Das erste Gefühl von Freude und Freiheit kommt nach dem Verlassen des Flughafens Tan-Son-Nhat mit der Taxifahrt ins Zentrum von Ho Chi Minh City, dem ehemaligen Saigon, auf. Unfassbare Mengen von Motorrollern schlängeln sich überall an den Autos vorbei. Wer einen Zentimeter vorne ist schaut nicht mehr viel nach hinten. Es wird so eng gefahren, dass uns beim Zuschauen öfters der Atem stockt. Ob mit Hund oder ganzer Familie, umgebaut als fahrender Laden oder schwerstbeladen mit einem Dutzend Säcken Eis, der Roller ist das Hauptverkehrsmittel des Individualverkehrs. Laut der Schätzung eines Bewohners sind es sechs Millionen im Großraum Saigon. An den roten Ampeln versammeln sie sich, einem Schwarm gleich, um dann mit anschwellendem Motorenlärm bei grün wieder loszupreschen, immer auf jeden kleinen Platzvorteil im täglichen Kampf auf den Straßen der Stadt bedacht. Oft geht es immer noch über den Bürgersteig weiter nach vorne, wenn eigentlich alles schon zugestellt ist. Unser Taxifahrer fährt uns ruhig und abgeklärt bis vor unser Hotel. Eddys Angst vor der Überquerung der Straße erweist sich als unbegründet, da wir kurz vor unserem Ziel noch von einer der Hauptstraßen in eine weniger befahrene Nebenstraße abbiegen.
Wir checken ein, Eddy und Tomm ziehen in ihr Zimmer und werfen erst einmal mit ihren Klamotten um sich, Anke und ich richten unseren Raum ein wenig ein. Nach dem Duschen treffen wir uns vor dem Eingang des Hotels und gehen in der Nähe noch sehr gut essen. Dem Restaurant angegliedert ist ein vom Hinterhof abgehender Club. Junge Paare werden vom Taxi hier angeliefert und verschwinden schön herausgeputzt in dessen Räumlichkeiten. Es ist Freitagnacht, Zeit zu feiern in der großen Stadt! Lange nach Mitternacht drehen wir noch eine letzte Runde um den Block, bevor wir uns nach fast dreißigstündiger Reise in unsere Betten zurückziehen. Ich bekomme, schon fast einschlafend, eine WhatsApp von Tuan unserem nächsten Gastgeber. Er kennt jemanden, der morgen von Ho Chi Minh City zu seinem Guesthouse in der Nähe von Can Tho fährt. Das erspart uns einiges an Zeit und Gehassel, so dass ich direkt freudig zusage, als er unser Hotel um drei Uhr am nächsten Nachmittag als Treffpunkt vorschlägt. Endlich kann ich mich dann den ersten vietnamesischen Träumen überlassen.
Da wir Geld tauschen müssen, die Familie aber noch schlafen möchte und ich schon seit sechs Uhr wach bin, gehe ich mit Kamera und Euros auf einen frühen Spaziergang. Die Stadt ist bereits überaus lebendig, Geräusche und Gerüche allerorten. Schnell lerne ich durch die Verkehrsflut zu manövrieren, passe mich dem Puls der Stadt an. Jede Ecke bringt neue Bilder. Auf ihren kleinen Plastikstühlen sitzend verzehren jung und alt alles, was die Garküchen verkaufen. Es wird gekaut, geschlürft und geschluckt, während das tägliche Allerlei besprochen wird.
Im nahegelegenen Park sind sämtliche Fitnessgeräte von Rentnern belegt, die hier ihre täglichen Übungen absolvieren. Auf dem Bürgersteig sitzend fällt mir eine Gruppe schon Bier und Schnaps trinkender Menschen auf. Drei von den fünfen tragen die Uniformen der omnipräsenten privaten Wachleute. Wahrscheinlich kommen sie von ihrer Nachtschicht und sozialisieren sich nun mit einem deutlich angetrunkenen Paar. Ich bekomme die Erlaubnis zu fotografieren, aber die Frau möchte am Schluss gerne Geld von mir haben. Ich bin bereit einen Dollar zu geben, sie möchte fünf. Da ich nur einen zwanzig Dollar Schein habe, will ich später wiederkommen. Sie sagt, dass sie wechseln könne. Dafür müsse sie aber mit meinem Schein irgendwo hingehen. Darauf möchte ich mich nicht einlassen und erkläre, dass ich nach dem Geld wechseln ihnen einen Dollar vorbeibringen werde.
Ich ziehe weiter, fasziniert von der Dichte des Geschehens. In einem kleinen Reisebüro frage ich nach einer Wechselstube. Der Inhaber erklärt mir den Weg zu einem Juwelier in der Nähe. Das die Goldstuben die besten Kurse geben, habe ich auch schon im Internet gelesen. Ich tausche dreihundert Euro in vietnamesische Dong und mache mich auf den Weg, um meine Schulden zu zahlen. Als ich nach etwas Längerem suchen meine Gruppe wiederfinde, ist nur noch das Paar da. Er uriniert gerade in die Rabatten hinter ihrem Sitzplatz. Ich gebe ihr einen Schein, verabschiede mich und möchte gerade die Straßenseite wechseln, als ich noch einmal zurückgerufen werde. Sie gibt mir den Schein zurück, ihr Mann möchte kein Geld annehmen. Ich bin perplex, bedanke mich und gehe nachdenklich weiter. Es ist schön, wenn das Weltbild immer wieder einmal einen kleinen Knick bekommt.
Um kurz vor drei parkt Tuan vor dem Hotel. Wir packen unser Gepäck in den Kofferraum und starten Richtung Can Tho und Mekong Delta. Auf den knapp vier Stunden erzählt er mir, wie er nach verschiedenen Jobs von Speedbootfahrer bis Englischlehrer an einer weiterführenden Schule mit dem Aufbau seiner Boutique Lodge noch einmal durchgestartet ist. Leider kam ihm dann, wie so vielen anderen, die Pandemiezeit dazwischen und er musste zur Bedienung seiner Bankschulden ein weiteres Darlehen aufnehmen, um damit das erste bedienen zu können. An staatlichen Hilfen hat er achtzig Euro in zwei Jahren bekommen. Ein drittes Darlehen nahm er auf, weil er sich mit einem Swimmingpool größere Anziehungskraft versprach. Jetzt beginnt das Geschäft wieder zu laufen und er spürt nach diesen verrückten Jahren langsam wieder Boden unter den Füßen, auch wenn die Gäste noch nicht so zahlreich wie vor der Pandemie anreisen.
Wir dösen abwechselnd im Auto vor uns hin, unterbrochen nur von ein paar interessanten Aussichten über das flache Land, kurzen Gesprächen mit dem Fahrer und einer längeren Pause in einem riesigen Rasthof, der neben der Größe vor allem durch seine zahlreichen blaugekachelten flachen Fischbecken bei den Besuchern punktet. Meterlange grünschimmernde Fische schwimmen in manchen der Becken. Sie sind nur als Zierde, nicht zum Verzehr gedacht. Ich bekomme einen viel zu süßen kalten Kaffee mit Kondensmilch, den ich nach einigen Schlucken heimlich entsorge. Erst in der Dunkelheit erreichen wir die Lodge.
Während wir den Swimming Pool genießen, wird der Plastikweihnachtbaum gebracht und mit tüchtig Lametta geschmückt. Später dann die Karaoke Anlage geliefert und aufgebaut, heute ist Heiligabend und es wird gefeiert. Der Anfang ist schüchtern, Tuan legt mit guter Stimme vor, wir anderen mögen noch nicht recht folgen. Die ersten zwei von noch mehreren Flaschen Schnaps kommen auf den Tisch und langsam wagen wir zehn Gäste uns vor. Anke und ich geben Eric Claptons „Wonderful Tonight“ nicht ganz zum Besten. Ein Gast aus Dänemark entpuppt sich als wahrer Shouter, eine Melodie kann er nicht halten. Trotzdem wird er der Antreiber des Abends und hält noch bis in die Nacht hinein am Mikro fest.
Gegen zwei Uhr kehrt Ruhe ein, so schlafe ich wenigstens noch drei Stunden bevor wir aufstehen und zum schwimmenden Markt von Cai Rang mit Tuans Boot starten. Es ist wunderbar, mit der Dämmerung zuerst über den Seitenarm und dann über den Can Tho zu schippern. Alle möglichen unfassbaren Wasserfahrzeuge begegnen uns. Der Markt ist in der Dunkelheit am aktivsten, aber auch jetzt sind noch eine Menge Boote vor Ort. Hierher kommen die Bauern mit ihrer Ernte, um einen Zwischenhändler zu finden, der die Ware dann im Land verteilt. Viele von ihnen leben auf ihren Kähnen, sie haben von Küche bis W-Lan alles an Bord. Jedes Boot hat an einer langen, senkrecht stehenden Stange das Obst oder Gemüse aufgespießt, das an den Mann gebracht werden soll.
