlich aus, hilft aber wohl. Und vor allem sorgt es dafür, dass er nicht schnarcht. Gegen vier Uhr fallen wir endlich für ein paar Stunden in einen unruhigen Schlaf.
Unser Frühstück wird uns auf der obligatorischen Dachterrasse serviert. Omelette, Weizenbrötchen, Marmelade und Butter, abgerundet durch Tee oder Kaffee. Wir sind gerüstet für unsere erste Runde durch die Medina. Vorher zieht Peter aber noch den von mir übersehenen Verschluss aus dem Waschbecken, so dass mein Zahnputzwasser von heute Nacht endlich abfließen kann...
Durch eines der neunzehn Stadttore betreten wir die für Autos gesperrte, leider aber für Roller und Motorräder zugängliche Altstadt. Es gibt mehrere diesen großen Bezirk durchschneidende Traversen, die links und rechts von hunderten Geschäften begleitet werden. Die meisten Waren sind für die Millionen Touristen hier aufgehäuft, die jedes Jahr in noch größeren Zahlen in die Stadt einfallen. Die Abgase der Zweitakter vernebln die Gassen und rauben den Atem. Wir biegen in eines der Wohnviertel ab, um dem Getümmel und Gedränge zu entkommen und werden recht bald mit einer der Besonderheiten der alten Handelsmetropole bekannt gemacht. Die einzelnen Viertel haben meist nur einen einzigen Zugang, so dass wir immer wieder in Sackgassen enden und uns nur der Rückzug über den Hinweg bleibt. Nach drei solcher Exkursionen kennen wir Dutzende Katzen, eine Menge schöner Haustüren und verschieden enge und dunkle Gassen. Durch die traditionelle Öffnung der Häuser zu einem Innenhof hin sehen wir allerdings wenig vom Leben der Menschen in ihren Vierteln. Wir lassen uns in einem kleinen Boutique Café nieder und genießen die ruhige Atmosphäre des in einem dunklen Grün gekachelten Innenhofs. Natürlich sind auch hier achtzig Prozent europäische Touristen. Der Kontrast von viel Fleisch zu traditioneller Kleidung zeigt des Öfteren die Arroganz gegenüber den Gastgebern. Wir entscheiden uns, nach einer Mittagspause einen anderen Stadtteil innerhalb der Stadtmauern zu erkunden, in der Hoffnung etwas dem Gedränge der anderen Reisenden zu entkommen.
Nach einem kurzen Gang entlang der Außenseite der Stadtmauer und einer Kaffeepause an einer vielbefahrenen Kreuzung kommen wir in interessantere Gebiete. Hier finden sich kaum Touristen, dafür gibt es Motorenersatzteile, Kühlelemente, alte Abzugshauben oder zur Reparatur bereitliegende Klimaanlagen zu bewundern. Eher für Einheimische interessante Dinge. Die Menschen hier wissen natürlich, dass wir keine Kunden sind und so macht das umherstreunen deutlich mehr Spaß, der kurze Kontakt ist herzlicher und unverstellter. Ein Mann führt seinen blinden Bekannten umher. Als wir ihn bei unserer Runde um den Block ein zweites Mal treffen, nimmt er uns auch noch kurz unter seine Fittiche und zeigt uns einen kleinen Betrieb, in dem der Besitzer Lederschuhsohlen zur Weiterverarbeitung mit einer Tinktur bepinselt.
Wir spazieren durch die Mellah, das im 16. Jahrhundert gegründete jüdische Viertel. Heutzutage leben her gerade noch zweihundert, ehemals waren es Tausende Juden. So ist es nun ein weiterer muslimischer Stadtteil mit einer besonderen Geschichte. Neben dem Palast des Sultans gelegen, war das Quartier nur über einen verschließbaren Zugang betretbar. Nach Jahrzehnten des Verfalls wird inzwischen vieles wieder aufgebaut, was ganz schön anzuschauen ist, aber auch teilweise etwas reizlos wirkt. Abseits der Hauptwege gibt es aber aktuell noch einige in sich zusammenfallende Häuser. Hier ist alles weniger herausgeputzt, ein etwas ärmliches reines Wohnquartier. Wir besuchen den alten jüdischen Friedhof, auch der ist inzwischen renoviert, aber trotzdem noch eine Hauptattraktion des Viertels. Eng beieinander und in alle Richtungen weisen die niedrigen Betongräber. An den sporadischen höheren rechteckigen Grabstätten der reicheren Bürger finden wir auch einige hebräische Inschriften. Unter einer Baumreihe liegen eine Reihe Kindergräber nebeneinander. Wir sind die einzigen Besucher und der Ort strahlt eine fast meditative Ruhe aus. An allen Seiten von einer Mauer umgeben sind wir hier den strahlend weiß getünchten Grabhügeln und dem blauen Himmel Preis gegeben. Meine Gedanken wandern zum Nahost Konflikt und dem ewigen Kampf der ungleichen Nachbarn. Ob es auch Auswirkungen für die wenigen hier verbliebenen Juden gibt, ob auch sie den Druck verspüren, der zunehmend von den scheinbar immer weitergehenden Kampfhandlungen und dem immer unversöhnbareren Positionen aus geht? Auch im Mittelalter gab es schon eine scharfe Trennung der Religionen, Pogrome an Juden, aber auch - und vielleicht gerade hier - ein Miteinander, eine friedliche Koexistenz über lange Zeiträume. Wie schon so oft frage ich mich, wie ein einmal entfachter Krieg wieder einzudämmen ist und wie danach möglicherweise auch noch die Wunden verheilen könnten. Das schüren des Hasses, das sich selbst erhöhen durch die Erniedrigung der anderen, die Ablenkung von den eigenen Fehlern, die Einigung im Inneren durch das Ausgrenzen der anderen. Die Pervertierung der politischen Mittel durch eine herrschende Kaste. Die Ausführung durch die Befehlsempfänger. Die Aufwiegelung durch religiöse Fanatiker. Die Hörigkeit und blinde Gläubigkeit der Dummen und Verführbaren. Ein militärisch-industrieller Komplex, der bestens an seinen Erfindungen verdient. Wie lässt sich diese Spirale anhalten und ein Miteinander finden? Wie ist das in früheren Konflikten gelungen und vor allem, wie weit ist es wirklich gelungen? Der Traum von einer pluralistischen Welt, in der die Familien, die Stämme, Völker, Länder in friedlicher Konkurrenz zueinander stehen und sich ein Wettkampf für zukunftsweisende Lösungen entwickelt, er scheint sich gerade einmal wieder ein wenig mehr in Luft aufzulösen...
Dass mich ein alter jüdischer Friedhof auf solche Gedanken bringt, kann bei unserer Geschichte und bei lauter werdenden Schreien nach Reimmigration nicht wundern. Schade, dass die, die am lautesten schreien auch am meisten Aufmerksamkeit bekommen!
