USA Nicaragua El Salvador

Reise mit Hindernissen

USA Nicaragua El Salvador

Englewood, Florida

Ein kleiner Wirbel leitet meine Reise nach Florida ein: Kurz bevor ich einchecken möchte, wird der Flug nach Tampa abgesagt. Ich telefoniere mit der Fluglinie, benachrichtige Ward, der mich am Flughafen einsammeln wollte und schlafe dann eine Nacht über den mir vorgeschlagenen Ersatzflug. Am Morgen habe ich kommentarlos dann eine Mail von einer anderen Fluggesellschaft mit einer anderen Route in meinem Mail-Postfach. Es geht über Chicago nach Tampa, insgesamt eine über sechs Stunden längere Route, genug, um angesichts der fast erklärungslosen Umgestaltung meines Anflugs, der nötigen Neubuchung meines Zugtickets und der Verwirrung, um meine Abholung in Tampa einen Antrag auf Schmerzensgeld zu stellen und so zumindest für die Überstunden gut bezahlt zu werden. Hätte ich irgendeinen Menschen hinter der Maschinerie erkennen können, wäre vielleicht eine einvernehmliche Lösung für alle Seiten angenehmer gewesen. Sei es drum! Dann lese ich noch, dass der Zugverkehr zwischen Köln und Frankfurt auf Grund von Vandalismus gestört ist und so bin ich froh, schließlich pünktlich im Flieger zu sitzen und warte ruhig auch noch die Reparatur an der Benzinpumpe ab, bevor wir uns letztlich doch in die Lüfte schwingen und den Atlantik überqueren.

Meine Reise führt mich über Wards Strandhaus am Golf von Mexico, wo ich mit meinem langjährigen Freund zehn Tage verbringen möchte, nach El Salvador und Nicaragua, zusammen dann mit dem durch die E-Bike-Touren der letzten drei Jahre schon gut eingeführten guten Reisegefährten Martin.

Ward ist Künstler und war lange Jahre Professor für Kunst an der Parson University in New York. Vor allem aber ist er mir über die Jahre ans Herz gewachsen durch seine auf der einen Seite kontrolliert-intellektuelle Art, der auf der anderen eine freakig-experimentelle gegenübersteht. Ward war schon in Woodstock und besuchte in den letzten Jahren mehrmals das Burning Man Festival, hat sich also definitiv eine wunderbar offene Sicht auf die Welt erhalten. Schon zwei Wochen vor meiner Abreise erreichte mich eine Mail mit einem Youtube-Link zur Aufbau-Anleitung des Minicat 460.  Ein kleiner Katamaran, der unter großem Segel auf seinen Schlauchkufen dahinfliegt. Neben den wundervollen, nach tiefer Recherche entstehenden Diagrammen, die sowohl vom Whitney als auch vom Museum of Modern Art angekauft wurden, ist sein zweites Standbein in der Kunstwelt die von ihm und seinem Projektpartner Alex Schweder begründete Architectual Performance. Eine nach langen Planungsphasen unter hohem körperlichem Einsatz durchgeführte Spielart der Performance, die sich immer mit den Möglichkeiten sozialer Architektur auseinandersetzt. Oder wie Ward es einfach beschreibt: Wie man eine intelligente Sache dumm anpackt...
Nach seiner letzten Mail mit der Schlussfloskel „Let´s get adventurous“ freue ich mich umso mehr auf unsere gemeinsamen Tage, sicher, dass es alles werden kann - bestimmt aber nicht langweilig!

Beim Anflug auf Chicago unter blauem Himmel quer über den Michigan Lake bin ich fast dankbar über den gecancelten Direktflug. Der See selbst ist offen, die zahlreichen Tümpel um und in Chicago aber alle gefroren. Wir ziehen unsere große Schleife über die Einfamilienhaus-Vororte, von den eng stehenden Reihenhaussiedlungen zu den mondänen Villen mit Seezugang und landen schließlich auf dem riesigen O´Hare International Airport. Erstaunlich schnell geht es durch die Passkontrolle. Danach muss ich mich erst einmal orientieren und den Weg zu meinem Terminal für den Anschlussflug nach Tampa finden. Ich treffe einen Stewart wieder, der mich freundlicherweise bis zum Schalter begleitet bevor er sich Richtung seines Hotelzimmers verabschiedet. Sein nächster Flug startet gegen fünf in der Früh, so dass er außer einem Feierabendbier an diesem Tag auch nicht mehr von Chicago mitnimmt. Vielleicht hat er auch deshalb gerne, um der Einsamkeit noch ein paar Minuten abzutrotzen, den kleinen Umweg in Kauf genommen.

Eine Frau in gelber Warnweste, die Passagiere auf Uber Fahrzeuge verteilt nimmt sich in Tampa meiner an und ergreift mein Smartphone, mit dem sie Ward geduldig durch den Flughafen navigiert, bis er nach zehn Minuten vor mir steht und wir uns herzlich umarmen. Wir finden seinen originellen Camper auf einem weit außerhalb liegenden Parkplatz und erzählend treten wir die zweistündige letzte Etappe meiner Anreise nach Englewood am Golf von Mexiko an.
Nach unserer Ankunft tragen wir noch ein paar Tüten ins Haus, erzählen eine halbe Stunde bei einem Bier und dann falle ich, sechsundzwanzig Stunden nach meinem Aufwachen in unserem Haus, todmüde ins Bett.

Wir starten mit einem starken Kaffee in den Tag und fahren anschließend die Manasota Key Road südwärts, dann über den Damm aufs Festland. In einem typischen Diner frühstücken wir cholesterinreich. Der rabenschwarze Kaffee wird alle drei Minuten nachgeschenkt, bis ich mein Veto einlege. Hier bin ich mit einigem Abstand der jüngste Gast - und das als Vierundfünfzigjähriger. Ward hatte mir auf unserer gestrigen Heimfahrt schon erzählt, dass die Bevölkerung im Durchschnitt alt und konservativ ist. Ward ist selbst auch schon dreiundsiebzig, aber bestimmt nicht konservativ und äußerst sportlich für sein Alter. Sonst würde er die manchmal wochenlangen Belastungen seiner Performances auch niemals durchhalten können. Aber von Überalterung zu hören oder sie in dieser Ausprägung vor sich zu sehen sind zwei Paar Schuhe. Selbst unter Berücksichtigung, dass die jüngeren unter der Woche zu dieser Uhrzeit arbeiten, erinnert der Gastraum an ein Altersheim. Nach den Slogans auf den Nummernschildern und den Autoaufklebern zu urteilen sitzt hier ein Teil der Wählerschaft des Ultrakonservativen und aus meiner Sicht bigotten Gouverneurs von Florida, Ron de Santis. Während er bei seiner Kandidatur als Präsidentschaftskandidat der Republikaner recht kläglich an Donald Trump scheiterte, sitzt er im Sunshine State fest im Sattel. Und wie immer sind es weniger die großen Städte als die Landbevölkerung, die den Konservativen ihre Stimmen geben. Amerikanische Flaggen, Aufkleber für Waffen, freies Jagdrecht und „For God´s sake we are Americans“ sprechen eine eindeutige Sprache. Der Glaube, im gelobten Land zu leben ist Teil der Propaganda der religiösen Rechten in den USA.