Tuan erzählt, dass es früher hier nur Tauschhandel gab und dass sich der Markt seit seiner Jugend stark gewandelt hat. Durch Corona und den damit einhergehenden behördlichen Bestimmungen ist heute nur noch ein Bruchteil der früher anwesenden Farmer hier. Immer mehr wird die Ernte direkt vor Ort verkauft und die Anfahrt für die Bauern entfällt. Mit den kleiner werdenden Märkten ist aber auch die Geschäftsgrundlage der Gästehäuser bedroht. Die schwimmenden Märkte sind der Hauptgrund für den Aufenthalt der Touristen. Auch unser kleines Gästehaus mit nur fünf Zimmern ist darauf ausgelegt. Zehn Gäste können gleichzeitig hier wohnen, genauso viele wie auch auf dem Boot Platz haben.
Wir fahren weiter zu einem Markt auf dem Festland. Hier kaufen die Endkunden ein und Tuan lässt uns aussuchen, was heute für das Abendessen zubereitet wird. Er kauft dazu immer etwas, dass die Gäste noch nie probiert haben. Gestern Abend waren es panierter Frosch und Durian, bei uns unter dem Namen Stinkefrucht berühmt-berüchtigt. Auch Aal war für den einen oder anderen kulinarisches Neuland.
Heute wird vor unseren Augen einer Wasserschlange der Garaus gemacht. Ein langer Schnitt in Längsrichtung, die Entnahme der Innereien und schon bekommen wir das Reptil in einer Plastiktüte gereicht. Ich denke daran, dass angenommen wird, Corona sei auf den Wildtiermärkten in China entstanden. Die Nähe und Enge, dass unmögliche Einhalten ausreichender Hygienemaßnahmen, sind ein ständiger Gefahrenherd für das Entstehen einer weiteren Pandemie.
Der Markt ist jenseits des Gemüse- und Obstsektors nichts für schwache Nerven. Fische werden gekeult, Frösche liegen verschnürt in Viererpacks zusammen, Enten werden mit Klebeband am entkommen gehindert. Für unsere Kinder ist es ein frühmorgendlicher Einstieg in eine Realität, die sie aus Metzgerei und Supermarkt nicht kennen. Eddy ist sehr interessiert, Tomm sieht etwas blass aus. Ich fotografiere und unterhalte mich durch Lächeln, Bedanken und Zeichensprache mit den Marktteilnehmern. Tuan erklärt uns vieles und beantwortet alle Fragen.
Der Landmarkt ist für uns deutlich spektakulärer als der zu Wasser. Die beachtliche Vielfalt an Obst und Gemüse, von denen wir einiges noch nie gesehen haben, die bunte Kleidung der Marktfrauen, das Wuselige Geschehen aus Motorrollern, Fahrrädern und Fußgängern, der teilweise abstoßend abgestumpfte Umgang mit den Tieren. All das ist eine permanente Überlastung der Sinne, aber eben auch eine Erfahrung, die ich besonders den Kindern mit auf den Weg geben möchte. Mein Vater ist immer mit uns gereist, nicht um die Welt, dafür aber in die meisten europäischen Länder. Daraus habe ich viel gezogen, mein Wissen später für meine eigenen Reisen genutzt und ausgebaut. Es freut mich zu sehen, mit welcher Offenheit die beiden Jungen mit neuen, manchmal auch verstörenden Situationen umgehen. Wir versuchen die Situationen zu verstehen, die Motivation dahinter zu erörtern. Natürlich sind wir nicht hocherfreut über alles, aber es ist eine weltweite Wahrheit, unser Umgang mit der Kreatur ist der des schlimmsten Raubtiers.
Auf dem Rückweg halten wir noch einmal am schwimmenden Markt und bekommen von einem der Boote eine köstliche Nudelsuppe gereicht. Tuan packt saftig-süße Mangos und aromatische Babybananen aus. Wir genießen unser Frühstück, bevor wir müde und voller Bilder über den Fluss zurückfahren.
Am Mittag treffen Antoine und Susanne ein. Die beiden leben in Malis Hauptstadt Bamako, Susanne stammt aus Hamburg. Zusammen mit den beiden unternehmen wir noch eine mehrstündige Bootstour über die Nebenarme des Can Tho. Ich bin erstaunt, wie viele Menschen an den Ufern wohnen. Langsam erklären sich mir die achtzehn Millionen Einwohner des Deltas. Auffallend ist auch hier einmal mehr die Mengen an Plastikmüll, aufgeschäumte Verpackungen schwimmen als Schiffchen übers Wasser, jede Art von Behältnis säumt den Uferstreifen oder hängt in den zahlreich vorbeitreibenden Wasserpflanzen fest. An beiden Seiten des Flusses gibt es Straßen und, Perlen gleich, ziehen sich daran die Häuser und Hütten entlang.
Kleine improvisierte Brücken aus Bambus stellen wackelige Verbindungen zwischen den Ufern her. Hin und wieder sitzt jemand im braunen Wasser, zum Waschen oder aus anderen Gründen. Eimer an längeren Leinen fliegen aus den Behausungen, um Wasser hochzuziehen. Ein Schnitt an zwei Seiten im Wellblech dient als Fensteröffnung, mit einem Stock hochgestellt zur Lüftung. An einer Stelle sehen wir vor lauter Pflanzen kaum noch Wasser. Des Öfteren wird der an einer langen Stange befestigte Propeller hochgestellt, damit die eingesammelten Gräser und Wurzeln entfernt werden. Hier fahren wir uns nun endgültig fest, selbst mehrere Versuche rückwärts und wieder vorwärtszufahren misslingen. Letztendlich legen wir an einem Steg an und warten bis die Strömung unseren Weg wieder frei spült.
Vor uns erscheint ein Bagger, im Wasser stehend. Zwei Arbeiter graben den Schlamm aus dem Fluss, damit die Boote weiterhin passieren können. Er wird dann am Ufer abgelegt und bestimmt von dort als Dünger auf die Felder weiterverfrachtet.
Immer wieder winken uns Kinder, aber auch Erwachsene lächelnd zu. Eddy philosophiert über das Kindsein in dieser Gegend und stellt sich die Situation recht angenehm vor. Ich weiß, was er meint, meine Jugend war noch ähnlich von den äußeren Merkmalen bestimmt. Alle Kinder unserer Gegend waren jeden Tag draußen spielend. Mit Einbruch der Dämmerung legen wir wieder am heimischen Steg an und bereiten uns auf die unbekannten Speisen des Abends vor.
Das Essen wird wieder gemeinsam am großen Tisch eingenommen. Susanne und Antoine sind Vegetarier. Für sie ist Tuan am Morgen noch einmal aus dem Boot ausgestiegen und hat einen größeren Brocken Tofu gekauft. Nach dem Essen bleiben Tuan, die beiden, Anke und ich noch am Tisch sitzen. Tuan versucht wieder sein „Happy Wasser“, selbstgebrannten Reisschnaps, uns näherzubringen. Antoine und Susanne erklären sich zum Probieren bereit. Während die beiden an ihren großzügig aus der Plastikflasche eingeschenkten selbstgebrannten Schnäpse probieren, beginnt Tuan sein Seemannsgarn zu spinnen: Die Fermentierung des Schnaps erfolgt durch den Zusatz einer Ratte. Zuerst hat er die mit einer Lebendfalle gefangen, dann an der Tischkante erschlagen und mit Haut und Haar ins Fass geworfen. Durch das aus dem Maul quellende Blut ist dann die herrlich honigfarbene Färbung entstanden. Erst lachen wir alle, aber Tuan ist so ernst, bleibt felsenfest bei seiner Erzählung, dass unser Lachen langsam versiegt und wir anfangen die Geschichte zu glauben. Damit wir ihm auch wirklich auf den Leim gehen erzählt er noch, dass er die Fermentierung normalerweise mit einer Schlange einleitet, dass Ratte aber geschmacklich speziell gut wäre. So richtig fehlt uns noch immer der Glaube, aber Susanne fängt an zu fragen, wie er so eine gute Bewertung auf Booking.com bekommen konnte, wenn er seinen vegetarischen Gästen so etwas vorsetzt. Richtig auflösen wird er die Geschichte den ganzen Abend nicht, aber es ist ihm anzusehen, dass es sich um eine Räuberpistole handelt. Tuan ist ein intelligenter und lustiger Gastgeber, die ganze Familie genießt den Aufenthalt in dieser Oase.
Später am Abend erzählt er noch die Geschichte von seiner Arthritis geplagten Mutter, die zusammen mit ihrem Mann und der Tochter in Minnesota lebt. Ihre Schmerzen waren so groß geworden, dass sie sich kein Hemd mehr überziehen konnte. Westliche Medizin war für sie im ganzen Leben keine Alternative. Als Tuan einem Freund von ihren Problemen erzählte, nahm der ihn mit zu seinem Vater.