Mittags fahren wir in unserem Renault Mietwagen nach Tafraoute, ein Oasenort auf tausend Meter Höhe im westlichen Anti Atlas. Über die gut ausgebaute Autobahn geht es bis kurz vor Agadir und dann auf kleineren Straßen immer weiter in die Berge. Das sich uns bietende Panorama wird immer großartiger, die uns umgebende, fast kahle Bergwelt ist beeindruckend. Wir brauchen länger als gedacht, so dass wir von unterwegs unseren Gastgeber anrufen, um unsere späte Ankunft mitzuteilen. Das die Berge in herrliches rosa tauchende Abendlicht wird zur blauen Stunde und schließlich fahren wir in vollkommener Dunkelheit die kurvige Strecke entlang. Wir sind froh gegen zehn Uhr endlich unser Ziel zu erreichen und Khalid wartend vor dem Tor anzutreffen. Schon kurz danach stehen wir lachend im Hof als er den hinter seinem Lenkrad hervorkommenden Guido versehentlich wegen seiner längeren grauen Haare als Madame anspricht, direkt den Fehler bemerkt und sich peinlich berührt prustend abdreht. Wir erzählen noch ein Stündchen, bevor er sich bis zum Frühstück verabschiedet.
Der Belgier Jean Vérame hat sich 1984 im Tal der Ammeln mit seinem Land Art Project „Les Peintures“ verewigt. Tonnenweise nach altägyptischem Rezept angerührter Farbe wurden über ein Gebiet von knapp zwei Quadratkilometer auf bis zu dreißig Meter hohe Felsformationen aufgetragen. Die im Tal sowieso schon auffälligen Steine sind nun auch noch in blau, rosa, gelb und schwarz gestrichen. Der Kontrast zur ansonsten sehr kargen Landschaft schafft ein äußerst reizvolles Landschaftsbild. Wir sind die einzigen Besucher an diesem wolkenlosen Montagmorgen. Fünf Fahrminuten von der Hauptstraße entfernt erreichen wir über eine Piste den besonderen Ort. Wir laufen ein wenig entlang der ersten Formation, bevor Peter und Wolfgang den zehnminütigen Aufstieg wagen. Guido und ich gehen zur nächsten Intervention weiter. Aus den verschiedenen Sichtwinkeln entfalten die farbigen Einsprengsel diverse Eindrücke. Was ich aus der Entfernung für einen eher plumpen Versuch der feindlichen Übernahme gehalten habe, spielt aus der Nähe gekonnt mit den vorhandenen Elementen. Der Kontrast aus Natur und kulturellem Eingriff greift nach meiner Seele und lässt mich mit einem Lächeln in der Landschaft stehen. Nachdem jeder für sich seine Eindrücke aufgenommen hat stehen wir noch eine Weile zusammen und unterhalten uns, bevor wir den Rückweg zur Hauptstraße antreten. Kurz vor dem Teer fliegen kurz hintereinander zwei Adler auf und landen nach kurzem Flug auf einer Felskuppel. Für uns geht es weiter in Richtung Äit Mansour, wo wir durch die Palmenoase in einer engen Felsschlucht fahren möchten.
Wir halten in einem kleinen Dorf und trinken mit den älteren Männern im Café unseren Nousnous, die marokkanische Variante des Milchkaffees. Im dunklen kleinen Laden daneben kaufe ich uns ein paar Kekse dazu. Ich bekomme die Erlaubnis des Ältesten ihn zu fotografieren. Dann möchte auch der Wirt zuerst ein Foto von sich und danach noch eins mit Guido und Peter. Er schreibt mir seinen WhatsApp Kontakt auf und fragt, ob ich ihm die Bilder schicken würde. Guido ist erstaunt, hatte er sich doch das Land weniger modern und offen vorgestellt und muss nun sein Bild zum wiederholten Male revidieren. Auch für mich ist der relative Wohlstand dieser Gegend überraschend. Unser Vermieter hat uns dazu erklärt, dass die Menschen der Gegend auch anderswo in Marokko als gute Geschäftsleute gelten und durch geschicktes Handeln zu gewissem Wohlstand gekommen sind. Auch wird das Umland von Tafraoute neben den Touristen von Langzeitwintergästen aus Europa frequentiert, die hier mit ihren Wohnmobilen den harscheren Temperaturen entkommen und Geld in die Kassen spülen.
Unser Auto schraubt sich von der Höhe tiefer ins Tal herab. Hier muss es vor kurzer Zeit heftig geregnet haben, immer wieder sind Steine und Schlamm auf der Straße. Wir umkurven an einer Stelle große Felsbrocken, die hier von oben abgerutscht sind. Uns ist trotz der umwerfenden Schönheit des uns nun rechts und links begleitenden Palmenwaldes etwas mulmig. Wir beginnen zu verstehen, warum Khaled dreimal gewarnt hat, dass wir bei Regen sofort auf dem kürzesten Weg die enge Schlucht verlassen sollen. Hier ist einiges an Fahrbahn und Begrenzungen zerstört worden. Wir halten an keinem der wenigen Restaurants und genießen nur an ein paar Stopps die wirklich besondere Umgebung.
Als wir das Tal verlassen empfängt uns wieder die karge Natur des Anti Atlas. Nun sehen wir uns gezwungen in immer kürzeren Abständen auf provisorische Pisten durch das hier sehr breite, aber fast gänzlich ausgetrocknete Flussbett auszuweichen. Die Straße ist sechs oder sieben Mal von den Fluten des vor kurzem noch reißenden Flusses mitgerissen worden. Immer wieder kennzeichnen ein paar kleine Felsbrocken Stellen, an denen die Straße unterspült wurde und es gefährlich wäre die eine oder andere Seite zu befahren. Mir fällt die alte Warnung ein, wonach mehr Menschen in der Wüste ertrinken wie verdursten. Die Schnelligkeit und Heftigkeit mit der das Wasser kommt und wieder verschwindet ist kaum vorstellbar. Erst durch die auch bei uns für nicht möglich gehaltene Flut durch die vielen kleinen Wasserläufe ist hier ein anderer Blick geschaffen worden. Schließlich sind wir gezwungen hinter einer Reihe von fünf großen Lastern anzuhalten. Zuerst denken wir, dass sie hier stehen, weil ihre Fahrer beten möchten. Dann stellen Wolfgang und ich aber bei einem kleinen Spaziergang fest, dass die Straße weiter vorne auf eine Strecke von vierzig Metern weggerissen wurde. Ein Bagger schaufelt immer wieder große Mengen Kies und Schlick aus dem Flussbett und versucht damit eine befahrbare Piste herzustellen. Wir schauen uns noch eine Weile um und entscheiden dann, dass wir die ganze Strecke besser zurückfahren. Bis der Weg hier wieder befahrbar ist, würde zu lange dauern. Auch wäre es gut möglich weiter vorne einige vielleicht sogar noch schlimmere Verwüstungen vorzufinden.
Als Wolfgang und ich zu unserem Wagen zurückgehen, laden uns die Lastwagenfahrer ein ihr Essen mit uns zu teilen. Wir lehnen dankend ab und berichten den anderen beiden am Auto von der Baustelle. Einer der Fahrer kommt mit einer Platte frisch gewaschenem Obst zu uns. Wir sind gerührt über so viel Gastfreundschaft, nehmen jeder, nachdem wir uns erst ein wenig zieren, ein Stück vom Tablett und bedanken uns. Wir winken noch einen Gruß hin und her, wenden unser Auto und machen uns auf den Rückweg. Die aufgezogenen Wolken sorgen bei Guido für etwas gedrückte Stimmung. In wesentlich kürzerer Zeit geht es diesmal durch das enge Tal. Keiner von uns möchte die Urgewalt Wasser in solch einer Falle erleben und so sind wir alle recht froh, als wir am anderen Ende trocken ankommen.