Zurück auf dem Grundstück beginnen wir mit den Vorbereitungen zum Aufbau des Minikatamarans. Zuerst waten wir durch das kalte Wasser und befestigen einen Anker samt der über ein Seil daran montierten Boje im Boden. Dann bringen wir eine durchlaufende Leine an, damit wir später den Minicat 460 etwas weiter draußen sicher abstellen und ihn bei Bedarf an den Steg ziehen können. Der Aufbau des Bootes ist nicht kompliziert, das Anbringen der Leinen für die Segel allerdings schon und so machen wir uns zuerst ein paar Sandwiches, bevor wir uns das Youtube-Erklärvideo in Ruhe anschauen. Wir beschließen wegen des starken Windes den Mast erst am nächsten Morgen aufzurichten und flicken stattdessen noch das zum weit größeren Trimaran gehörende Dingi. Unseren Arbeitstag schließen wir mit dem Kochen eines Chilis ab, bevor wir mit zwei kühlen Bier, eingepackt in warme Klamotten und mit einem Schlafsack als Decke bewaffnet zum Strand gehen und auf zwei immer bereitstehenden Stühlen dem Sonnenuntergang zuschauen. Ein Junge aus Deutschland ist vor ein paar Monaten in eines der Nachbarhäuser gezogen. Heute steigt seine Drohne in den Himmel und er fliegt sie gekonnt dicht über die weißen Wellenkämme der aufgewühlten See.

Ward und die Sonne lachen gegen Ende des Tages

Nach einem ausgiebigen Strandspaziergang hat sich der Wind langsam gelegt. Wir frühstücken zusammen und beginnen dann mit dem restlichen Aufbau. Als endlich auch der Mast steht, alle Kabel und Schnüren an ihren Plätzen sind und wir die Segel geholt haben, geht es los. Wir setzen erst das Haupt- und dann unser Vorsegel, voller Vorfreude nun schon einmal die nähere Umgebung bereisen zu können. In der von uns erkundeten Lemon Bay ist das Wasser bei der gerade herrschenden Ebbe so flach, dass wir teilweise das Ruder etwas anziehen müssen, damit es nicht auf dem Boden schleift. Zwei Delphine schwimmen im tieferen Gewässer vorbei und Pelikane gehen auf Fischfang. Ein Fischadler stößt mit seinen Klauen voran ins Wasser und gewinnt langsam mit Beute an Höhe. Der Wind ist eher eine laue Brise, teilweise dümpeln wir ohne irgendein Fortkommen in der Mittagssonne. Trotzdem erreichen wir den hinter einer Halbinsel versteckten Naturpark. Unser Boot binden wir an den Mangroven fest, kämpfen uns ins Innere vor, drehen eine Runde und kehren an Bord unseres Minikatamarans zurück. Auf der Heimfahrt kommt der Wind von hinten und wir erreichen schnell wieder unseren Steg. Froh, dass alles gut hingehauen hat, klatschen wir uns ab bevor wir unter der Dusche das Salz abwaschen.
Ich gehe am späten Nachmittag noch einmal am Strand entlang, um das schöne Strandhaus von Bobby Vinton zu fotografieren. Er hatte als Sänger großen Erfolg in den fünfziger und sechziger Jahren, unter anderem mit vier Nummer Eins Hits in den USA. Sein Name wurde dann noch einmal durch David Lynchs Film Blue Velvet nach oben gespült, in dem einer seiner größten Hits namengebend war. Mir war das Haus am Vormittag wegen der etwas aus der Zeit gefallenen Eleganz und seiner zu Meer und Strand ohne Mauer oder Zaun auskommenden Offenheit aufgefallen. Nur eine große Anzahl hoher im Sand stehender Palmen umrahmt es. Auf dem Rückweg wartet Ward schon mit einem kühlen Bier und unseren Stühlen zum Sonnenuntergang schauen auf mich. Der Junge aus Deutschland lässt währenddessen diesmal sein ferngesteuertes Flugzeug den Strand entlangfliegen.

Die Bewohner von Englewood sind überdurchschnittlich reich, zu fast sechzig Prozent über fünfundsechzig Jahre alt und zu mehr als fünfundneunzig Prozent weiß. Innerhalb von zehn Jahren ist die Bevölkerung um mehr als ein Drittel gewachsen. Wards Haus ist in der gesamten Nachbarschaft das einfachste. Sein Vater hat es in den späten Siebzigern gekauft, nachdem er von Nantucket hierherziehen wollte. Im Alter mochte er lieber im wärmeren Süden des Landes wohnen und lag damit im ungebrochenen Trend der Snowbirds, US-amerikanischer Rentner, die nach der Pensionierung in Florida überwintern oder ganz hierherkommen. Die Westküste des an Küste nicht gerade armen Floridas hat sich als letzte Region der kommerziellen Entwicklung geöffnet, auch deswegen ist in dieser Gegend in der Gegenwart ein solcher Bevölkerungszuwachs möglich. Ward überlegt, das Haus in den nächsten Jahren zu verkaufen. Nicht nur sein Alter spielt dabei eine Rolle, sondern auch die Befürchtung, dass mit dem Klimawandel die flache, an zwei Seiten von Meer umgebene Insel nur schwer zu halten sein wird. Von den vier Überschwemmungen der letzten dreißig Jahren waren zwei in diesem Jahr. Auch ist Englewood schon immer in der Saison von August bis November von Wirbelstürmen bedroht. Auf meine Frage, ob es ihm nicht das Herz brechen wird einen so schönen Ort aufzugeben antwortet er ironisch, dass sein Herz schon vor Jahrzehnten gebrochen wurde. Und dann, etwas ernster, es sei auf Grund seiner schwachen sozialen Bindungen der am ehesten abzugebende Ort. Wahrscheinlich wird das Haus zeitnah nach Erwerb vom neuen Besitzer abgerissen und höher, moderner und größer wieder aufgebaut. Einige Beispiele in der Nachbarschaft zeigen, dass die alten, einfach gebauten Häuser nicht mehr den neuen Bewohnern entsprechen.