Den Hausaltar zierte die Abbildung einer Viper und der Vater erzählte Tuan davon, wie getrocknete und pulverisierte Viper ihn von der Arthritis befreit habe. Durch einen an der Grenze zu Kambodscha lebenden Freund besorgte sich Tuan fünfundzwanzig lebende Vipern, die er nach dem Töten und Ausnehmen über Stunden bei kleiner Temperatur eingekocht hat, um sie danach in kleinste Teile geschnitten zum Trocknen in die Sonne zu legen. Schließlich wurden die völlig eingeschrumpften und trockenen Reste mit dem Mörser zu sechshundert Gramm Pulver verarbeitet.
Da die Post seine Lieferung nicht nach Amerika senden wollte, nahm sein Bruder sie nach seinem Besuch in der Heimat mit nach Minneapolis. Laut Tuans Erzählung trat schon mit der ersten in Wasser aufgelösten Dosis Besserung ein und nach zwei Monaten Viperwasser trinken sei die Mutter völlig genesen. Es gibt halt Dinge zwischen Himmel und Erde, die Bayer und die deutsche Pharmaindustrie nicht erklären können…Bei dieser Geschichte schwört er bei allem, was im heilig ist, dass sie sich so zugetragen habe. Ich nehme sie ihm ab und denke gleichzeitig an die Vietnam-Geschichte mit der Uhr aus Pulp Fiction. Beide von ähnlich guter Qualität, beide mit Verbindung zu Vietnam und den Vereinigten Staaten, in diesem Fall aber heilender Natur.
Um acht Uhr am Morgen steht unser Fahrer bereit, der uns bis zur Grenze nach Hà Tiên fahren wird. Wir verabschieden uns noch von Tuans Familie, steigen ins Auto und los geht es Richtung Kambodscha. Es macht Spaß, durchs Land gefahren zu werden und dabei immer wieder neue Bilder im Kopf entstehen zu sehen. Unser Fahrer ist der jüngere Bruder von Tuan. Er ist nicht gut auf die vietnamesische Regierung zu sprechen, weil er sich wegen der Dienste seines Vaters für die US-Army in den Zeiten des Krieges vor fünfzig Jahren noch immer chancenlos sieht, im Lande Karriere zu machen. Nun wird er in ein paar Monaten wie seine Schwester und die Eltern nach Minnesota auswandern und dort sein Glück suchen. Jahrelang hat er auf seine Aufenthaltserlaubnis warten müssen, jetzt steht der Erteilung nichts mehr im Wege.
Gegen Mittag halten wir nach langen suchen und dem passieren lassen von hundert Cafés, an und genießen bei Tee und Cola den Blick auf den Fluss mit seinen vorbeiziehenden Booten. Alle Möglichkeiten vorher wollte er uns nicht zumuten, anscheinend besorgt, dass uns die Sanitäranlagen und die Küchen überfordern würden.
Schon die Ausreiseformalitäten an der vietnamesischen Grenzstation dauern eine gefühlte Ewigkeit, die Einreise nach Kambodscha aber noch länger. Durch die Umständlichkeit der Zöllner sowie den der Situation zugrundeliegenden Bürokratietiger wird der Vorgang zur Geduldsprobe. Ich bin aber erst einmal froh, dass es ein „Visa on arrival“ gibt. Im Internet hatte ich darüber recht widersprüchliche Auskünfte erhalten. Gegen eine leicht erhöhte Zahlung von fünfunddreißig Dollar statt der offiziellen dreißig und unter Abgabe eines Passbilds sind wir hier dabei. Als wir an der nächsten Station endlich unser Visum in den Pass geklebt und noch vier Stempel drumherum gesetzt bekommen, anschließend bei einem weiteren Beamten Fieber gemessen wird, geht es dann auch noch an der letzten Kontrolle vorbei zur abschließenden Taxidiskussion um den Fahrpreis nach Kampot.
Beim Einladen in den Wagen bemerkt Eddy das Fehlen seines Rucksacks. Er trabt noch einmal durch die letzten zwei Kontrollen zurück, holt sich den Rucksack und erscheint mit erleichtertem Lächeln wieder am Auto. Unser neuer Fahrer lässt den Motor an und bringt uns wortkarg aber sicher nach Kampot. Wir freuen uns, als wir unser Guesthouse erreichen und direkt mit einem köstlich frischen Obstsalat begrüßt werden.
Gegen vier werden meine Träume durchscheinend und immer mehr bricht der Tag über mich herein. Die Boote mit ihren lauten Zweitaktmotoren greifen mich in meinem Traum zuerst noch als feindliche Helikopter an, bevor ich langsam zu mir komme. Ein Heer von hundert Hähnen, angeführt von einem Muezzin, schütteln endgültig den letzten Krummen Schlaf aus meinem Körper. Der Hahnenschrei ganz in der Nähe wird bis in den letzten Winkel von anderen geechot, immer weiter entfernt, bis wieder unser Hahn das Prozedere erneuert. Ich stehe auf aus unserem gemütlichen Bett, packe meine Kamera und das Zusatzakku, bevor ich mich auf einen Spaziergang durch das dörfliche Umland mache. Die Sonne erscheint langsam über dem Horizont, während ich die Dorfstraße entlanggehe. Hier sind mehrere kleine Guesthäuser entstanden, alle luxuriöser als unser aus strohgedeckten Holzhütten bestehendes kleines Paradies. Ein Paradebeispiel für den Weg des Tourismus vom Individualreisenden zum Gruppenreisenden. Ersterer ist fast immer Wegbereiter des Letzteren. Aus dem Fußweg wird die Piste, wird die Straße… Nach den Hotels beginnen die Weiler. Es sind muslimische kleine Enklaven, die hier ihre Heimat gefunden haben.
Eine schöne grüne Moschee im frühen Morgenlicht lässt mich das erste Mal innehalten. Eine roterdige Piste weitergehend komme ich an recht großzügigen Häusern vorbei. Ein kleiner Junge baggert mit seinem Spielzeug im Sand, Männer trinken im Teehaus palavernd ihre erste Tasse. Die Frauen stehen ein paar Meter weiter an den zwei Buden dieser Kreuzung und erledigen Tratsch und Einkauf. Erste Suppenküchen werden für den Verkauf in Kampot geladen. An einer der aus dem dörflichen Leben nicht wegzudenkenden Schmalspurtankstellen wird der Roller einer jungen Frau aus einer Halbliter-Plastikflasche betankt. Das Angebot besteht aus in verschieden große Behältnisse abgefülltes Benzin und dient abseits der großen Straßen als Grundversorgung der zahlreichen Motorroller.
Jede Menge Hühner und auch die schuldigen Hähne laufen zwischen welken Palmblättern und Plastikmüll herum, immer auf der Suche nach Verwertbarem. Die Piste verengt sich, ich trete ein in einen weiteren Weiler. Ein junger Mann füllt Kühlwasser auf, sein Lastwagen ist weit über Oberkante mit großen Paketen beladen. Ich frage mit Zeichensprache nach seiner Ladung. Auf seine Füße zeigend verstehe ich, er hat zig Tausende Plastiklatschen geladen. Weiter nach hinten den Weg durchgehend bereiten Männer und Frauen ein Fest vor. Geschirr wird gewaschen, niedrige Tische aufgestellt, Gemüse gewaschen und geschnitten, während dazwischen die Kinder essen und spielen. Ich fotografiere die Szenerie und porträtiere einzelne.
Einer der älteren Männer bietet mir einen Eiskaffee in dem üblichen Plastikbecher mit dem üblichen Plastikträger daran befestigt an. Ich werde an seinen Tisch gebeten und so sitzen wir Kaffee durch den Strohhalm schlürfend zusammen, lächeln uns an. Meine Versuche herauszufinden, was hier gefeiert wird, ruft einen zweiten Mann herbei. Nach den vergeblichen versuchen einer Konversation packt er sein Handy heraus und zeigt mir Bilder von einem bunten Zusammensein von jung und alt.
Es ist ein religiöses muslimisches Fest. Den Anlass kann ich leider nicht herausfinden. Nach einer Stunde möchte ich wieder aufbrechen, werde von den Männern aber noch eingeladen am Fest teilzunehmen, was ich dankend ablehne, und so verlasse ich händeschüttelnd den Platz. Wie an den meisten Orten der Welt ist die Landbevölkerung auch hier wieder beschämend offen und gastfreundlich. Pink Floyd haben es einmal sehr schön und einfach ausgedrückt: Us, us, us, us and Them, them, them, them. And after all we´re only ordinary men… und auch wenn der Text von anderem berichtet, Leben könnte so einfach sein!
Unser Tuk Tuk-Fahrer steht am späteren Vormittag bereit und so steigen wir, uns auf die luftige Fahrt freuend, ein. Es geht zur Pfefferplantage La Plantation, einer 2014 entstanden, biologisch arbeitenden Farm mit gutem Ruf. In Kampot halten wir noch kurz zum Auftanken, dann geht es runter vom Teer und rauf auf die Piste. Nach kurzer Zeit halten wir noch an einem Dorfladen an und unser Fahrer kauft sich und uns Staubmasken. Da wir jedoch selbst ein ganzes Päckchen dabeihaben, gibt er die uns zugedachten wieder zurück. Je mehr wir die Stadt hinter uns lassen desto schöner wird es. Weniger Müll, traditionelle Häuser, hier ein Schwein, da ein Wasserbüffel. Es ruckelt ordentlich, aber offensichtlich wird die Teerung vorbereitet. An zwei Stellen arbeiten schwere Maschinen. Es staubt gar nicht und ein paar Minuten später folgt auch die Erklärung: Ein großer Tankwagen vor uns versprüht Wasser und hält die Piste feucht.