Nach dem Frühstück nimmt uns Khaled mit auf eine Wanderung zu den alten Dörfern des Tals. Um den kostbaren Platz in der Ebene vollständig für die Landwirtschaft nutzen zu können wurden die Häuser nahe an die Felswände gebaut. Heute sind fast alle Dörfer verlassen und die Menschen entweder in die größeren Städte gezogen oder sie haben modernere Bauten mittiger im Tal errichtet. Khaled erzählt uns vieles Interessantes über die Bräuche aus alten Zeiten und auch aktuelles. Wir sprechen über die vielen Moscheen im Tal. Von unserer Dachterrasse haben wir zehn im näheren Umkreis gezählt und von vier bis sechs Uhr morgens auch abwechselnd gehört. Alle werden heute nicht mehr vom Muezzin vor Ort beschallt, sondern Stimmen aus der Konserve versorgen die Bevölkerung. Khaled erzählt, dass den Erbauer oder Spender einer Moschee im Jenseits eine Villa erwartet. Das erklärt die hohe Anzahl Minarette gut. Da sie allerdings inzwischen den Bedarf übersteigt, versuchen die Gemeindevorsitzenden willige Spender davon zu überzeugen ihre Gelder besser für soziale Projekte zu spenden.
Wir betreten einen Friedhof ohne es zu merken. Kein Zaun oder Hinweis zeigt ihn an. Jeweils ein einfacher Stein am Kopf- und Fußende aufgerichtet zeigt ein Grab an. Sind beide Steine in eine Richtung zeigend, liegt ein Mann, bei Ausrichtung in verschiedene Richtungen eine Frau hier begraben. Khaled erklärt uns den Ablauf der Zeremonie, wenn ein Mensch stirbt: Über ein Megaphon werden alle über das Dahinscheiden informiert. Dann wird die Leiche rituell gewaschen, möglichst weitgehend der Darm entleert und der Körper eingecremt. Anschließend wird bis auf Gesicht und Hände alles in weißen Stoff eingewickelt. Der oder die Verstorbene wird vermessen und ein Grab ausgehoben. Allerdings nur zwei Hände und zwei Finger breit. Mehr ist, außer bei sehr Korpulenten nicht nötig, da der Körper seitwärts mit dem Gesicht gen Mekka begraben wird. Die ersten Wochen wird zum Schutz gegen Tiere noch ein Hügel über dem Grab errichtet, der nachher eingeebnet wird.
Wir sind alle erstaunt, an wie vielen Stellen Wasser durch Kanäle in Bewässerungsbecken läuft. An einem der Größeren halten wir an und Khaled erklärt uns die Wasserrechte und die Verteilung an die einzelnen Familien. Ein Dorfbewohner hatte die Aufgabe am Morgen den Gesamtwasservorrat des Beckens mit Hilfe der Rippe eines Palmwedels zu vermessen und dann mit kleinen Holzkeilen die jeweiligen Mengen einzuteilen. Die Palmwedelrippe wurde dann für alle sichtbar in der Nähe der Schleuse aufgehängt. So war sichergestellt, dass keiner zu viel Wasser abzwacken konnte ohne aufzufallen. Ich denke an unser Haus an der Algarve. Auch da war das Wasser immer ein wichtiger Rohstoff und die Verteilung oft Grund für Streit. So gibt es auch heute noch ein Amt für Wasserwirtschaft in Faro, wo alle Rechte hinterlegt sind.
Am Ende unserer mehrstündigen Tour besuchen wir das in einem der Häuser eingerichtete Maison Traditionelle. Ähnlich einem Freilichtmuseum in Deutschland ist auch hier ein Haus mit all den dem damaligen Leben zugehörigen Dingen ausgestattet worden. Für uns besonders interessant sind die Erläuterungen, woran bei einer Frau ihr Stand zu erkennen war. Hatte sie kleine bunte Bömmel an den Schuhen, war sie noch nicht vergeben. Ohne diese war sie verlobt, mit einem gestickten Kreuz auf dem Span verheiratet. Bei anderen Stämmen zeigte ein Punkt zwischen den Augen, ein Henna-Tattoo auf der Nase oder schließlich ein Kinn-Tattoo den jeweiligen Stand. Verschwitzt, müde, aber voller Impressionen gehen wir mit Khaled zurück zum Haus. Selten habe ich einen so interessierten und zugewandten Gastgeber erlebt.
Nur Peter und ich haben am Nachmittag noch die Muße für eine zweite Wanderung im Tal der Ammeln. Die nur hier vorhandenen eierförmigen Felsen in allen Größen geben der Landschaft ein besonderes Gepräge. Da die Schatten das Tal schon bedecken, klettern wir an einer Seite die Felsen hinauf. Nach zwanzig Minuten erreichen wir eine Art Hochplateau. Bizarr geformte Felsen, teilweise nur mit zwei Auflagepunkten leuchten ocker- und orangefarben in der Abendsonne. Zwischendrin immer wieder mehr oder weniger grüne Arganbäume. Die endemische Art ist auf wenige Gebiete in Südmarokko begrenzt. Die Einwohner verarbeiten ihre harten, olivenähnlichen Früchte vollwertig. Die weichen Schalen werden Viehfutter, der innere kleine mandelförmige Kern wird zu wertvollem Öl verarbeitet. In den letzten Jahren ist der Lifestyle- und Beauty-Sektor auf dieses aufmerksam geworden, so dass die Preise regelrecht in die Höhe geschossen sind. Nur wenn den Arganbaum Wasser erreicht ergrünt er. Jetzt nach dem langen trockenen Sommer und ersten Regenfällen sind manche Bäume noch völlig kahl, während andere schon weitgehend Laub tragen. Ein herrlicher Kontrapunkt in der trockenen Landschaft und neben dem Orange und dem Himmelsblau ein dritter Farbkleks in der Landschaft. Ich bin begeistert von der klar strukturierten Landschaft und stecke Peter mit meiner Freude an. Wir klettern noch ein wenig weiter über die Felsen, bis uns die untergehende Sonne und das lockende Abendessen zurück zu unserem Auto bringen.
Durch den Hinweis eines Einheimischen haben wir nach zwei misslungenen Anläufen diesmal ein leckeres Restaurant erwischt. Wir werden vom hervorragend deutsch sprechenden Wirt mit einem drei Gänge Menü angefüllt und schaffen es gerade noch nach Hause und in unsere Betten. Zufrieden, aber auch erschöpft.
Eine herzliche Verabschiedung von Khaled, ein Halt an der Tankstelle zum überprüfen des Luftdrucks und schon sind wir unterwegs Richtung Taroudant. Die Fahrt durch das kahle Gebirge lässt einmal mehr die Frage in mir aufkommen, womit die Leute hier ihren Lebensunterhalt verdienen. Immer wieder kommen wir an offensichtlich in den letzten Jahren errichteten Siedlungen vorbei. Sichtbar gibt es hier nichts, was einen Aufenthalt finanzieren kann. Die einzige Idee, die mir logisch erscheint und auf die ich auch schon ein paar Hinweise gelesen habe ist, dass es die Häuser von Minenarbeitern sind. Es gibt ein paar Silberminen in der Gegend, aber ob das reicht, um die ganzen Dörfer zu ernähren? Vielleicht sind es auch die Gelder von in den Städten oder im Ausland arbeitenden Familienmitgliedern.