Die Rentner aus dem Norden sichern den Wohlstand in Englewood

Wir heben die am gestrigen Nachmittag frisch geölten und durchgeschauten Fahrräder auf Wards Camper, um damit zwei State Parks zu erkunden. Am südlichen Ende des Manasota Key beschließen wir den ersten Teil doch lieber zu erwandern. Wir gehen am Strand entlang bis zur Spitze, wo das Meer auf das Wasser der Lemon Bay trifft. Hier scheint es fischreich zu sein, denn wir sehen eine große Kolonie von Seevögeln. Auf dem Rückweg beobachten wir ein Fischadlerpaar in seinem Nest. In der Krone eines abgestorbenen Baums haben es sich die beiden gemütlich gemacht und genießen von dort bestimmt eine wunderbare dreihundertsechzig Grat Aussicht.

Nach einem Zwischenstopp im Hardware Shop, in dem wir eine Dichtung für eine zu reparierende Luftpumpe kaufen, fahren wir in ein zweites schönes Wildgebiet. Diesmal nehmen wir die Fahrräder und genießen unsere Fahrt entlang der stark mit spanischem Moos bewachsenen Eichen. In einer versteckten Ecke sehen wir hoch in einer Kiefer das riesige Nest eines Weißkopfseeadlers. Wir beobachten das Tier eine Weile durch das mitgebrachte Fernglas und sehen tatsächlich auch den Kopf eines noch hellgrauen Flaum tragenden Jungvogels. Ich bin völlig fasziniert und während Ward schaut, ob es einen anderen Rückweg entlang der Lemon Bay gibt, schaue ich weiter dem riesigen Vogel zu. Dann verlässt er das Nest, klettert auf einen der Äste und breitet seine Flügel aus. Etwas unbeholfen sieht der Abflug aus, aber innerhalb kürzester Zeit gleitet er hoch oben durch die Lüfte. Ein wenig später nimmt der Partner den Platz im Nest ein und beginnt den Jungvogel mit der hochgewürgten Beute zu füttern. Der Weißkopfseeadler ist das amerikanische Wappentier. Neben Alaska besitzt Florida die größte Population. Ich lese, dass ein Nest bis zu vierhundert Kilogramm wiegen kann. Das glaube ich gerne, dieses hier ist bestimmt einen Meter hoch und zwei breit. Es besteht aus vielen dickeren Ästen, die Zwischenräume sind mit Moos und anderen weichen Materialien ausgepolstert. Wir geben den Tieren ihre Privatsphäre zurück und verlassen langsam die Lichtung.

Nachdem wir den Vormittag mit Einkäufen und rumbummeln verbracht haben, entschließen Ward und ich uns noch ein paar Stunden segeln zu gehen, bevor dann am frühen Abend zwei seiner alten Freunde übers Wochenende aus Gainsville kommend zu uns stoßen.
Wir machen den Katamaran klar, ziehen die Segel hoch und freuen uns, dass auf dem Wasser eine feine Brise uns vorwärts weht. Heute bin ich der Steuermann und lerne schnell, dass ein so kleines Boot äußerst direkt auf jedes Manöver reagiert. Die Kunst ist es, am Druck des Ruders zu merken, wann ich gut am Wind segele. Auch an den am Segel befestigten Windfäden lässt sich das gut ablesen.
Nach einer Weile sichten wir vier Große Tümmler, im Englischen tragen sie den schönen Namen Bottlenose Dolphin, in einiger Entfernung. Die Tiere schwimmen in unsere Richtung und da sie als Säugetiere immer wieder auftauchen müssen, verlieren wir auch ihre Fährte nicht. Einer scheint ein Einzelgänger zu sein und hält sich immer etwas abseits. Er ist auch derjenige, der sich als erster abwendet und uns mit den verbliebenen Dreien allein lässt. Ward übernimmt das Ruder und ich sorge für den richtigen Druck auf den Segeln. Wir kreuzen immer wieder ihre Wege und sie scheinen daran auch Spaß zu haben. Ich bin den wunderbaren Tieren noch nie so nah gewesen und auch Ward sagt, dass er sich nicht erinnern kann, jemals so lange mit ihnen gecruist zu sein. Zuletzt ziehen sie ihrer Wege und auch für uns wird es Zeit heimwärts zu segeln und das Boot zu vertäuen.

Nachbarhaus an der Lemon Bay

Wards Freunde Richard und Gregg biegen kurze Zeit später mit ihrem Pickup in die Auffahrt ein und parken vor dem Haus. Sie haben Fahrräder, Kanus und Angelzubehör aufgeladen. Wir bringen das Gepäck ins Haus und setzen uns erst einmal zum Erzählen auf die Veranda. Ward schlägt vor zum Sonnenuntergang hinaus auf das Meer zu fahren und so ziehen wir uns alle um, bevor wir die Kajaks zum Strand auf der anderen Seite des Key tragen. Eine Tasche mit kalten Getränken darf nicht fehlen und, nachdem Gregg noch eine Pfeife geraucht hat, stechen wir in See. Das Meer ist heute sehr ruhig, während wir entspannt ein wenig der Sonne entgegen paddeln. Ich navigiere zwischen den anderen und verteile Getränke. Wir dümpeln herum, erzählen über uns und andere, während neben uns immer wieder Seevögel, dem nächsten Fisch nachjagend, ins Wasser stoßen. Es ist eine magische Stunde, eine unbeschreibliche Ruhe liegt in der Luft, die Temperatur schmeichelt, wir sind prächtig angekommen im Hier und Jetzt. Das Wasser ist herrlich grün und die immer tiefer sinkende Sonne spannt ihre goldene Brücke vor uns auf. Ich kenne Gregg und Richard erst seit gerade eben, fühle mich aber sehr mit ihnen verbunden, weil sie eine Herzlichkeit ausstrahlen, in der ich mich völlig geborgen fühle. Ich glaube, auch Ward ist glücklich, weil es harmonischer und dabei doch interessanter und neuer kaum sein könnte. Wir treiben auf dem Wasser, bis es fast dunkel ist und während Gregg und Ward am Haus den Grill anschmeißen, tragen Richard und ich einen Kajak nach dem anderen auf dem schmalen, von Palmen bestandenen Pfad, der Strand und Haus verbindet. Wir lassen den Abend bei einem guten Essen und einer anschließenden Fotosession mit Greggs neuen I Phone am Strand auskling