Auf La Plantation bekommen wir mit sechs anderen eine englischsprachige Führung, zusammen schauen wir uns die Pflanzen sowie die verschiedenen Orte der Weiterverarbeitung an. Uns war nicht klar, dass weißer, grüner, roter und schwarzer Pfeffer alle aus einer Pflanze gewonnen werden und weißer und schwarzer nur durch zusätzliche Arbeitsgänge entstehen. Nach dem Rundgang verköstigen wir noch einige Pfeffervariationen. Die ersten Durchgänge sind interessant, danach lässt der Geschmackssinn wegen der Schärfe schnell nach.
Wir kaufen noch zwei Päckchen der hier verarbeiteten Sorten, bevor wir uns auf den Rückweg machen. Am Secret Lake stoppen wir noch einmal und nehmen ein Bad. Eddy und Tomm lassen es sich nach der mehrmaligen Versicherung des Fahrers, dass keinerlei Gefahr bestehe, nicht nehmen, von einem höheren Baukörper in den Teich zu springen. In der Stadt wechseln wir noch Euro in Dollar und Riel, damit wir zahlen können, bevor wir morgen weiterreisen. Unser Tuk Tuk-Fahrer lässt uns vor dem Guesthouse aussteigen und wir freuen uns auf einen ereignisarmen Nachmittag in gemütlicher Atmosphäre.
Nach einer weiteren Nacht voll Stimmen, Hahnenschreien und Motorgeräuschen pelle ich mich um halb sieben aus dem Bett, dusche, packe und wecke dann die Jungs. Ein kleines Frühstück, Zimmerkontrolle mit diversen Fundstücken bei Tomm und wir sind auf der Strecke.
Zuerst wollen wir uns noch die eigentlich zu Unrecht hochgelobte Bokor Hill Station im Nationalpark Preah Monivong Bokor National Park anschauen. Mehrere Affenhorden warten am Fuß der Berge auf Bananen. Sobald wir anhalten, kommen noch mehr aus dem Busch hinzu. Viele Affenkinder und sogar eine Mutter mit Baby schauen bei uns vorbei. Zum Füttern wollen wir nichts rausrücken, zum Glück bleiben sie uns trotzdem ein wenig treu. Ich bemühe mich um ein gutes Foto, beim beweglichen Objekt gar nicht so einfach!
Nachdem wir der am oberen Teil des Berges stehenden neunundzwanzig Meter hohen Buddhastatue einen Besuch abgestattet haben, stoppen wir ganz oben auf dem Plateau und schauen uns die sehenswerte kleine Tempelanlage Wat Sampov Pam, übersetzt Tempel der fünf Boote, samt ein paar in ihren orangenen Roben wie immer sehr fotogenen Mönche an.
Die in den zwanziger Jahren durch die französischen Kolonialherren errichtete Bergstation wird seit einiger Zeit von chinesischen Investoren um- und ausgebaut. So ist das Casino inzwischen vollkommen renoviert und es wird eifrig an zahlreichen neuen Unterkünften mitten im Nationalpark gearbeitet. Der Reiz der ehemaligen Geisterstadt ist somit leider weitestgehend verloren, die Natur gerät zunehmend unter Druck. So bleiben nur noch Tempel, Ausblick und Affen als Anreize für einen Besuch bestehen.
Sianoukville erreichen wir um einiges zu früh für unsere Fährabfahrt, so dass wir noch eine kleine Mahlzeit im Hafengelände einnehmen und uns dann in einer riesigen Halle den Platz mit den hier parkenden Autos und anderen auf die Fähre wartenden Touristen teilen.
Pünktlich legt unser Speedboot vollbesetzt ab Richtung Ko Rang Sanloem, um fünfundvierzig Minuten später am Landesteg der Insel anzulegen. Es ist momentan nur noch eins der ehemals drei Piers übrig, da die beiden anderen bei einem Sturm vor zwei Wochen teilweise zusammengebrochen sind. Wir werden von einem Hotelboot abgeholt, müssen allerdings etwas länger warten, weil das erste Boot mit Waren, Koffern und Gästen schon leicht überladen wirkt. In der Zwischenzeit lernen wir den Resortbesitzer kennen, einen freundlichen und redseligen Engländer mit fliehendem Kinn.
In dem zweiten Boot legen wir am Strand an, freuen uns an dem wirklich schönen Ort. An der Rezeption gibt es dann aber erst einmal Verwirrung um unsere Zimmer, die letztendlich darin gipfelt, dass unsere gesamte Buchung aus unbekannten Gründen gecancelt wurde. Wir sind etwas konsterniert, werden im wesentlich schäbigeren Nachbarhostel eingebucht. Die Räume sind hier leicht muffig, unsere Begeisterung hält sich in Grenzen, andere Möglichkeiten fallen aber weder der Rezeption noch uns ein. Wir gehen erst einmal ins herrlich temperierte Meer und gewöhnen uns an die neue Situation. Ein paar Diskussionen später steht fest, dass wir zwei Tage in dem wirklich runtergerockten Hostel übernachten werden, die dritte im Resort. Dafür gibt es Frühstück trotzdem dort und auf alles ansonsten verköstigte dreiunddreißig Prozent. Nicht unser Traum, aber ab hier werden wir die nächsten Tage genießen, Meer und Insel erkunden.
Die sichelförmige Saracen Bay wird von einigen Hotels geteilt. In ihrer Ausstattung bitten sie vom Schlafsaal bis zum Spa-Aufenthalt die ganze Bandbreite. Uns fällt auf, dass jeder nur vor der eigenen Anlage den Müll wegschafft. Ist zwischendrin ein Grundstück unbebaut oder das Guesthouse nicht in Betrieb, so stapelt sich der vom Meer angeschwemmte oder von den Gästen weggeworfene Abfall.
Ein typisches Bild ist eine Angestellte in ihrer Hoteluniform, die eine Plastikflasche nach dem Aufheben nicht in den Müllsack entsorgt, sondern einfach auf das nicht genutzte Nachbargrundstück wirft. Der eigentlich reichlich vorhandenen Romantik dieser rein auf Tourismus ausgelegten Insel schadet das sehr. Der Müll wird von jeder Anlage selbst per Boot weggebracht. Ein Haufen schwarze Plastiksäcke tritt jeden Morgen die Fahrt an. Wohin es geht, ist mir unklar. Ich hoffe, dass es ein Schiff gibt, dass für eine zumindest einigermaßen sachgemäße Entsorgung Sorge trägt. In einem kritischen Reiseblock habe ich von einer größeren Halde inmitten des Waldes gelesen…
Wo Menschen sind, fängt die Zerstörung an. Wo Touristen, Traveller, Reisende oder wie auch immer der Einzelne genannt werden möchte, in größerer Anzahl auftreten, nimmt sie an Dynamik zu. Helfen kann nur ein Umdenken bei Produktion und Entsorgung. Organisierte Müllwiederverwertung, Vermeidung von Plastikmüll, Steuern auf Verpackungen oder alternative, umweltfreundlichere Verpackungen. Ein langer Weg, wenn er nicht gegangen wird, werden wir in Müll versinken. Aber auch vermehrte Nutzung lokaler Baustoffe, Ausweitung von Schutzzonen und natürlich Bildung, Bildung ,Bildung sorgen für Entlastung der Umwelt. Ohne Bewusstsein für die Problematik gibt es kein Umdenken, keine Veränderung.
Mich hat gefreut, dass die ersten drei Hotels alle große Wasseranlagen oder -kanister zur Wiederauffüllung von Flaschen hatten. Allein auf unserer Reise hat das bisher schon einige Plastikflaschen unnötig gemacht. Jeder einzelne ist durch Flug, Nutzung touristischer Infrastruktur, Mietauto und so weiter Teil des großen Rades. Ein wenig vergällt das die Reiselust, besonders da die Problematik immer bewusster wird und auch nicht länger zu übersehen ist. Die schiere Menge von all dem wirkt bedrohlich!
Da es weder Weg noch Straße gibt, ist der Strand vor den Hotels und das Meer Transportweg für Mensch und Ware. Ob Pakete angeliefert, Gäste zur Unterkunft gebracht werden oder Müll abtransportiert wird, alles findet hier statt. Während wir gestern durch den Wald zum Lazy Beach auf der anderen Seite der Insel gelaufen sind, bleiben wir heute an unserer Bucht und ich beobachte das Treiben vom frühen Morgen bis in die Dämmerung. Es ist windig und die Boote haben Schwierigkeiten mit dem Anker lichten und losfahren, ohne dabei auf den Strand getrieben zu werden. Die mit täglichen Fähren eintreffenden neuen Gäste werden auf der Ladefläche der asiatischen Version des Traktors zu ihren Resorts gebracht. Müll wird, in schwarze Säcke verpackt, entsorgt. Eine ältere Frau, dick eingepackt mit Haube, Schal und langer Hose trägt mit ihrem Schulterjoch auf jeder Seite einen riesigen Sack voll Plastik und Dosen in Richtung Landungssteg. Zwischen all den leichtbekleideten Urlaubern ist sie eine Erscheinung. Was mag in ihrem Kopf vorgehen, am unteren Ende der Wohlstandskette sitzend, während wir aus Europa oder woher auch immer hier angereist sind, um ein wenig Sonne in unseren dunklen Monaten zu tanken?