Nach zweistündiger Fahrt halten wir in einem staubigen Nest. Guido braucht eine Zigarettenpause, Wolfgang einen Kaffee und ich schieße ein paar Fotos. Schnell kommen ein paar Kinder von irgendwo her und schauen uns neugierig an. Allzu oft werden hier keine Touristen anhalten. Vor uns wird irgendeine Arbeit an der Straße verrichtet. Ein paar Männer arbeiten in der Sonne, ein Bagger wartet darauf ein paar Steine auf den die Straße versperrenden LKW zu laden.
Im Schatten der Hauswand haben es sich die Männer des Dorfes an mehreren Tischen gemütlich gemacht und schauen zu. Wolfgang hat den einzigen freien Tisch besetzt und sitzt schon beim Kaffee als wir eintreffen. Ein Mann reicht ein lebendes Huhn zum Fahrer des Lastwagens hinein. Ich gehe dahinter noch ein Stück weiter die Straße weiter. Ein kleines Mädchen drückt sich an einen rosa Isuzu, der Vater versucht ihm die Angst vor mir, dem Fremden zu nehmen. Als alles verladen ist, der Kaffee bezahlt und der Fahrer an die Seite fährt geht es weiter durch den Anti Atlas der Tiefebene entgegen.
Eine lange kurvenreiche Abfahrt später sind wir im Sous, der hier eher staubigen, aber eigentlich sehr fruchtbaren Ebene. Taroudant empfängt uns mit dem üblichen Übergang von ödem Land zu öder Vorstadt: Tankstellen, Autowerkstätten, Zweck- und Wohnbauten. Dann parken wir vor der gut erhaltenen Stadtmauer und sehen uns nach einem Platz zum Mittagessen um. Hier ist nicht der süße Anstrich für Touristen wie in Marrakesch, stattdessen ist Taroudant ein relativ unverfälschtes Stück marokkanischer Handelsstadt. Die Straßen sind voll und geschäftig, alles Mögliche wird versucht an die Kunden zu bringen. Nach kurzer Zeit stellt sich natürlich ein kundiger Führer ein, der uns dies und das nahelegt. Da Guido neue Blättchen braucht und wir alle hungrig sind und dann schnell weiter wollen, um noch vor der Dunkelheit anzukommen, hat er einen Auftrag, für den er am Ende mit ein paar Dirham entlohnt wird.
Bald nach dem Verlassen der Stadt schrauben wir uns schon wieder hinauf ins Gebirge, diesmal in den Hohen Atlas. Kehre um Kehre geht es weiter, bis vor uns Bagger und Lastwagen auftauchen. Es werden Hänge abgebaggert, an der gegenüber liegenden Seite angeschüttet und verfestigt. Hier scheint es einige Steinschläge gegeben zu haben und größere Teile der Straße sind abgerutscht. An mehreren Stellen fallen Steine vor uns herab und blockieren die Straße. Mal werden sie vom Bagger weggeholt, dann erledigt es ein Arbeiter mit seinen Händen. Die Bagger oberhalb arbeiten währenddessen einfach weiter. An einer Stelle gebe ich auf Zuruf von Guido Gas, weil Steine vom Abhang anfangen zu rutschen. Ich schaffe es gerade noch auf die andere Seite und wir können weiterfahren. Die Fahrzeuge hinter uns sind nun für längere Zeit blockiert.
Uns sind schon vorher mehrere Camps aus Zelten und Containern aufgefallen. Langsam formt sich ein Bild, dass eine Stunde weiter bestätigt wird. Wir sind im Gebiet des schlimmen Erdbebens vom September 2023. Innerhalb von weniger als einer Minute starben fast dreitausend Menschen, dreihunderttausend weitere waren durch den Zusammenbruch ihrer Häuser, die Bedrohung oder Vernichtung ihrer Existenz schlimm betroffen. Es geht nun über Stunden vorbei an Zeltlagern, verwüsteten Dörfern und immer wieder an abgesackten Felshängen und notdürftig geflickter Infrastruktur. Hier haben viele alles verloren und wenig ist bisher wieder aufgebaut. Wir sind alle stiller geworden, nachdenklicher. Die Vorstellung von der Natur zum Flüchtling, zum Obdachlosen gemacht zu werden trägt schwer. Wir hören später, dass es Hilfe vom Staat gibt. Aber für jemanden, der schon vorher nichts hatte, bei weitem nicht ausreichend. Die Zelte werden hier noch länger ein Haus ersetzen müssen. Auch der nächste Winter wird kalt und hart werden. Erst kurz vor dem Tal von Imlil, unserem Zielort, kehrt ein normaler Alltag links und rechts der Straße zurück.
Hassan holt Peter und mich nach dem Frühstück zu einer Wanderung durch das Tal ab. Von unserem kleinen Weiler wandern wir entlang der Bergflanke über schmale Schotterwege bis Imlil, dem Hauptort des Tales. Wir kommen durch weitere kleine Gebäudeansammlungen. Überall wird gebaut. Entweder Neubauten oder Reparaturen des Erdbebens. Einige Häuser weisen üble Risse auf und sind unbewohnbar. Trotzdem ist der hier zu sehende Schaden gering verglichen mit den gestern durchquerten Gebieten. Um Imlil liegen viele gut gepflegte Apfelplantagen und Wallnusswälder. Wir sehen ein paar echte Methusalem-Nussbäume, die schon etwa vierhundert Jahre auf dem Buckel haben. Aber auch im Tal wird das Wasser knapper. Im letzten Jahr gab es erstmals seit über dreißig Jahren keinen Schnee und auch in diesem Jahr ist der Regen fast vollständig ausgeblieben. Trotzdem hören wir an vielen Stellen das Wasser im Bach und den Bewässerungskanälen sprudeln. Der Kontrast zwischen den dunkelgrünen Bäumen und der völlig kargen Bergflanke könnte größer nicht sein.
Die Veränderung des Klimas ist auch auf dieser Reise deutlich spürbar. Laut Hassan fehlt der beständige, langsam fallende Regen. Stattdessen kommen immer öfter kurze, heftige Unwetter, die der Boden nicht aufnehmen kann. So entstehen schnell schwere Schäden auf der einen Seite und über lange Zeiträume noch schwerere Schäden bis hin zu Unbewohnbarkeit von jahrhundertelang genutzten Gebieten auf der anderen. Für mich als Touristen stellt sich auch hier wieder die Frage, ob ich mit meiner Anwesenheit den Bewohnern eher etwas Gutes oder Schlechtes zufüge. Ich versuche natürlich meinen Wasserverbrauch zu mäßigen. Aber jede Klospülung für einmal Urinieren in Hotels ohne Sparspülung, jeder Kauf einer neuen Plastikflasche Wasser trägt letztendlich zur Verstärkung der Probleme bei. Auf der anderen Seite wären viele Gebiete ohne die Einnahmen des Tourismus wohl entvölkert. So bleibt der Versuch, immer möglichst viel Geld direkt an die Bewohner zu bringen und in Gesprächen auf leicht umsetzbare kleine Veränderungen hinzuweisen – ohne dabei wie ein besserwissender Arsch rüberzukommen...
Letztendlich bleibe ich dabei aber immer noch ein Teil des Problems. Dass inzwischen auch hier in der Provinz ein Bewusstsein für Umweltthemen besteht, wird mir von Hassan bestätigt, als er mir von den turnusmäßigen Reinigungen des Tals erzählt. Auch fallen mir die kleinen Mülleimer mit Deckel zum Schutz vor plündernden Tieren und die Tafel mit der Androhung von hohen Geldstrafen für das Wegwerfen von Müll auf. So wird der Plastikmüll zwar nicht vermieden, aber immerhin schon mit einfachen Mitteln verwaltet.