Als am Morgen alles gepackt ist und die Kajaks schon aufgeladen sind startet Wards Camper nicht. Wir versuchen was uns möglich ist, müssen aber letztendlich aufgeben. So wird der Zweierkajak auch noch auf Richards Pickup verschnürt und endlich geht es los Richtung Myakka River.
Vor Ort entladen wir alles und Richard und Gregg bringen den Wagen zu unserer Ausstiegsstelle, um anschließend mit einem Uber zurückzukommen.
Wir schieben die drei Boote ins Wasser und sind direkt von herrlicher Natur umgeben. Unfassbar viele Palmen wechseln sich mit alten Eichen ab, hin und wieder stehen Felder großgewachsener Gräser am Ufer. Auf einem knapp über der Wasseroberfläche schwebenden Stamm sitzen zwei Wasserschildkröten. Als ich ihnen zu Nahe komme, lassen sie sich schnell ins Wasser gleiten. Obwohl es Samstag ist, haben wir den Myakka für uns allein. Der Fluss mäandriert herrlich durch die flache Landschaft, das Wasser von einer torfig-braunen Farbe, kontrastierend zum Ufer-Grün und dem blauen Himmel. Den ersten Alligator sehe ich nur aus den Augenwinkeln, aber es folgen noch einige andere, alle auf den schmalen modrigen Flussbänken liegend. Der Myakka führt zu dieser Jahreszeit eine Menge Wasser, was die Sichtung etwas erschwert. Trotzdem sehen wir ein paar der gut getarnten Tiere. Sobald wir in ihre Sicherheitszone eindringen, gehen sie ins seichte Wasser und senken sich so tief ab, dass nur noch die Nasenlöcher und die erhabenen Augen aus dem Fluss herausschauen.
Ein besonders großes Exemplar ist weniger scheu als seine Artgenossen und ich kann auf wenige Meter heranpaddeln. Es behält mich aber die ganze Zeit im Blick, bis es mir zu nahe wird, ich vorsichtig beidrehe und mich wieder mehr in die Flussmitte treiben lasse. Das Tier ist etwa vier Meter lang und mir schon nicht mehr ganz geheuer in seiner ruhigen, beobachtenden Art. Ohne zu wissen, ob im Kajak eine Gefahr von den Alligatoren ausgeht, ist hier meine Annäherungsgrenze überschritten.
Wir gleiten wenig später ans Ufer und picknicken auf einem leicht erhöhten grasigen Fleck, nicht ohne vorher den Saum genau nach etwaigen Tieren oder ihren Spuren abzusuchen.
Nach der Pause geht es für ein paar Stunden weiter den Fluss hinab. Der Gegenwind macht uns immer wieder zu schaffen, so dass meine Arme immer schwerer werden. Die anderen sind erfahrene Paddler. Ihre Technik ist offensichtlich meiner voraus, so dass ich immer wieder zurückfalle und letztendlich dann froh bin, als wir an der Ausstiegsstelle die Boote an Land ziehen. Viel weiter wäre ich heute auch nicht mehr gekommen. Aber dieses kleine Naturwunder war die brennenden Muskeln mehr als wert!

Ward repariert seinen Van

Während der Abend ruhig mit Gitarrenspiel und Gesang ausgeklungen ist, sprechen wir am nächsten Morgen über den fortschreitenden Klimawandel. Floridas Küstengebiete im Allgemeinen und Wards Haus im speziellen sind Thema unseres Gesprächs. Während in den letzten dreißig Jahren das Wasser der Lemon Bay zweimal seine im Erdgeschoss liegende Werkstatt geflutet hat, waren es im letzten Jahr direkt zwei Wassereinbrüche, noch gut erkennbar an den braunen Linien an der Wand und den weißen Ausblühungen am Boden, die Ward zu schaffen machten. Seine Überlegung, das Haus in den nächsten Jahren zu verkaufen werden durch solche Ereignisse unterfüttert. Da wir uns nicht einigen können, um wie viel der Meeresspiegel gestiegen ist, ziehen wir das Internet zur Rate und verstehen schnell, warum der Erzkonservative Ron de Santis vom Klima-Saulus zum Paulus konvertiert: der Meeresspiegel ist in den letzten dreißig Jahren in Florida um sieben Zentimeter gestiegen, in den letzten Jahren schneller als zuvor. Bis 2060 droht ein Anstieg um sechsundachtzig Zentimeter. Das würde bedeuten, das viele der Millionärsvillen in und um Miami im Meer versinken würden und auch Donald Trumps Mar del Lago an über zweihundert Tagen geflutet wäre.
In Miami ist der Beginn der Katastrophe schon länger sichtbar. Wenn in der Sturmsaison die „High Tides“ ans Ufer drängen, dringt das Salzwasser über die Kanalisation ein und wird mit den Abwässern über die Gullys in die Straßen gespült, wo es dann tagelang steht. Durch das hier vorherrschende Tuffgestein wird das Salzwasser auch viel schneller als anderswo in Grundwasser und Kanalisation gezogen. Dagegen sind dann alle Deiche nutzlos. Im berühmten Key Biscayne werden die Häuser wegen der Gefahr von kombiniertem Hurricane und Springflut schon auf höhere Stelzen gesetzt. Das macht sie allerdings dann auch noch anfälliger für die Sturmböen. Auf Dauer wird wohl nur der Rückzug für die hier lebenden Menschen bleiben. Kaum jemand spricht offiziell von freiwilligem Rückzug, allerdings ist allen Stadtplanern klar, dass die Kosten für den Umständen angepassten Systemen nicht tragbar sind. Mit finanziellen Mitteln wird schon versucht den Anwohnern ein Abbrechen ihrer Zelte schmackhaft zu machen und das Land der Natur zurückzugeben. Aber keine Regierung kann jedem Hausbesitzer das Haus ersetzen, so dass statt einem schon langsam durchgesetzten Plan eher eine planlose Ratlosigkeit herrscht.
Auch treten die sozio-ökonomischen Probleme weiter in den Vordergrund. Die nur wenige Meter höheren Stadtviertel werden Ziel der Investoren. So werden in ärmeren Quartieren wie Coconut Grove und Little Haiti die Anwohner rausgekauft und die traditionellen Holzhäuser durch mehrstöckige Villen ersetzt. Am Meer wiederum wird sturmsicherer gebaut. Es entstehen teilweise riesige von Strom und Wasser unabhängige Hausboote auf ausfahrbaren Pfählen thronend für mehrere Millionen Dollar pro Objekt.