Drei japanische Kinder spielen stundenlang im Sand, immer wieder mal von Opa oder Oma zurückgepfiffen, wenn sie sich zu weit vom Hotel entfernen. Eine indische Familie hat einen der beiden zum Wasser weisenden Bungalows gemietet. Die alte Großmutter sitzt den ganzen Tag, traditionell gekleidet, mit Bindi auf der Stirn, auf ihrer Terrasse und betrachtet ungerührt und nicht einmal lächelnd das Geschehen um sie herum. Strandflaneure ziehen von einer zur anderen Seite und kommen später wieder zurückgeschlendert. Es ist ein angenehmer Platz, ruhig genug, um sich von Kulturschock oder Reisestrapaze zu erholen und doch genug bietend, um nicht zu langweilen. Gegen Abend wechseln Bikini und Badehose mit sommerlichem Hemd und Hose für den Gang ins Restaurant. Ohne den Müll eine fast perfekte Blase.
Der Wind bläst heftig am nächsten Morgen. Erst sollen nur die Koffer mit dem Boot zum Fähranleger gebracht werden und wir zu Fuß laufen, dann wird ein Traktor geordert. Unser Gepäck wird auf die Pritsche geworfen, dann setzen wir uns, mit den Beinen über den Rand baumelnd, auf das Gefährt. Eine Familie aus einem der anderen Hotels bittet mitfahren zu dürfen. Sie sind viel zu spät gestartet, um es noch in der Zeit bis zur Fähre zu schaffen. Der Diesel pöttert los und der Chef des Hotels ruft uns noch hinterher, dass wir abspringen und schieben sollen, wenn der Trekker hängenbleibt. Immer wieder den besten Weg zwischen Wasser und Land suchend fahren wir langsam los. Gefühlt alle zwanzig Meter heißt es absteigen und gemeinsam das festgefahrene Fahrzeug wieder aus dem tiefen Sand befreien. Wir laufen genauso viel wie wir fahren. Die letzten hundertfünfzig Meter müssen wir schließlich mit unserem Gepäck gehen. Da Anke von vornherein einen Spaziergang gemacht hat haben wir nun einen schweren Koffer zu viel. Ehe ich es verhindern kann, schultern zwei junge Männer vom Hotel ihren und meinen Koffer und stapfen los. Mir ist das peinlich, ich sehe Bilder alter Expeditionen mit Tropenhelm tragenden weißen Männern und schwarzen versklavten Lastenträgern. Durch ein größeres Trinkgeld versuche ich vor mir selbst moralisch wieder Boden gutzumachen und übernehme auf halber Strecke zumindest meinen Koffer wieder.
Auf dem Steg spricht mich der Großvater der mit uns auf dem Traktor gefahrenen Familie an und fragt auf deutsch, wo wir herkämen. Erst sage ich Köln, aber dann Bergisch Gladbach, weil sie auch dort wohnen. Er ist Chinese und hat seine damals vor den Roten Khmer geflüchtete Frau in Essen kennengelernt. Ihre beiden Töchter sind schon in Deutschland geboren. Dazu gehört nun noch der aus Polen stammende, aber seit seinem achten Lebensjahr in Deutschland wohnende Schwiegersohn und Max, das Enkelkind. Eine der Töchter fragt Anke, wie ihr Kambodscha gefalle und erzählt dann vom damaligen Kulturschock ihrer Mutter über die Ordentlichkeit und Sauberkeit in Deutschland. Wir müssen alle sehr lachen, als sie erzählt, wie Besuch aus der Heimat in Köln Tauben und Eichhörnchen gejagt hat und die Nachbarn gefragt haben, ob sie denn alle Wilde seien. Die Welt ist einmal mehr klein und wir reden und lachen, bis mit einer Stunde Verspätung die Fähre eintrifft. Die Überfahrt ist für Fortgeschrittene, es herrscht raue See mit Windstärke vier bis fünf. Wir sitzen auf dem Oberdeck und es schaukelt mächtig. Der Kapitän hat alle Mühe, den Katamaran nicht zu sehr ins Schlingern zu bringen. Als wir in Sihanoukville von Bord gehen, übergeben sich drei Passagiere direkt hinten den nächsten Bus…
Wir beziehen unser Guesthouse in Kampong Chhnang. Während Eddy und Tomm sich in ihre Zimmer zurückziehen, werden Anke und ich von unserem Gastgeber freundlicherweise mit dem Tuk Tuk ins Zentrum zum Markt gefahren, um Euro in Dollar tauschen zu können. Wir gehen anschließend ins Restaurant neben dem Hotel, chillen noch eine Stunde auf unseren Betten, bevor ich zum auf der anderen Straßenseite liegenden Kiosk aufbreche. Es ist Sylvester und die jungen Männer singen schon ausgiebig über ihre Karaokeanlage. Alle haben schöne Stimmen und so hole ich mir ein Bier und werde freundlich johlend in ihren Kreis integriert.
Nach und nach stößt der Rest meiner Familie dazu. Bezahlen dürfen wir nichts mehr, stattdessen werden uns neben dem Bier auch allerhand Häppchen angeboten. Wir essen ein paar noch lebende Muscheln mit Chilisauce gewürzt und ich ein wenig Hühnchen. Anke traut sich als einzige von uns auch zu singen und gibt Piano Man von Billy Joel und Earth Song von Michael Jackson zum Besten. Nach einer Stunde ziehen wir unter Verabschiedungsgesten weiter in Richtung Zentrum. Überall werden wir enthusiastisch begrüßt. An einem weiteren kleinen Laden bekommen wir neue Getränke und tanzen ein paar Lieder lang mit der Familie.
Ein Mann lässt Popmusik vom Laptop abspielen und von Oma bis kleines Enkelkind tanzen alle mit. Die Männer trinken ausgiebig und ein paar haben auch schon deutlich Schlagseite. Je weiter wir ins Zentrum kommen umso mehr Menschen strömen zusammen. Der zentrale Park und die umliegenden Straßen sind mit zig Verkaufsständen, verschiedenen Karussells und einer großen Bühne bebaut worden.
Es gibt allerhand kurioses zu essen. Schön aufgeschichtete Raupen, Frösche und Heuschrecken sind für uns exotisch neben den normalen Fleischspieß-, Suppen- und Obstständen. Auf dem Boden campieren Familien auf ihren Matten, essen, reden und feiern. Vor der Bühne steht und tanzt die Jugend der Stadt zur kambodschanischen Version des weltweit gehörten Korea-Pop. Eddy ist in seinem muskelbetonenden Feinripp-Unterhemd, durch seine blonden Haare und die über ein Meter neunzig Körpergröße eine echte Attraktion. Wie ein Popstar geht er durchs Publikum, die Mädchen drehen heimlich Videos, indem sie vorgeben Selfies zu knipsen, aber dabei das Handy an sich vorbei ihn filmen lassen. Wir sind heute hier die einzigen Europäer und werden allerorten freundlich begrüßt, eingeladen und höflich angesprochen.
Schon den ganzen Abend werden Raketen gezündet, um elf Uhr gibt es dann ein öffentliches Feuerwerk, vielleicht für die kleineren Kinder, bevor um Mitternacht dann das neue Jahr mit infernalem Raketenabschuss begrüßt wird. Der ganze Platz knallt aus allen Rohren und ein Regen aus Feinstaub und Asche geht auf uns nieder. Vereinzelt steigen dazwischen mit Kerzen erleuchtete Lampions in den Himmel. Wir genießen die herrliche Stimmung noch eine Weile, Eddy und Tomm tanzen vor der Bühne mit der einheimischen Jugend, bevor wir uns Richtung Bett verabschieden und nach Hause spazieren.
Noch müde von der letzten Nacht des alten Jahres, wecke ich die Familie auf.
Nach dem Frühstück fährt unser Gastgeber uns im Tuk Tuk quer durch die verschlafene Stadt, vorbei an dem noch nicht aufgeräumten Park zur Anlegestelle am Fluss. Zwei Frauen mit traditionellen Nón tơi, den spitzkegeligen Reishüten, empfangen uns und führen uns eine Treppe hinunter zu ihren Holzbooten. Das Ufer ist hier bedeckt von Müll aller Art, es riecht leicht nach Fäkalien. Wir machen es uns jeweils zu zweit in einem Boot mit Fahrerin bequem. Die Fahrt geht einen breiten Nebenarm des Tonle Sap stromaufwärts langsam aus der Stadt hinaus in ländlicheres Gebiet. Bauernhöfe säumen das Flussufer an einer Seite. Die andere, eigentlich eine lange Insel zwischen Hauptfluss und Nebenarm, ist intensiv landwirtschaftlich genutzt. Dann beginnt das langgezogene, von Khmer bewohnte schwimmende Dorf Chong Kos.