Mit drei Pausen, eine Polizeikontrolle, Auto säubern und eine Kaffeepause, kommen wir am Flughafen an und verabschieden uns. Guido und Wolfgang fliegen heimwärts, Wolfgang und ich reisen noch zehn Tage durch das Land.
Nach dem einchecken in unseren Riad und einer kleinen Siesta wandern wir quer durch die Medina. Viele Teile, besonders einige der Souks leiden schon unter overtourism, aber wie immer gibt es nahebei auch wieder völlig unbesuchte Wohngebiete, in denen wir in das örtliche Leben eintauchen können. Die meisten Menschen sind Herdentiere oder haben kein Interesse weitab der Einkaufswege zu gehen. Mich locken gerade die Gebiete, wo kleine Läden die Nachbarschaft versorgen, Moscheen den Menschen der Viertel Ort des Innehaltens und der Begegnung sind und Handwerker in ihren kleinen Werkstätten reparieren oder herstellen. Hin und wieder werden wir angesprochen, aber mehr als kleine Dialoge entspinnen sich nicht, da unsere Sprachkenntnisse zu schlecht sind und fernab der Geschäfte auch nur wenige Menschen französisch oder englisch sprechen. Wir kommen an einen Teil der Stadtmauer, der zusammengebrochen ist und nun bringe ich das genauso wie die zahlreichen eingestürzten Häuser auch teilweise mit dem Erdbeben in Verbindung. Teile der Mauern sind neu aufgebaut und verputzt, hier warten haufenweise herumliegende Steine noch darauf wieder im Verband die Lücke zu schließen.
Wir verlaufen uns heillos, finden aber dank digitaler Hilfe das herausgesuchte Restaurant. Auf der Dachterrasse des Slimane tauchen wir in eine andere Welt ein. Mitten in einem Wohnviertel erstreckt sich diese Oase des guten Geschmacks über drei Stockwerke. Zwischen einer Runde älterer Damen, einem füßelnden lesbischen Paar, einer distinguierten jungen Engländerin und einem Uno spielenden Heteropaar genießen wir die langsam angenehmer werdenden Temperaturen und die leichte Abendbrise. Die Mischung aus Expats, Touristen und reicheren Einheimischen ist typisch für Plätze wie diesen. Hier gibt es, wie auch in den anderen gehobenen Restaurants, Biere und Weine zu kaufen und mit dem heraufsteigen der Treppenstufen haben wir kurzerhand von arm auf reich gewechselt. In Marrakesch, genauso wie in vielen anderen Städten außerhalb der „ersten Welt“ ist dieser Bruch oft brutal und auch nur für uns Privilegierte spannend. Hier ist der Übergang nicht gleitend, eher kommt es mir wie eine Steilwand vor. Für die Meisten überhaupt nicht verständlich, wie ein Aufstieg vonstatten gehen könnte, ist dieser ja auch meistens qua Geburt gesichert oder oft willkürlich erfolgt. Ich spüre in solchen Situationen, wie überhaupt natürlich auf Reisen in ärmere Gebiete, oft, dass es eine innere Schranke gibt, die vorgelegt werden muss, um die Ungerechtigkeit ertragen zu können. Nur durch eine Verhärtung von Herz und Seele ist es möglich die Armut zu sehen und danach in ein solch gediegenes Restaurant zu gehen. Das ist ein Makel, ein Fleck auf der Seele, der letztendlich jedem anhaftet, der in privilegierter Stellung auf unseren Planeten lebt.
Fünfzehn Prozent der Marokkaner leben im meist europäischen Ausland und tragen acht Prozent des Bruttosozialprodukts durch ihre ins Land transferierten Gelder. Die Hoffnungslosigkeit, restriktive Politik und Umweltkatastrophen, schnelle und schleichende, aber auch die Hoffnung auf bessere Bildung und damit Aufstiegschancen für ihre Kinder treiben die Menschen fort aus ihrem sozialen Umfeld in ferne Länder. Ganz unten in der Gesellschaft waren die meisten auch in Marokko angesiedelt, aber im Ausland reicht es zum überleben und gibt oft die Möglichkeit noch etwas Geld an Verwandte in der Heimat zu senden.
Das Wissen um die eigene Härte, die eigene Schwäche erfordert eine Verstockung, die bei vielen Menschen zu noch weiterer Ab- und Ausgrenzung führt. So ist es irgendwann leichter, eine Art Snobismus zu entwickeln, die einen auf andere hinabblicken lässt und die eigene Erhöhung rechtfertigt. Statt Mitleid und Hilfeleistung steht oft Verachtung oder sogar Hass. Ich versuche mir einen Weg offenzuhalten, der mich die kleinen oder größeren Begegnungen genießen lassen kann, ohne dass ein Nachteil für eine Seite daraus entsteht. Am besten sogar ein Vorteil für alle Beteiligten, ein Lächeln, ein kleines Geschäft, ein Riss in der Mauer.
Würde ich mit offenem Herzen durch mein Leben gehen müssen, könnte ich nicht bestehen und müsste am Leben und der eigenen Schwäche zerbrechen. So versuche ich mit weichem Panzer möglichst viel zu begreifen und zu verinnerlichen, um daraus meinen eigenen Planeten zusammenzubauen. Ich bewundere zutiefst Menschen, die ihr Dasein zu großen Teilen der Verbesserung von Lebensumständen anderer Menschen hingeben. Hier sehe ich durchaus meine eigene Schwäche.
In der Nacht hat Wolfgang Esther vom Flughafen abgeholt. Nach dem Frühstück lasse ich die beiden zusammen ihren ersten Erkundungsgang durch die Souks antreten. Ich spaziere stundenlang durch die etwas im Abseits liegenden Stadtviertel der Medina. Hin und wieder werde ich angesprochen, meistens, weil jemand denkt, dass ich mich verlaufen hätte. Am Nachmittag schaue ich mir zwei der nahe der Stadtmauer gelegenen Gerbereien an. Die überall rumliegenden Felle und der zum weichmachen des Leders nötige Urin sorgen für eine olfaktorische Herausforderung. Es ist hier immer ein selbsternannter Guide in der Nähe, der mit einem Sträußchen Minze und für ein paar Dirham eine Führung anbietet. Da ich die Gerbereien schon früher einmal besucht habe, sehe ich mich lieber auf eigene Faust ein wenig um. Es arbeiten momentan nur drei Männer, zwei stehen in einem der in die Erde eingelassenen Tröge, bis zur Hüfte in einem für mich undefinierbaren Gebräu. Der dritte legt Felle zum trocknen auf einer betonierten Fläche aus. Es ist eine gnadenlos harte Arbeit. Ich gehe danach in ein benachbartes Haus, um aus dem zweiten Stock ein paar Fotos von oben zu schießen.
Als ich die Treppen wieder runtersteige, rieche ich verbrennendes Gras. Ein älterer Mann bietet mir eine frisch gestopfte Pfeife an. Ich ziehe zwei Mal kräftig und verneine dankend, als er mir eine zweite stopfen möchte. Bei knapp 35°C und einem langen Rückweg bin ich lieber etwas vorsichtig. Ich suche das nächste Stadttor und werde von einem Privatmann angesprochen, der sich mir als Fahrer anbietet. Wir suchen zusammen mein Hotel auf Google Maps, werden uns über den Preis einig und los geht es. Die Fahrt dauert so lange, dass ich kurz stutzig werde und denke, er wolle mich vielleicht irgendwo ausrauben. Beim Blick in sein liebes Gesicht verwerfe ich den Gedanken aber sofort wieder. Gemeinsam finden wir mein Stadttor und verabschieden uns freundlich. Eine echte win-win Situation.