Ältere Teetrinker

Es ist Sonntag und nicht irgendein Sonntag, sondern Super Bowl Tag. Das Finale des diesjährigen American Football Finales tragen die Kansas City Chiefs gegen die San Francisco 49ers aus. Als Zuschauer mit dabei natürlich, neben jeder Menge anderer Stars, ist auch Taylor Swift, deren Freund Trevor Kelce ein wichtiger Spieler der Chiefs ist. Gregg ist Feuer und Flamme und so sitzen wir nach dem obligatorischen Sonnenuntergang am Strand zu viert vor dem Fernseher und sehen uns das Spiel an. Fast genauso viel Erwartung wie in das Spiel wird in die andauernd den Spielfluss unterbrechenden Werbungen gesetzt. Jede Firma gibt einen guten Teil ihres Jahresbudgets für die hier gesendeten Spots aus. Gregg hat vorher noch einen Pilztee aufgesetzt, aber außer ihm möchte keine auf Magic Mushrooms American Football schauen. Kein Wunder das auch keiner nur halb so viel über die Werbungen lachen kann wie Gregg. In nur Halbkenntnis der Regeln kann mich das Spiel nicht sonderlich fangen, auch wenn mir das Gesamtereignis durchaus einiges über amerikanische Popkultur verrät. Wie weit die Kommerzialisierung des Sports hier vorangeschritten ist, kann ich daran erkennen, dass während der Werbepausen im Fernsehen das Spiel tatsächlich unterbrochen wird! Auch wenn die Zeit von den Sportlern für taktische Gespräche genutzt wird, stelle ich mir die dauernden Unterbrechungen als viel Geld zahlender Zuschauer einigermaßen nervend vor. Am Ende gewinnen die Chiefs ihr drittes Finale in fünf Jahren nach Verlängerung. Während wir anderen drei müde zu Bett gehen, trippt Gregg noch ein paar Stunden durch die Nacht.

Wir laden die Kajaks für eine Tour durch ein Mangrovendickicht ab. Ward hat dieses Gebiet noch mit seinem Vater entdeckt, als dieser schon nicht mehr laufen konnte. Vor langer Zeit ist hier aus einem unbekannten Grunde ein Netz von schmalen Kanälen gegraben worden. Anscheinend wurden die Anfänge aber danach niemals mehr weiterverfolgt und so holen sich die Mangroven das verlorene Terrain langsam zurück. Ein paar Paddler sägen hin und wieder die störenden Äste ab, trotzdem ist es kaum möglich die Paddel einzusetzen und wir ziehen uns mehr an und unter den Pflanzen entlang durch das Labyrinth. Teilweise ist der Bewuchs so dicht, dass wir nur flach liegend weiterkommen. Schließlich kommen wir am Ende des Dickichts wieder in den meernahen Teil der Lemon Bay. Wir besuchen noch einen der breiteren Kanäle und begeben uns dann auf den Rückweg zu unserem Ausgangspunkt.

Im Mangrovendickicht

Am Nachmittag sind wir alle für ein kleines Abenteurer bereit und so schenkt Gregg vier große Tassen seines Gebräus ein. Wir stoßen miteinander an, trinken den mit Honig geschmacklich aufgewerteten Sud und warten dann auf das Einsetzen der Wirkung.
Langsam beginnt mein Körper zu vibrieren, die Hände schwitzen ein wenig, während auch meine Wahrnehmung sich anfängt zu verändern. Ich nehme die Kamera mit zum Strand, bemerke aber bald, dass die visuellen Veränderungen sich nicht mit der Kamera abbilden lassen, wenn sie doch nur im Gehirn stattfinden. Richard kommt ebenfalls auf den Strand und auch er ist schon ganz schön angehauen. Ich wandere noch ein wenig auf und ab, bevor ich mich zu den inzwischen vollständig zum Sonnenuntergang Anwesenden setze. Die Wolken werden immer bizarrer, ein Effekt ähnlich dem Blick durch eine 3D Brille. Alle möglichen Wesen blicken mich an. Das Gefühl, mit der Natur Kontakt aufzunehmen, wird stärker. Ob die Natur auch so fühlt, kann ich nicht sagen, für mich macht es aber den Eindruck.

Wenn der Pilztee grüßt...