Wir fahren zuerst daran vorbei, damit wir uns ohne Motor durch die geschickt manövrierende Führerin von der Strömung wieder flussabwärts entlang der schwimmenden Hütten treiben lassen können. Die Behausungen sind erwartet ärmlich, aber unerwartet niedrig. Nur die wenigsten haben Stehhöhe. Es ist alles verbaut, was irgendwo aufgetrieben wurde: Wellblech, Plastikplanen, sogar ein „Land for sale“-Schild ist Teil einer Wand geworden. Bunte Wäsche hängt auf Kleiderhaken an Bambusstangen, damit sie nicht stockig wird, Küchenutensilien an Haken entlang der Wände. Hier wird aller Platz genutzt, es ist wenig davon vorhanden. Die Frauen und Kinder, die wir zu Gesicht bekommen, verarbeiten zumeist kleinere Fische zur Vorbereitung der allgegenwärtigen Fischsauce. Ein paar Hunde bellen uns, am Bug der vertäuten Boote stehend, an. Überall liegen bunte Plastikkörbe auf Pontons. Kleine Areale im Wasser sind mit engmaschigen grünen Netzen, an Bambusstangen befestigt, begrenzt. Fische versuchen durch Sprünge aus dem Wasser zu entkommen, bleiben aber an den Netzen hängen und rutschen zurück. Sogar einen kleinen Garten sehen wir im Gewirr aus Kähnen, Pontons und kleineren Booten. Anke klemmt sich ihren Finger schmerzhaft zwischen unserer Bootswand und einer der Plattformen. Eine fliegende Händlerin wird angehalten und nicht einmal fünf Minuten später ist der Finger mit einer grünen Paste und einem Pflaster gut verarztet. Der Pragmatismus ist hier fabelhaft ausgeprägt, jede Situation kann eine schnelle Lösung erfordern. So ist das schwimmende Geschäft nicht nur mit Obst, Gemüse und allerlei vielleicht benötigten Alltagsgegenständen ausgestattet, sondern auch für kleinere Notfälle gerüstet.
Wir sehen kaum Männer und nehmen an, dass diese mit ihren Booten schon auf Fischfang sind. Der Tonle Sap-See und der gleichnamige Fluss samt seinen zahlreichen Nebenarmen ist ein äußerst fischreiches Gebiet und Lebensgrundlage der Bewohner des schwimmenden Dorfes. Entlang Fluss und See gibt es viele dieser Dörfer, teilweise von Kambodschanern, teilweise von Vietnamesen oder auch Chinesen bewohnt. Die größten haben mehrere tausend Einwohner. Es gibt oft Satellitenfernsehen und fast alle Bewohner besitzen ein Handy. Trotzdem ist es ein äußerst einfaches Leben und das Dorf erinnert stark an Slums aus anderen Ländern. Es gibt genug zu essen, mehr als ausreichend Wasser und eine Einkommensquelle, aber ansonsten mangelt es an fast allem. Hier zur Regenzeit leben zu müssen, stelle ich mir recht beschwerlich vor, auch so ist es schon ein für uns unvorstellbar hartes Leben. Trotzdem sehen wir auch hier natürlich lachende Frauen, freundlich grüßende Männer und mit Freude spielende Kinder.
Ohne den Zusammenhalt des Dorfes wäre vieles verloren, mit ihm lässt sich ein relativ freies Leben verwirklichen. Es ist einer dieser Orte, wo einem der eigene Status eines Königs sehr klar vor Augen tritt. Etwas, das im Umfeld von vielen Königen und Königinnen leicht verloren geht. Das Privileg von Anspruch auf Bildung, hohen sozialen Standards, guter medizinischer Versorgung und die Möglichkeit der freien Berufswahl, des sozialen Aufstiegs und Selbstverwirklichung sind sehr hohe Werte. Sie stehen nur ein paar Prozent der Menschheit offen.
Zurück in der Stadt halten wir noch an einer Apotheke, weil Eddy sich den Fuß auf Ko Rong Samloem aufgerissen hatte, die Wunde angefangen hat zu eitern und sich weiter zu entzünden. Wir bekommen ein Gel, lehnen die Tabletten aber ab, weil wir selbst auch Ibuprofen 800 dabeihaben. Im Guesthouse säubern wir den Fuß, tupfen ihn trocken und bringen die Betaisodona ähnelnde Flüssigkeit auf, bevor wir mit einem großen Pflaster alles verschließen.
Unsere Reise soll uns weiter nach Siem Reap, nördlich des Tonle Sap-Sees, führen. Wir fahren aus der Stadt hinaus und entlang des am Morgen aufwärts geschipperten Flussarms bis zu einem Fähranleger. Einige Verkaufsstände stehen auf roter Erde, Roller und ein paar Autos fahren auf die gerade eingetroffene kleine Fähre. Für uns reicht der Platz nicht mehr und so warten wir eine halbe Stunde, um mit der nächsten den Fluss überqueren zu können. Ein paar Mandarinen verkürzen die Wartezeit, die Anke und ich auf den uns von der Marktverkäuferin hingestellten roten Plastikstühlen im Schatten verbringen.
Die Fährfahrt ist herrlich. Vom Oberdeck aus weht der Wind um unsere Nasen, während wir vom Seitenarm durch einen kleinen Kanal in den Hauptfluss und sodann in einen weiteren Seitenarm wechseln. Der Tonle Sap ist hier sehr breit und in mehreren Armen fließend. Von unserem erhöhten Sitzplatz genießen wir das Landleben, den Blick über weite Felder, nur unterbrochen von Wasser und vereinzelten Gehöften. Der Fähranleger auf der anderen Seite wird auch von keiner Stadt, sondern nur von einem Dorf begleitet. Die weitere Fahrt führt bis kurz vor Siem Reap fast vollständig durch ruhiges ländliches Gebiet. Es macht Spaß durch diese homogene Landschaft zu gleiten, immer wieder dem Leben auf den Bauernhöfen kurze Szenen abzugewinnen. Trotzdem sind wir froh am frühen Abend unser Hotelzimmer beziehen zu können. So kurz nach Sylvester mit wenig Schlaf plus unserer Bootstour am frühen Morgen war es ein recht langer Tag.
Unser Schlaf ist nach einem Ruhetag mit ein wenig Stadterkundung in Siem Reap wieder einmal um vier Uhr vorbei, damit wir kurz vor fünf im Tuk Tuk sitzen und pünktlich mit den etwa dreihundert anderen Touristen den Sonnenaufgang hinter Angkor What erleben können. An jeder Kreuzung stoßen ein paar weitere Tuk Tuks mit verschlafenen Fahrern und Touristen dazu. Noch in völliger Dunkelheit staksen wir zwei Kilometer durchs Gelände, um unseren instagramm-tauglichen Fotospot zu erreichen. Der sich im See spiegelnde Schattenriss der Fassade des Angkor Tempels ist das Bekannteste, oftmals durch Filter und Photoshop noch spektakulärer erscheinende, Fotomotiv Kambodschas.
Immerhin sind es nicht fünf Mal mehr Menschen, wie bis 2019, die hier versammelt sind, da Chinesen und Südkoreaner ebenso wie Russen momentan kaum anreisen. Das Land ist erst seit Ende Oktober nach zwei Jahren Grenzschließung wieder für Ausländer geöffnet und noch sind die Zahlen auf dem Stand von 1998, also etwa zwanzig Prozent des Volumens vor der Pandemie. Allein Reisende aus China haben in den Jahren vor der Abschottung vierzig Prozent aller Gäste gestellt.
Das Motiv ist wunderschön kitschig, die Kommentare um mich herum zur Menge und dem Buhlen um den besten Platz lustig mitanzuhören. Nach dem Spektakel fahren wir zu kleineren Tempeln und können hier Ruinen, Wald und Geräusche fast ohne weitere Besucher auf uns wirken lassen.
Gerade die nicht vollständig von Würgefeige und anderen Urwaldbäumen befreiten kleineren Anlagen schaffen ein abenteuerliches Indiana Jones Gefühl des Entdeckens. Die hoch in den Baumkronen herumfliegenden Vögel erzeugen dazu mit ihrem Rufen und Zwitschern eine einmalige Geräuschkulisse. Nachdem wir genug Tempelruinen für heute gesehen haben, halten wir noch bei einer Affenhorde, die gerade von einigen Mönchen mit Bananenstauden versorgt wird. Es sind zwei rivalisierende Gruppen, die sich um die Früchte zanken. Ein Alphamännchen mit einem blinden Auge verschafft sich durch sein aggressives Verhalten Respekt. Die jüngeren Affen balgen mit einer alten Plane herum, verstecken sich darunter und verheddern sich dabei in den losen heraushängenden Fäden. Ein paar Rollerfahrer halten und füttern ebenfalls. Die Tiere klettern ihnen auf die Lenker und fressen, obwohl sie trotzdem scheu und wachsam sind, buchstäblich aus der Hand. Ein Spektakel lauten Meckerns, kleiner Kämpfe und lustiger Grimassen. Besonders die Jungtiere haben offensichtlich einen Riesenspass und den genießen auch wir ausgiebig.