Wir wollen uns zusammen eine der Hauptattraktionen Marrakeschs anschauen, den Bahia Palast. Die Schlange am Ticketschalter ist angenehm kurz, dafür herrscht im Palast ein unfassbares Gedrängel. Reisegruppen laufen ihrem Fähnchen hinterher und Instagramer versuchen eine Position zu finden, um ihren Followern weiszumachen, sie hätten den gerade wiederentdeckten Palast als erste betreten. An einer Stelle stehen die Menschen Schlange, um ein Foto von sich vor einer zugegebenermaßen schön gekachelten Einbuchtung zu bekommen. Es sind viele junge und gutaussehende Menschen zu sehen, die Stadt scheint gerade für ihre Blase en Vogue zu sein. Eine junge Frau in rotem Kleid lässt sich von ihrem Freund fotografieren und überprüft dann mit kritischem Gesichtsausdruck jede neue Serie. Unzufrieden schickt sie ihn dann zum nächsten Versuch wieder zurück. Ich schaue mir das Ereignis fünf Minuten an, bevor ich lächelnd auch ein Foto von ihr in meine Sammlung aufnehme.
Nach einer halben Stunde haben wir genug und verlassen auf dem kürzesten Weg den Palast, um in einem sehr schönen Café in der Nähe ein Stündchen auf der Dachterrasse zu verbringen. Wieder einmal bin ich dankbar, dass mich die Menschen und somit die touristisch nicht so interessanten Wohngebiete weit mehr anziehen als die Top Locations, die dann von Besuchermengen erstickt werden.
Am Abend gehen wir ins Poko, ein japanisch-asiatisches Fusionlokal. Bevor wir morgen in den Hohen Atlas fahren haben wir noch einmal die Chance auf etwas anderes als Tajine, Couscous oder Fleischspieße. Im recht wohlhabenden Stadtviertel Guéliz laufen wir noch eine Runde und trinken einen Nousnous in einem Ecklokal. Hier sind die Frauen modischer und teurer gekleidet. Sie verzichten auch deutlich häufiger auf eine Kopfbedeckung. Der gesamte Lifestyle ist westlicher geprägt. Wir sind um sieben Uhr die ersten Gäste im Restaurant. Langsam füllen sich die Plätze während wir unsere leckeren Speisen nach und nach serviert bekommen. Der Hitze angepasst spielt sich das Leben vielfach erst am späteren Abend ab. Selbst kleine Kinder sind um Mitternacht noch spielend auf der Straße anzutreffen. Verständlich, selbst Hitze gewohnte Berber werden bei Temperaturen jenseits der 35°C träger. Mit köstlichem Dessert beenden wir unseren Ausflug in das reiche Stadtviertel und lassen uns von einem Taxi zurück in die Medina fahren. Hier wohnen die ärmeren und damit auch oft dem Traditionellem eher verbundenen Menschen. Die Medina als Wohnort ist unterentwickelt, oft noch ohne fließendes Wasser oder sanitäre Einrichtungen. Wer es sich leisten kann zieht in einen der Wohnblocks außerhalb der Altstadt. Luftiger, bequemer und alltagsfreundlicher lebt es sich dort, auch wenn dadurch die alten Familienstrukturen teilweise zerbrechen.
Wir haben unser Auto in Empfang genommen und brechen auf unsere achttägige Rundreise durch den Hohen Atlas auf. Langsam entkommen wir dem städtischen Verkehrschaos und sehen die ersten Bergrücken vor uns auftauchen. Schon etwa fünfzig Kilometer von der Stadt entfernt erhebt sich das Gebirge. Von meinem letzten Besuch habe ich noch sehr gut den Ausblick auf schneebedeckte Bergkuppen von der Dachterrasse unseres Riads in Erinnerung. Nun liegen die schroffen Flanken und Spitzen in Braun- und Rosatönen vor uns und wir beginnen den erstaunlich durchzugskräftigen Dacia Sandero die Höhen hinaufzuquälen. Die Straßen sind in perfektem Zustand, ein paar kleinere Bauarbeiten zwischendurch, ansonsten geht es zügig voran. Nach zwei Stunden winkt uns ein Mann an den Straßenrand. Wir halten und er erklärt uns, dass sein Wagen repariert werden muss. Ob wir einem Verwandten von ihm eine Nachricht überbringen könnten, damit sein Onkel, der Mechaniker, ihn anschließend abschleppen kommt. Natürlich denken wir an alle erdenklichen Tricks, aber die Geschichte erscheint glaubhaft, als er auch noch erklärt, sein Handy funktioniere hier in den Bergen nicht. So fahren wir mit einer aufgezeichneten Wegbeschreibung und einem kleinen Text in arabischer Sprache weiter. Wir biegen auf unserem Weg noch ab nach Aït Ben-Haddou, einer UNESCO-Welterbestätte. Meine Erwartungen bezüglich der Zahlen der Besucher werden bei weitem übertroffen. Dutzende Reisebusse stehen am Straßenrand, zusätzlich noch einmal mehr Mercedes Vito und Dacia Lodgy Taxen.
Wir begnügen uns mit einem Blick aus der Entfernung und reisen direkt weiter nach Quarzazate. Mit unserer Beschreibung finden wir tatsächlich Abdullah und überbringen die Nachricht. Natürlich kommen wir nicht um den obligatorischen Minztee herum und sitzen in einem von außen unscheinbaren Haus nun in einem großen Wohnzimmer mit hohen Decken. Abdullah bereitet in der Küche den Tee zu, während wir uns umschauen. Hier wohnt ein offensichtlich wohlhabender Mann: Die Terrazzoböden sind in der Mitte mit geometrischen Mustern und Windrosen geschmückt, die Decken haben eingefärbten Stuck und die zahlreichen Räume sind alle von angenehmer Größe. Wir trinken zusammen unseren Tee, während Abdullah uns von seinem Leben als Händler erzählt. Ursprünglich aus Timbuktu in Mali stammend, lebt er schon seit Jahrzehnten in Marokko.
Sein Vater, auch schon ein Händler, hatte in den 1960er Jahren das Haus gekauft. Er zeigt uns Bilder von Karawanen und Familie. Abdullah ist im typischen blau der Touareg prachtvoll gekleidet. Angeblich zieht er noch immer hin und wieder mit mehr als hundert Kamelen drei Monate durch die Wüste nach Mali und mit Waren wieder zurück. Er führt uns durch seine repräsentativen Lager mit edlem Schmuck, feinen Teppichen, bunter Kleidung und weiteren Waren. Das ganze Haus ist über 400qm groß und kommt uns ein wenig wie aus 1001 Nacht vor. Esther wird fast schwach, als Abdullah ihr ein paar Teppiche ausbreitet. Wolfgang ermahnt mehrmals, Abdullah lässt den Händler aufblitzen, aber schließlich schaffen wir es doch aufzubrechen. Wir fragen uns auch jetzt noch, ob das ganze eine geplante Finte war, kommen jedoch zu der Entscheidung, dass es eine viel zu komplizierte Geschichte mit geringen Erfolgsaussichten wäre. Zumindest für uns war es aber weitaus spannender als mit Reisebusladungen voll Touristen durch überquellende Ruinengassen zu ziehen.