So sitzen wir, bis die Sonne verschwunden ist und auch das letzte Rot zu Grau wird und genießen die aufregende Wirkung der Pilze. Als die anderen schon den Rückweg zum Haus angetreten sind bemerke ich noch einen Blaureiher in meiner Nähe. Im Zwielicht kommt er immer weiter auf mich zu und bleibt dann in etwa drei Meter vor mir stehen. Ich schaue ihn noch eine Weile an – und er wohl auch mich – bevor ich mich verabschiede und durch den grünen Tunnel zum Haus gehe. Ward hat inzwischen eine wunderschön passende Pink Floyd Playlist aufgelegt. Ich fühle mich wohlig und gut aufgehoben. Nach einer Dusche gehe ich zu den anderen auf den Steg. Wir genießen die Lichter von jenseits der Bucht und den aufsteigenden Neumond. Sterne funkeln zwischen den Wolken hindurch, ein weiterer Reiher steht auf einem Pfosten am beleuchteten Nachbarsteg. Vielleicht sind sie heute die Wächter? Als es kühler wird, ziehen wir uns auf die windgeschützte überdachte Veranda zurück. Alle hängen ihren Gedanken oder Visionen nach, manchmal wird eine kleine Anekdote erzählt und alle versinken zunehmend in der Musik. Teilweise kann ich die Gesichtszüge von Richard und Gregg nicht mehr klar im Dämmerlicht erkennen und meine Fantasie lässt sie zu allerlei Fabelwesen degenerieren. Als die Wirkung langsam runterfährt erzählen wir uns einige bizarre Geschichten aus unseren Leben. Besonders Gregg ist ein begabter Erzähler. Seine Wiedergabe eines etwas tumben und dazu latent aggressiven Südstaaten-Bullen, der ihn auf dem Weg von Gainsesville nach Miami angehalten hat und ihm weder das gut versteckte Koks noch den getrunkenen Alkohol nachweisen konnte ist Weltklasse. Auch Richards Erzählungen aus seiner Zeit als Dope Farmer in Arkansas sind spannend anzuhören. Irgendwann stehe ich auf, um mir in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Ich merke noch, wie sich mein Sichtfeld verengt, danach finde ich mich auf dem Boden wieder, sorgenvolle Blicke auf mich gerichtet. Wie ein Baumstamm muss ich gefallen sein, mit dem Kopf an der Küchenzeile entlanggerutscht. Ich bin kurz ansprechbar, danach sinke ich ein zweites Mal in eine Ohnmacht, wild zuckend. Ward pumpt mit beiden Händen mein Herz, nach einer Minute schlage ich wieder die Augen auf. In dieser Minute bin ich auf ein Licht zugegangen, eine seltsame Gestalt saß auf einem Stuhl in einem Gang. Ob das weitere Wirkungen der Pilze oder tatsächlich meine Vorbereitung zum Übergang ins Reich der Toten war, kann ich nicht sagen. Ward erzählt mir später, dass er meinen Herzschlag diese Minute nicht wahrnehmen konnte und er große Angst verspürte ich werde sterben. Gregg hat inzwischen die Ambulanz gerufen und Ward beschwört mich zu atmen und wachzubleiben. Eiskalter Schweiß springt aus jeder Pore und ich kann mich keinen Zentimeter bewegen. Während Ward weiter auf mich einspricht, mir Fragen stellt und versucht Augenkontakt zu halten, warten die anderen beiden an der Straße auf den Notarzt. Irgendwann sehe ich die rot-blauen Lichter an der Küchenwand entlang laufen und höre auch die Sirenen. Sechs Personen, Sanitäter, Arzt und Feuerwehr, betreten den Raum. Plötzlich bin ich durch ihre Anwesenheit in einer anderen Welt. Sie stellen mir einige Fragen, prüfen meinen Puls, dann werde ich in einem Stuhl fixiert und die Treppen heruntergetragen. In mir kehrt langsam Ruhe ein, als ich auf die Bahre hinübergehoben und in den Wagen geschoben werde. Um dem grellen Licht zu entkommen, schließe ich immer wieder die Augen, dann werden die Lichter wieder zu bunt zerfließenden Mustern. Ich fühle mich unendlich müde, kann aber nicht einschlafen. Gegen Mitternacht sind wir im Krankenhaus. Ward wacht an meiner Seite, während die Ärzte mit ihren Untersuchungen beginnen. Die Pilze wogen noch immer in mir, aber nun fühle ich mich in Sicherheit und weiß, dass ich leben werde. Bis drei Uhr morgens finden immer neue Tests statt, dann wird es ruhig und ich schlafe sogar ein paar kurze Passagen, bevor am Morgen weitere Untersuchungen gemacht werden. Greg und Richard verabschieden sich im Krankenhaus noch von mir. Richard schenkt mir sein T-Shirt mit den Alligatoren auf der Vorderseite als Erinnerung an unsere Kajaktour auf dem Myakka River. Auch ihnen sehe ich die Erleichterung deutlich an. Letztendlich wird zum Glück weder an Herz noch Kopf irgendetwas auffälliges gefunden, so dass ich am Nachmittag gegen vier Uhr von Ward mit seinem inzwischen zu Ende reparierten Camper abgeholt werde. Ward kocht zu Hause für uns und nach dem obligatorischen Sonnenuntergang schauen wir uns den neuen Martin Scorsese Film vom Sofa aus an. Leben kann so einfach und gemütlich sein...

Das Wochenende als Männer-WG haben wir alle sehr genossen. Die drei anderen sind jeweils dreiundsiebzig Jahre alt, haben sich aber die Leichtigkeit von Jugendlichen gut erhalten und mit der Ruhe des Alters hervorragend gemischt. Oder wie Ward es kichernd am Strand formuliert hat: „Kein vorbeispazierender Strandbesucher würde denken, dass die älteren Herren gerade herrlich trippen...“

Der Durchgang zum Strand

Ein Künstler, ein Schauspieler, ein ehemaliger Dopefarmer aus Arkansas und ein Ex-Dopedealer aus Europa, was für eine bunte Mischung aus Unvernunft und Kreativität!
Hoffentlich kommen wir in diesem Leben noch einmal in derselben Konstellation zusammen...

No items found.

Über Miami und dann ohne Martin weiter nach Santa Ana

Tina, Wards Ehefrau, kommt am Nachmittag an. Wir kennen uns schon von ihrer gemeinsamen Europareise vor vier Jahren. Damit die beiden ein bisschen Zeit für sich haben, nehme ich das Fahrrad und fahre eine große Runde um die Bucht. Als ich nach drei Stunden zurückkomme, essen wir gemeinsam zu Abend. Wir unterhalten uns über die im November anstehende Wahl des Präsidenten und damit natürlich vor allem über Donald Trump. Tina und Ward wählen die Demokraten. Bei der letzten Wahl haben sie nicht nur Geld gespendet, sondern auch aktiv für die Demokraten, aber vor allem gegen Donald Trump gearbeitet. Tina hat sich auch jetzt wieder registrieren lassen, damit sie in der heißen Phase des Wahlkampfs von Haustür zu Haustür und am Telefon Wähler dazu bewegen kann wählen zu gehen und ihre Stimme für die Demokraten abzugeben. Auch Ward wird wieder aktiv für Präsident Joe Biden kämpfen.
Besonders interessiert mich, warum so viele Menschen einen Kandidaten der Republikaner wählen, obwohl er sie als Volksgruppe offensichtlich nicht besonders gut vertritt. Tina erzählt, dass die Exilkubaner, die in Miami und einigen umliegenden Countys eine wahlentscheidende Gruppe stellen, zu sehr hohen Prozentzahlen republikanisch wählen. Sie erklärt das aus der Geschichte dieser Menschen heraus. Überwiegend die wohlhabenden, vom damaligen System profitierenden Menschen sind nach der sozialistischen Revolution in das naheliegende Florida geflohen. Dies sind Menschen, die mit dem Kapitalismus überwiegend positive Seiten verbinden und den sogenannten Sozialismus eines Fidel Castros immer zutiefst verabscheut haben. Für sie haben die Demokraten damals das alte Kuba verraten und sind somit unwählbar.