Unser Fahrer stoppt auf dem Rückweg noch einmal und erzählt uns, dass in den nächsten Monaten tausende Familien, die momentan noch auf dem riesigen Tempelareal leben und arbeiten, zwangsumgesiedelt werden sollen. Auch seine Verwandtschaft ist davon betroffen. Jede Familie erhält dreihundert Euro und einen Sack Reis, bevor sie aus ihrem Leben herausgerissen wird, um sich sechzig Kilometer entfernt auf einem Flecken Brachland neu ansiedeln zu müssen. Unser Fahrer zahlt noch an einem siebentausend Euro Bankdarlehen ab, das er zum Aufbau seiner Existenz genommen hat, nur um jetzt mit Brotkrummen abgespeist und seiner Existenz beraubt neu anfangen zu können. Das Motiv hinter dieser menschlichen Katastrophe ist nicht ganz klar. Angeblich sind es chinesische Investoren, die hier das offensichtlich karge Leben unsichtbar machen wollen und durch neue Investitionen ihr Geld vermehren möchten. Der Staat sagt dagegen, es sei die Angst um die Aberkennung des UNESCO World Heritage Siegels. Die UNESCO weist die Anschuldigung allerdings weit von sich. Eine Zwangsumsiedlung wäre laut ihrer Statuten auch illegal. Auf jeden Fall beteiligt ist die seit Jahrzehnten regierende und die Menschen ausbeutende korrupte Machtelite des Landes.
Wir sehen schon vereinzelt Lehm- und Zementböden, wo bis vor einigen Wochen noch Hütten und Häuser standen. Hier wird freigeräumt, was teilweise generationenlang bewohnt war. Der Druck erhöht sich, erste Bewohner halten dem nicht mehr stand und lassen sich umsiedeln. Die hier lebenden Menschen sind eng mit den Tempeln verbunden, beten hier und sind diejenigen, die den spirituellen Ursprung am Leben erhalten. Unser Fahrer ist sichtlich wütend und traurig. Beides Zustände, die sonst nicht in der Öffentlichkeit an die Oberfläche gelangen. Betreten fahren wir weiter, fassungslos über den staatlichen Beschluss, diese Menschen finanziell und sozial zu ruinieren, sie, ohne eine wirkliche Alternative, zu vertreiben.
Nach einer Pause im Hotel zum Verdauen des gesehenen und gehörten machen wir uns am frühen Abend auf, um Phare, The Cambodian Circus einen Besuch abzustatten. Seit 2013 unterhält die Truppe ihr Publikum mit Akrobatik und Performance, bringt dabei aber auch immer eine gesellschaftssoziale Stellungnahme unter. Unser Programm heißt „Same same but different“ und erzählt in mehreren komischen Sequenzen von Stereotypen in den Köpfen von Einheimischen und Touristen, sowie von Missverständnissen im Umgang miteinander. Wir sind schon eine Stunde früher gekommen, weil es im Innenhof ein Einstimmungsprogramm gibt, bei dem gemütlich gegessen und getrunken werden kann. Eine rein weiblichen Trommel und Saiteninstrumenten Band, die eine halbe Stunde lang das Publikum anheizt, begeistert uns. Phare ist kein einfaches Zirkusprojekt, sondern auch eine Ausbildungsstätte für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, die hier lernen sollen, sich im Leben zurechtzufinden. In dieser Institution ausgebildete finden meistens im Anschluss eine gute Anstellung.
Die Vorstellung ist herrlich kurzweilig, wir finden uns in mancher Szene ertappt. Das Ganze wird von einem Trio musikalisch erstklassig begleitet. Besonders der virtuos aufspielende Schlagzeuger und Sänger nimmt Eddy und mich auf seine Reise mit. Im Anschluss stellen sich die Artisten noch dem Publikum zum Gespräch. Uns hat der Tag allerdings genug geschafft, um müde mit unserem Tuk Tuk Fahrer gen Hotel durch das abendliche Siem Reap zu fahren.
Dani holt uns am Morgen vor dem Hotel ab. Er ist ein siebzigjähriger Amerikaner, seit fast dreißig Jahren mit einer Kambodschanerin verheiratet. Gemeinsam haben sie zwei erwachsene Kinder. Dani ist Kosmopolit, vom vierten bis zwanzigsten Lebensjahr in Indien aufgewachsen, studierte dann Agrarwissenschaften in den USA und hat in Paraguy, Togo und anderen Ländern gelebt. Wir wollen eine Tuk Tuk-Tour mit den Schwerpunkten Essen, Arbeit und Tradition zusammen unternehmen. Sein Neffe wird uns als Fahrer begleiten. Nachdem wir einen Stopp beim Geldwechsler eingelegt haben, geht es für die nächste Stunde über einen großen Markt. Wir halten an einigen Ständen, um uns unbekannte Früchte oder Gemüse zu probieren.
Ähnlich Vietnam gibt es auch hier wieder einiges an Tierleid zu sehen. Überall liegen japsende Fische auf silbernen Tabletts, werden Schildkröten, Frösche und Aale halb lebendig angeboten. Wir nehmen nach ein paar süßen Leckerbissen eine kräftige Mahlzeit aus Reisnudeln, Gemüse, Spiegelei und gefüllten Reiskuchen zu uns. Dani zeigt uns noch ein paar Delikatessen wie verschiedene Bienenwaben samt Larven oder Baumameisennester bevor wir ins Umland der Stadt aufbrechen.
Auf unserer Weiterfahrt kommen wir an einer Hochzeit vorbei. Wir gehen hinein und werden von festlich gekleideten Gästen begrüßt. Eine Musikgruppe mit traditionellen Instrumenten spielt auf. Weiter hinten auf dem Gelände liegt die mobile Küche mit ihren riesigen Pfannen. Es wird für mindestens zweihundert Gäste gekocht! Wir warten noch bis Braut und Bräutigam fein gewandet erscheinen. Ich darf die Braut fotografieren und bekomme ihr schönstes Lächeln geschenkt.
Die Kleider und Anzüge werden meistens geliehen, genauso das gesamte Zubehör. Eine Hochzeit wie die von uns besuchte kostet ein Vermögen. Um das Geld dafür zusammenzubekommen werden neben Freunden und Verwandten auch möglichst viele wohlhabende Bekannte eingeladen. Wenn eine schriftliche Einladung ins Haus flattert, ist es eine soziale Verpflichtung für die Familie beim Fest mit mindestens einem Familienmitglied zu erscheinen und in einem Kuvert eine dem Status entsprechende Geldsumme zu überreichen.
Jede Gabe wird genaustens in einem Buch verzeichnet, so dass bei einer Gegeneinladung auch ungefähr geklärt ist, welche Erwartung mit der Einladung verbunden wird. So finanziert im Grunde ein Pfandgeschäft einen großen Teil des Festes und lässt es so möglich werden.
Ein gepflegtes großes Kloster mit Kindermönchen wird von uns angesteuert. Vier der jungen Mönche im Alter von elf bis vierzehn Jahren chanten für uns. Es sind herrliche Stimmen und auch ein schönes Bild, wie die vier vor der großen Buddhastatue und den Gemälden sitzend ihr Bestes geben. Wir spenden ein wenig Geld, was gerne statt Speisen angenommen wird. Nach all den Skandalen um unsere Kirchen hoffe ich, dass die Kindermönche hier eine gute und unbeschwerte Zeit verleben!
Nebenan liegt eine Grundschule, die Anke als Lehrerin gerne sehen möchte und so besuchen wir drei verschiedene Klassen in ihren Räumen. Die Schüler und Schülerinnen werden umsonst unterrichtet, müssen lediglich ihre Uniformen selbst besorgen. Sie nehmen entweder vormittags oder nachmittags am Unterricht teil. Die Ausstattung der Schule ist einfach, aber gepflegt. Als die Stunde vorbei ist, werden wir von einer Horde Kindern umringt. Ich muss einige Hände abklatschen, ein paar stellen sich für Bilder in Pose. Der Direktor begrüßt uns kurz, die Lehrerinnen lächeln und zur Abfahrt wird gewunken. Es gibt laut Dani keine Schulpflicht in Kambodscha, aber die meisten Eltern schicken ihre Kinder gerne zum Unterricht. Es ist eine der kleinen Möglichkeiten zum späteren sozialen Aufstieg.