An zwei Abenden hintereinander gehen heftige, aber kurze Gewitter über Agzd nieder. Nachdem wir am Vormittag noch eine zehn Kilometer Wanderung durch stickig-stechende 33°C unternommen haben, entleeren sich nun die Wolken, von minutenlangem krachendem Donner begleitet. Nachdem Esther und ich schon einen Tisch und einige Kissen beiseite geräumt haben, kommt auch Achmed langsam in die Gänge und räumt den Rest in den überdachten Bereich.
Seit sieben Jahren mangelt es extrem an Niederschlag. In der Palmeraie haben wir einige Grundstücke mit vertrockneten Palmen gesehen. Nur für die Parzellen der noch hier wohnenden Familien ist genug Wasser da. Wir sehen auch nur wenige, meistens mit Mais bestellte Felder, der Großteil liegt brach. Achmed erzählt uns, dass es durchschnittlich nur drei Tage im Jahr regnet. Das Wasser für die Palmeraie kommt hauptsächlich nicht direkt aus dem Himmel, sondern aus den Bergen über den Wadi Draa oder aus uralten Brunnen. Wir haben auf unserem Weg Frauen mit ihren Gefäßen am Brunnen gesehen. Ein Schwätzchen haltend zogen sie immer wieder ihren leuchtend orangen Plastikeimer an einem langen Seil hinauf. Der Brunnen als sozialer Frauentreff zum Austausch von Neuigkeiten.
Da es im Ort keine Oberflächenwasserkanalisation gibt, steht das Wasser schnell in den Straßen und hinterlässt beim abfließen braunen Schlamm und große Pfützen. In unserem Riad ist es Frauensache, das Wasser mit einem Abzieher in die Schranken zu weisen. Achmed schaut auf dem Stuhl sitzend interessiert zu...
Nach dem Frühstück packen wir, um uns weiter Richtung N´kob zu bewegen. Vorher lerne ich aber noch Muhammad kennen, einen Freund von Achmed. Er arbeitet als Apotheker in Agzd. Über Erasmus Programme war er schon in Hamburg, Oslo und dreimal in Spanien. Im nächsten Jahr geht es nach Dresden. Ich hoffe, er läuft dort nicht den braunen Genossen über den Weg! Hier hilft er eine deutsch-polnische Erasmus Gruppe in den nächsten Wochen zu führen und bespricht mit Achmed die Übernachtungen. Immer wieder treffen wir Marokkaner, die über Stiftungsprogramme Europa besuchen. Erasmus, eine schöne Art Europa zu verbinden und Europa Nichteuropäern nahezubringen.
Nach kurzer Fahrt stoppt uns ein älterer Mann. Sein Auto ist liegengeblieben. Wir warten auf den Rest unserer gestern schon gehörten Geschichte, der zum Glück aber nicht erzählt wird. Wir nehmen ihn mit ins nächste Dorf, wo er versuchen will jemanden für die Reparatur zu finden. Er arbeitet als Restaurateur in der gestern besichtigten Kasbah. Auch er war durch ein Lernprogramm für Lehmbau schon in Stuttgart und am Bodensee. Ich habe gelesen, das eine deutsche Gesellschaft für Lehmbau am Wiederaufbau der Kasbah beteiligt ist und so fallen hier ein paar Puzzleteile zusammen.
N´kob ist die positive Überraschung unter den Städten. Jede Menge renovierte Kasbahs, freundliche Cafés und ein fast durchgehend angenehmes Stadtbild machen ihren Reiz aus. In unseren zwei Tagen wandern Wolfgang und ich mehrmals durch die engen Gassen. Unten am Fluss liegt eine ausgedehnte Palmeraie, darüber wirkt die Stadt abseits der Hauptstraßen ein wenig wie aus 1001 Nacht. Viele Lehmburgen sind hier restauriert worden. Wir sind in einer von ihnen einquartiert und werden von Aisha bestens umsorgt. Sie bekocht uns lecker und abwechslungsreich, wenn auch mit Mengen, die durchaus eine Busladung sättigen würde. Von der Dachterrasse aus ist der Blick bei Sonnenuntergang berauschend. Die Lehmwände scheinen orange zu glühen und ergänzen die kahlen Bergflanken zu traumhafter Kulisse.
Schon um halb acht sind wir mit Brahim verabredet der uns heute auf einer Wanderung führen wird. Wir kaufen zusammen noch Obst und Wasser ein, bevor wir mit dem Auto losfahren. Schon beim aussteigen sehen wir das Ziel unserer Wanderung, Bab n´Ali, eine auffällige Felsformation, in der Entfernung. Uns wird erzählt, dass die Sage von einem unartigen Jungen Ali handelt, der sein Essen mit Urin verunreinigte und dafür von Gott versteinert wurde und seinen Eltern, die wegen schlechter Erziehung ebenfalls zu Stein erstarrten. Eigentlich haben die Felsformationen keine Sage nötig, sie sind auch so beeindruckend genug. Aber in dieser reizarmen Gegend sind Geschichten ein Teil des oralen Erbes. Wir kraxeln auf Steinen über einen flachen Fluss und gehen an einfachen Farmhäusern mit kläffenden Hunden vorbei stetig bergan. Das Terrain wechselt von Piste zu steinigen Passagen und langsam beginnt der Schweiß mein T-Shirt dunkler zu färben. Eine Agame sitzt auf einem Stein und beobachtet uns. Nach eineinhalb Stunden sind wir bei der Formation der Eltern angekommen und wandern um sie herum zur noch schattigen Rückseite. Meinem Kreislauf ist die längere Pause Recht, ich habe auf den letzten Metern hierher ein leichtes Schwindelgefühl gehabt. Jeder isst ein Stück Obst und wir schauen uns die grandiosen, nach oben strebenden runden Blöcke an.
Nach der Pause geht es noch weiter bergan zu einem schönen Aussichtspunkt inmitten der Felsblöcke, bevor wir den Rückweg antreten. Die Regenfälle der letzten Woche waren die ersten seit fast sieben Jahren in dieser Gegend. Brahim erzählt uns, dass die Menschen nicht mehr als ein Jahr länger hätten durchhalten können. Schon jetzt war das Wasser vom Amt auf zwei Stunden täglich reduziert. Da auch der Schnee im letzten Winter nur spärlich gefallen ist war die Lage inzwischen mehr als brenzlig. Nun sehen wir im teils tief eingegrabenen Flussbett in jeder Wasserlache kleine Kaulquappen schwimmen. Ein wahrlich bizarres Bild in diesem wüstenartigen Gebiet! Am Fluss waschen Frauen Staub und Dreck aus ihrer Wäsche.