Oldtimer in Miami

Eine andere entscheidende Gruppe sind die evangelikalen Christen. Bei ihnen scheint es besonders bizarr, wie sie einem nachgewiesenen vielfachen Lügner, Ehebrecher und Triebtäter ihre Stimme geben können. Und gerade bei dieser Wählerschaft punktet Trump am meisten. Ich habe in mehreren Artikeln gelesen und auch Tina versichert mir, dass die Evangelikalen in Trump inzwischen den Messias, oder zumindest einen vom Messias voraus geschickten sehen, der schon vor dem Tag des göttlichen Gerichts auf der Erde erscheint. Auf meine Frage, wie es möglich ist, dass gerade Trump zu diesem Messias erklärt werden kann, antwortet mir Ward, jegliche Ungereimtheiten würden mit „die Wege des Herrn sind unergründbar“ beiseitegeschoben. Da Trump gerade der Gruppe der Evangelikalen viel Gutes verheißt, stellen sich ihre Führer vor ihn und erklären den Gemeinden, dass sie für Donald Trump stimmen müssen, wenn Amerika seiner Bestimmung als das gelobte Land gerecht werden soll. In der Verwirrtheit der Gedankengänge ist das unglaublich, aber nur der Glaube kann eben auch Berge versetzen oder Trump für Gläubige wählbar machen.

Ward und ich holen am Abend Martin in Tampa vom Flughafen ab. Leider habe ich festgestellt, dass ich meinen Führerschein zu Hause liegengelassen habe. So hoffe ich auf Martin, damit wir unseren bestellten Mietwagen doch noch in Empfang nehmen können. Nach einigem hin und her treffen wir uns schließlich vor dem Terminal. Gemeinsam gehen wir zur Autovermietung. Da aber wiederum Martin nur einen Führerschein, aber keine Kreditkarte hat und nur mit beiden Karten aus einer Hand eine Anmietung möglich ist, ziehen wir etwas enttäuscht ab und fahren erst einmal zurück nach Englewood. Hier beginnt Ward trotz der inzwischen späten Stunde noch mit mir Busverbindungen nach Miami herauszusuchen und wir buchen für Martin und mich zwei Tickets für den am nächsten Vormittag vom etwa eine Stunde entfernt liegenden Sarasota aus startenden Flixbus.

Aus der einen in die nächste Blase

Wir verabschieden uns von Tina und Ward fährt uns zur Bushaltestelle. Mitten in einer Industriewüste liegt der Halt und nur ein kleines Flixbus-Schild verrät, dass wir hier richtig sind. Wir haben noch über eine Stunde bis der Bus eintreffen soll und ich glaube erst daran, als ein nach dem anderen noch etwas ein Dutzend Mitreisende samt ihres Gepäcks eintreffen. Ward hatte mir auf dem Weg hierher erzählt, dass früher auch noch die Mittelschicht, damals oft mit den bekannten Greyhound Bussen, dieses Verkehrsmittel gewählt hat, heutzutage aber neben Studenten und anderen jungen Leuten die ärmeren Menschen hauptsächlich Fahrgäste sind. Das führe dazu, das auch die Infrastruktur angepasst würde, um möglichst preiswerte Tickets anbieten zu können. Ähnlich den Billigairlines bezahlt man dann für jeden Extradienst wie Zusatzgepäck oder Sitzplatzreservierung obendrauf. Am Abfahrtsort gibt es auch keinerlei Geschäft oder Kiosk. Und so treffe ich hier nach meinen zehn Tagen in der überalternden reichen weißen Oberschicht von Englewood erstmals einen anderen Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft an. Ein Mix aus allen Altersschichten, überwiegend aber jüngere Afroamerikaner und Latinos steht am Bussteig, als unser Fahrer pünktlich einbiegt. Die sechs Stunden Fahrt verlaufen bis auf einen längeren Stau auf der entlang der Everglades führenden „Alligator Alley“ ereignislos. Leider hat uns die Baustelle so lange aufgehalten, dass die zehn Stunden Schicht unseres Fahrers keinen Stopp mehr in Miami Downtown zulässt. So nehmen wir ein Taxi vom Flughafen zu unserem Tiny House auf der North East 71st Street. Unser Fahrer ist ein seit vierzig Jahren in Miami lebender Peruaner. Wir unterhalten uns so nett, dass ich ihn gleich auch für unsere Rückfahrt zum Flughafen am nächsten Mittag ordere. Dann machen Martin und ich es uns erst einmal gemütlich nach der langen Anfahrt und gehen am Abend noch in ein sehr trendiges und zum Glück auch sehr leckeres asiatisches Fusion Restaurant direkt um die Ecke.  Nach einer Runde in unserem schönen, fast ausschließlich aus Einfamilienhäusern bestehenden Viertel, aus irgendeinem Grunde Boho abgekürzt, legen wir uns schon mit Vorfreude auf San Salvador in unser Bett.

Unser tiny house für eine Nacht

Wir genießen ein gutes Frühstück auf dem Biscayne Boulevard, nahe unserem gestrigen Restaurant, und wandern noch zwei Stunden durch die östliche Nachbarschaft. Ein Mann spricht uns an, als wir gerade einen Pfau beobachten, der gerade von einem Baum runtergesegelt kam. Er erzählt uns, dass acht von ihnen im Viertel leben und diese nicht gefangen werden dürfen sondern frei leben sollen. Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile. Er selbst ist über Utah und Kalifornien hierhergekommen. Ihn begeistert seine Nachbarschaft, die aus zig Nationalitäten besteht. Besonders europäisches und brasilianisches Geld sei in den letzten Jahren hierher geflossen. Aber auch aus New York und Kalifornien würden vermehrt Leute hierherziehen. Interessant ist, als er erzählt, dass Deutsche die Siedlung in den Neunzehnhundertvierzigern erbaut hätten, damals noch als Urlaubshäuser. Inzwischen ist jedes Grundstück ein Millionenwert, auch wenn die Immobilienpreise momentan fallen. Ich spreche ihn auf die Hochwasserproblematik an. Zwei Mal stand das Wasser in den letzten Monaten hoch auf der Straße. Die Hochwasserpolicen seien enorm gestiegen. Seine Familie reist bei heftigen Stürmen oder hohen Wasserständen immer in ihr Zweithaus im Landesinneren, weil nach einem solchen Ereignis erst einmal für teilweise Wochen der Strom ausfällt. Wir hätten uns gerne noch weiter mit ihm unterhalten, müssen aber langsam zurück und unsere Sachen packen.