Nachdem wir bei einem befreundeten Schmied vorbeigeschaut haben und seine sehr individuelle Esse bestaunen dürfen, die mittels eines Laubbläsers unter der Feuerstelle, geschaltet durch einen irgendwo aufgetriebenen in der Luft hängenden, nur durch Drähte gehaltenen, Lichtschalter, betrieben wird, geht es danach auf einen sehr gepflegten Hof. Das hier wohnende Paar lebt von seinem Reisfeld, ein paar Hühnern, der Korbflechterei der Frau und der Herstellung von Palmzucker. Einen kleinen Nebenverdienst bringt das Schröpfen. Kleine Gläser auf der Haut sollen mittels Unterdruck Verspannungen lösen und die Blutzirkulation anregen. Durch kurzes mit dem Bunsenbrenner erhitzen wird die Luft erwärmt, um die Gläser dann sofort auf die Haut aufzusetzen, so dass durch die Abkühlung dann Unterdruck entstehen kann. Dieser sorgt für die Sogwirkung zum Hineinziehen der Haut in die Gläser und durch die Vergrößerung der Hautoberfläche für eine Erweiterung der Gefäße. Während bei mir die Rückenbehaarung ein gelungenes Festsaugen verhindert, funktioniert es bei den anderen hervorragend. Einundzwanzig Gläser bekommt jeder auf den Rücken. Nachdem die einige Minuten aufsitzen, werden sie vorsichtig gelöst. Zurück bleiben einundzwanzig mehr oder weniger rote Flecken. Bei Tomm sind sie so stark, dass es wie große Blutergüsse aussieht. Selbst am Abend und die nächste Woche werden sie noch stark sichtbar sein. Die Wirkung dieser Anwendung ist wissenschaftlich zwar nicht bewiesen, wird aber vor allem in Asien als auch in der westlichen Welt seit vielen Jahrhunderten durchgeführt.
Weil unser Fahrer versessen ist auf Schnecken, halten wir an einem Straßenimbiss. Er genießt seine dreißig Exemplare, mit dem Zahnstocher aus dem Gehäuse gezogen und kurz in eine Soße gedippt, während wir gekochte Bienenwabe mit Larven probieren. Anke und ich finden es geschmacklich immerhin interessant, Eddy hingegen abstoßend. Er verzieht sich angewidert ins Tuk Tuk und hofft, dass wir bald etwas zu trinken kaufen können, damit er den Geschmack los wird.
Eine Familie stellt dünne Reisnudeln für die naheliegenden Restaurants her. Wenn der Teig fertig ist, kommt er in eine Röhre, die unten kleine Löcher aufweist. Diese stellt eine der Frauen in eine etwa zwei Meter lange Holzbalkenpresse und mit einer Person obenauf sitzend wird der Teig dann durch die kleinen Öffnungen in heißes Wasser hineingepresst und gar gekocht. Im letzten Arbeitsschritt schöpfen die Frauen die Nudeln und legen sie zum Ablaufen und Trocknen in ein Sieb.
Wir besuchen eine weitere Familie, die von der Palmzuckerherstellung lebt. Während der Mann, hoch oben in einer Palme sitzend, gerade die Flaschen mit dem abgezapften Saft einsammelt, bevor er dann über eine äußerst rudimentäre Bambusstange mit eingelassenen Seitenauslegern wieder nach unten klettert, hält seine Frau den Ofen mit dem großen Topf unter Feuer. Sie rührt die süße Flüssigkeit immer wieder um, auch noch, wenn der eingekochte Saft schließlich zum Abkühlen vom Feuer genommen wird. Ist die zähe Masse kalt genug, wird sie in einen großen Eimer zum Abtransport durch den Zwischenhändler gegossen. Während Anke und ich uns interessiert den Prozess anschauen, spielen unsere Kinder mit den vier Welpen der Hofhündin. Am liebsten würden die beiden eines direkt ins Gepäck übernehmen.
Die uns vorher nicht aufgefallenen Bambusleitern stehen jetzt für uns sichtbar an vielen der an uns während der Weiterfahrt vorbeiziehenden Palmen. Die angezapften Bäume sind nicht im Besitz der Menschen, jeder darf sich seine Palmen aussuchen. Möglichst eng zusammenstehende werden bevorzugt, weil der Mann dann nicht für jede Palme zurück auf die Erde klettern muss, sondern innerhalb der Kronen wechseln kann.
Auf unserer Rückfahrt nach Siem Reap stoppen wir erneut an dem Schneckenstand. Der Fahrer kauft für sich und seine Frau eine weitere Tüte ein. Letzter Halt ist danach noch einmal die Hochzeit. Alle Gäste sind ausgeflogen, um das Brautpaar in Angkor bei seiner Foto-Tour mit ständigen Kostümwechseln vor verschiedenen Tempeln zu begleiten. Währenddessen wird fleißig umgebaut, einiges an für die Trauung verwendeter Kulisse entfernt, dreckiges Geschirr gegen frisches getauscht, in der Küche emsig geschnibbelt und gekocht, damit am Abend das nächste Festmahl genossen werden kann.
Wir fliegen zum Abschluss unserer Reise zurück nach Saigon. Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt fällt Eddy ein Katzencafé auf. Ich habe davon schon einmal gelesen und nehme mir vor, dort am Morgen vorbeizuschauen. Da wir erst um 23.00 Uhr eingecheckt haben bekommen wir in keinem der Restaurants mehr etwas zu essen. Hier ist Vietnam ganz anders als Spanien…gegessen wird recht früh am Abend. Unser Hotel bietet aber noch per Room Service etwas an, so dass wir gemütlich in unseren beiden Zimmern den Abend beschließen.
Vergeblich suche ich das eigentlich nahe unserem Standort gelegene Catfe, dafür entdecke ich noch einen zwischen die Häuser geklemmten chinesischen Tempel und statte ihm einen Kurzbesuch ab. Betört vom Duft dutzender Räucherkerzen spaziere ich noch eine Stunde durch das morgendliche Ho Chi Minh, bewundere die Fahrkunst der Rollerfahrer, die außer der Straße auch ausgiebig den Gehsteig befahren und sich im Berufsverkehr noch wilder gebären als an sich schon üblich. In den kleineren Gassen zwischen den Hauptstraßen ist es überraschend ruhig und ich beobachte den Start der Städter in ihren neuen Tag. Wäsche wird gewaschen und aufgehangen, Essensstände vorbereitet, Speisen gekocht. Auf dem Hof der dem Hotel gegenüberliegenden Grundschule dehnen sich Schülern und Schülerinnen in ihrer Sportstunde. Es ist gut zu sehen, wer etwas mit seinem Körper anfangen kann und wer weniger.
Ich hole Anke ab und nach dem Frühstück finden wir nun auch das Katzencafé.
Ein skurriler Ort mit etwa dreißig Tieren allermöglichen Rassen. Nacktkatzen im Tütü, Kurzbeinkatzen, Kater im Nikolausdress oder mit Schlips und weißem Kragen verteilen sich auf drei Etagen. Die zumeist jüngeren Gäste im Schulalter sitzen über Handy oder Laptop und kraulen dabei den einen oder anderen Vierbeiner. Jeder zahlt knapp vier Euro Eintritt und darf dafür Knabberspaß auf einem Holztablett in Katzenkopfform und Getränke aus dem Kühlschrank konsumieren. An den Wänden hängen allerhand Bilder, alle mit Katzen und irgendwas darauf. Ich kann mich nur schwer von dem ungewohnten Ort lösen, aber da wir auschecken müssen und unsere Jungen nach ausgiebigem Training auf den Hantelbänken des Hotels noch in ihrem Raum chillen, gehen wir zurück und vertreiben sie aus dem digitalen Paradies.
Das Hotelpersonal sucht für uns vier Handys der Mitarbeiter zusammen, damit wir vier Taxiscooter bekommen. Mit der hier und auch in Kambodscha weit verbreiteten Grab-App kann man immer nur einen Scooter ordern und so sind sie so nett uns mit ihrer geballten Handypower auszuhelfen. Wir haben einen großen Spaß an unserem Einfädeln in den Verkehr und anschließendem Durchwursteln entlang der anderen Verkehrsteilnehmer. Die grünen Helme locker auf unseren Köpfen sitzend, geht es Richtung Flussufer zum Mittagessen in einem schönen Restaurant mit vegetarischem Angebot. Es ist preiswert sich so durch die Stadt bringen zu lassen, eine viertelstündige Fahrt kostet etwa einen Euro. Die Fahrer sind Profis, mit aller Gelassenheit, immer bereit für ein Lächeln, bringen sie uns sicher ans Ziel.
Es ist Zeit Abschied zu nehmen. Wir entspannen uns noch auf der Terrasse des Hotels, bevor ein Taxifahrer uns ein letztes Mal durch den Feierabendverkehr zum Flughafen bugsiert. Erlebnisreiche Tage liegen hinter uns und wir sind uns absolut einig, dass wir jeden einzelnen genossen haben. Wir, besonders die Kinder, haben eine Lektion in Lächeln bekommen, und das in oft schwierigen Lebenslagen. Auch wenn der gewährte Einblick wie immer nur ein flüchtiger sein kann, so haben wir doch vieles von anderen und über uns mitgenommen. Eine Menge Informationen und Stimmungen, die wir nun hoffentlich in uns nachwirken lassen und die uns helfen, manche Situation im Leben mit der nötigen Gelassenheit etwas anders, hoffentlich differenzierter zu betrachten.