Zurück am Auto lädt uns Brahim zu sich nach Hause ein und möchte zusammen mit Mutter und Schwester für uns kochen. Wir halten noch an drei Geschäften und kaufen ein paar Süßigkeiten, Brotfladen und ein wenig Hühnerfleisch als Geschenk ein. Vom Teer geht es über ein Stück Piste und vorbei an ein paar Nachbarhäusern bis zu Brahims Zuhause. Mutter und Schwester hocken vor der Tür und erwarten uns. Wir parken und schaffen unsere Einkäufe ins Haus. Im Grunde ist es ein erweiterter Rohbau. Da der Bruder mit seiner Ehefrau nun das alte Haus bewohnt, haben Brahim, Schwester und Mutter vor sechs Jahren dieses angefangen zu bauen. Es gibt außer einem riesigen Kühlschrank und einem kleinen runden Couchtisch nur wenige Teppiche und ein paar Kissen. Wir machen es uns gemütlich, während die Familie anfängt zu kochen. Wir fragen, ob Hilfe gebraucht wird, aber wir sind die Gäste und so dösen wir ein wenig vor uns hin bis zuerst der Tee mit Nüssen und Keksen, danach der landestypische Salat und als Hauptgang eine köstliche Tajine serviert werden. Zum Abschluss gibt es noch frisches Obst.
Nur Brahim isst mit uns, seine Mutter hockt sich ein wenig zu uns und erzählt auch ein bisschen, die Schwester bleibt unsichtbar. Wir fragen Brahim ein wenig nach seiner Beziehung aus, da er uns während der Wanderung ein Video seines sieben Monate alten Sohnes gezeigt hat. Über Instagram hat er seine Ehefrau kennengelernt. Ein Jahr wurde hin- und hergeschrieben, bevor sie sich dann in Marrakesch getroffen und wenig später geheiratet haben. Da seine Frau Australierin ist und in Sydney lebt, haben sie sich seitdem nicht wiedergesehen. Auch seinen Sohn kennt er nur von Videos. Seit einiger Zeit versucht er eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, bisher allerdings erfolglos. Wir reden darüber, dass in früheren Zeiten die Väter ihre Kinder verhandelt und die Eheleute oft vor der Hochzeit kein Wort miteinander gesprochen haben. Nun heiraten Menschen, nachdem sie sich auf digitalen Plattformen nähergekommen sind und eine Christin aus einer Metropole an einem Ende der Welt kommt so an einen Muslim vom anderen Ende der Welt. Vielleicht sollten wir einmal eine ganze Generation mischen, damit der Blödsinn mit Rasse und Nation ein für alle Mal beendet wird? Wahrscheinlich würde sich dann ein anderer Grund für Ausgrenzung und Erniedrigung finden. Brahim ist ein interessanter und aufgeschlossener Gesprächspartner und seine Mutter hat einen wunderbar offenen Blick. Ich frage ihn, wie sie mit der Situation zurechtkommt, dass ihr jüngerer Sohn wahrscheinlich bald nicht mehr präsent ist. Lachend erwidert er, dass ja noch ein Bruder und sechs Schwestern mit ihren Kindern in der Nähe wohnen. So ist seine Mutter auch schon zwölffache Großmutter. Wir möchten langsam aufbrechen, schauen uns vorher aber noch Haus, Hof und Ziegen im Stall an. Dann umarmen wir herzlich Brahims Mutter und nehmen ihn noch mit in die Stadt, wo er einen Freund treffen und nachher im Café an der Tankstelle Champions League schauen möchte. Europäischer Klubfußball steht bei Marokkos Männern hoch im Kurs. Fast jeden Abend sind die Cafés voll von den Ball verfolgende Männern. Die Frauen und Jugendlichen sitzen währenddessen draußen auf den Mäuerchen und unterhalten sich miteinander.
Abermals stehen wir recht früh auf, da uns eine lange Autofahrt durch das Gebirge bevorsteht. Wir nehmen Abschied von Aisha, die uns bestens umsorgt hat, und fahren über das Saghro Gebirge Richtung Aït Bourgumes. Schon nach einer halben Stunde halten wir das erste Mal, weil der Ausblick über die in verschiedenen Braun- und Grautönen vor uns liegenden Bergketten uns überwältigt. Immer tiefer geht es nun zwischen die Gebirgsketten und immer höher werden die Pässe. Am frühen Nachmittag überqueren wir den dreitausend Meter hohen Col de Tizi N´Ait Hmed.
Die Gegend wird immer einsamer, wir begegnen kaum Fahrzeugen, eher Maultieren mit ihren Führern. Es gibt auch keine Läden, Tankstellen oder Restaurants mehr. Das einzige, das wir auf dem Weg sehen, ist geschlossen. Aber der Dorffunk funktioniert, und es kommt ein jüngeres Paar und öffnet für uns. Karte gibt es keine, dafür Essen. Der Preis liegt hier noch bei einem Drittel des bisher gezahlten. Die Inneneinrichtung ist auch nicht die eines Restaurants, sondern die eines Wohnzimmers mit dem riesigen Sofa an drei Wänden entlang und einem langen Couchtisch dazwischen. Als wir uns verabschieden steht schon ein Mann bereit und wir werden gefragt, ob wir ihn mitnehmen könnten. Hier gibt es auch keine Buslinien mehr, hin und wieder fährt ein alter Mercedes Kastenwagen die Dörfer entlang. Natürlich sagen wir zu. So sitzen wir für die nächsten zwei Stunden zu viert im Auto. Leider spricht unser schüchterner Gast kein Wort französisch geschweige denn einer anderen Sprache außer berberisch. Die Straße verschlechtert sich zusehends und wird schließlich zur steinigen Piste. Einmal fahren wir uns fest und kommen erst nachdem die drei anderen ausgestiegen sind und ich bis auf festeren Grund zurückgerollt bin, nach zwei Versuchen weiter.
Ein auf dem Motorrad fahrender Vater mit seinem Sohn möchte gerne helfen, aber wir schaffen es aus eigener Kraft. Kurz danach begegnen wir einem Paar auf Mulis mit zwei Packtieren an der Leine. Da wir auf dem Pass anhalten, überholen sie uns kurze Zeit später wieder und biegen dann nach links in den Geröllhang ein. Im Zickzack führt ihr Weg steil hinab ins grüne Tal wo wir drei Ansiedlungen ausmachen können. Erstaunlich, was die Tiere noch begehen können. Zu Fuß würden wir Menschen hier nur noch rutschend hinabkommen. Nach acht Stunden Fahrt haben wir die zweihundertdreißig Kilometer geschafft und sind froh, ein Bett für die Nacht zu haben.
Schon am Abend fängt mein Magen an zu grummeln und so verbringe ich die nächsten zwei Tage statt wandernd leider auf Toilette und im Bett. Auch Wolfgang hat das Mittagessen nicht besonders gut vertragen. Wir sind froh am dritten Tag die Reise vom Gebirge nach Marrakesch einigermaßen gut hinter uns zu bringen. Kein rühmlicher Abschied von einem kontrastreichen Land. Teilweise entwaffnende Offenheit, gute Gespräche und herzliche Gastfreundschaft haben unsere Ausflüge ins Gebirge geprägt. Marrakesch ist interessant, aber eben eine Großstadt, in der die große Mehrheit der Bevölkerung zum überleben strampeln muss. Hier ist der Kontakt schwieriger, aber auch in den Gassen waren die Reaktionen überwiegend freundlich. Die landschaftliche Schönheit auf der einen und die menschenfressende Kargheit auf der anderen Seite haben uns in ihren Bann gezogen. Das archaische Leben der Dörfer gepaart mit moderner Informationstechnik sorgt immer wieder für bizarre Bilder. Voller Impressionen kehre ich einmal mehr dem Land meinen Rücken zu, bin mir aber sicher, in nicht allzu weiter Zukunft einen weiteren Blick erhaschen zu wollen.