Samstagsmorgen im Wohnviertel von BoHo

Unser peruanischer Fahrer erscheint nicht und so bitte ich die Vermieterin uns ein Taxi zu bestellen. Dann taucht er doch plötzlich auf. Im Stau steckengeblieben, hatte er den Anruf bei der Zentrale mitbekommen und die Fahrt übernommen. Am Flughafen beginnt unsere Planung völlig aus dem Ruder zu laufen. Mein Einchecken funktioniert noch reibungslos, dafür funktioniert bei Martin gar nichts mehr. Die Frau am Schalter stellt schließlich fest, sein Flug ist für einen Monat später gebucht. Wie mir so etwas passieren konnte, wird wohl ewig ein Rätsel bleiben. Wir versuchen noch mit der uns gegebenen Telefonnummer eine schnelle Umbuchung, schaffen es aber nur einen Flug für den nächsten Tag und für dreihundert Dollar zu bekommen. Weil sich mein Smartphone nicht ins WLAN einwählt, muss ich Martins nehmen. Das schaltet allerdings alle zwei Minuten wieder auf sein Hörgerät um, so dass immer wichtige Teile des ohnehin schlecht verständlichen Englischs der muttersprachlich spanisch sprechenden Frau am anderen Ende der Leitung verloren gehen. Bis die Buchung abgeschlossen ist vergehen vierzig Minuten. Ich versuche noch für Martin ein Hotel zu buchen, da er keinen Computer und auch keine amerikanische Telefonkarte besitzt. Ich gebe dann auf, weil auch mir die Zeit wegläuft. Wir verabschieden uns, nachdem ich noch den Großteil meiner Dollars an Martin weitergereicht habe. Er besitzt, wie ich seit dem Fiasko bei der Mietwagengesellschaft weiß, leider keine Kreditkarte... Ich bitte an der Schlange zur Ausreise vorgelassen zu werden, aber der Beamte versichert, es wäre zeitlich noch kein Problem. So stehe ich leicht schwitzend und schiebe mich Meter für Meter vor. Als ich am Gate ankomme, bin ich leicht dehydriert und froh, dass alle Menschen noch ruhig sitzen und mein Flug angeschlagen steht. Ich hole mir noch kurz ein Wasser, sehe aber plötzlich den nächsten Flug an der Tafel. Am Schalter angekommen erklärt mir der Angestellte, sie hätten mich im ganzen Flughafen ausgerufen, jetzt sei der Flug geschlossen. Er zeigt mir noch die gerade vom Terminal wegrollende Maschine, gibt mir aber dann den Tipp, dass in einer knappen Stunde noch ein letzter Flug über Managua nach El Salvador startet. Ich haste den Gang entlang, bitte und bettle am nächsten Schalter. Der Mann lässt Gnade vor Recht walten, bucht mich auf den Flug und erzählt mir, dass ich eigentlich dreihundert Dollar zahlen müsste, er mich aber nun umsonst umgebucht hat. Dankend gehe ich durch die Kontrolle, lasse mich in meine Sitzreihe fallen und bin froh, dass zumindest ich schon einmal ohne weitere Kosten die Reise fortsetzen kann.

Eine Stunde nach unserer Zwischenlandung in Managua setzt der Flieger auf der Rollpiste in El Salvador auf. Die wenigen die letzte Teilstrecke mitgeflogenen Gäste verlassen das Flugzeug. Die Einreise funktioniert reibungslos. Meine Versuche den Taxipreis zu verhandeln, scheitern und da die Fahrt nach El Salvador plus eine Übernachtung in der Hauptstadt insgesamt zu teuer wird, beschließe ich, schon einmal unserer Unterkunft im eineinhalb Stunden entfernten Santa Ana anzupeilen. Der nette Fahrer kutschiert mich sicher durch die Nacht, während wir zusammen englischen Schmusepop hören. Hin und wieder radebreche ich ein bisschen spanisch mit ihm und erfahre ein wenig über seine Familie. In einer ruhigen Wohnstraße hält er dann an und wir klopfen die beiden Schwestern Ami und Nora heraus. Auf meine Bitte kocht mir Ami in ihrer leicht kurmeligen, aber durchaus gemütlichen Küche noch ein kleines Abendessen, weil ich seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen habe. Ich wähle mich ins WLAN ein und rufe noch Martin an. Er ist erst einmal zu unserer Unterkunft der letzten Nacht zurückgefahren. Weder dort noch bei der angerufenen Nachbarin ist ein Bett frei. Wegen der gerade in Miami stattfindenden größten Bootsmesse der Welt sind fast alle Zimmer ausgebucht. Letztendlich findet er aber auf dem Biscayne Boulevard noch eine überteuerte Übernachtungsmöglichkeit. Ich bin beruhigt und hoffe, dass wir morgen ohne weitere Zwischenfälle wieder zusammenfinden.

Pickup Traum in Miami

Nach dem Frühstück lasse ich mir von Nora den Weg in das Zentrum erklären. Auf halbem Weg komme ich hintereinander an zwei in Privathäusern stattfindenden Gottesdiensten vorbei. Es ist Sonntag und die Salvadorianer sind zu großen Teilen gläubige Menschen. Ich schaue in eine Tür hinein und werde sofort gebeten dazuzukommen. Es ist ein baptistischer Gottesdienst, vorne mit vollständiger Band. Zwei Backgroundsängerinnen unterstützen die sich in Trance redende Predigerin. Alle Zuhörenden haben die Hände halbhoch links und rechts vom Kopf und scheinen ebenfalls wie in Trance zu sein. Kaum einer im Raum hat die Augen geöffnet. Die Musik ist sehr melodisch und ich beginne zu verstehen, was diese Art der Glaubensauslebung mit den Menschen macht. Das Wort Gracias fällt alle paar Sekunden, während die Rede im Stakkato aus der Vorbeterin hervorbricht. Nach einiger Zeit wechselt die Predigerin und die nächste fängt etwas langsamer und mit deutlich tieferer Stimme an, steigert sich aber schnell auch in ihrer Geschwindigkeit. Ich bedanke mich bei den umliegenden und verlasse den Raum in Richtung Innenstadt.

Innen dem Glauben huldigen

Hier steht die im neugotischen Stil 1916 erbaute katholische Kathedrale an einer Seite der wunderschönen die Stadtmitte bildenden Plaza. Um den gut besuchten kleinen viereckigen Platz mit seinen Bäumen und Büschen sind ansonsten noch das alte Theater, das Kulturzentrum und ein weiteres altes Gebäude, das als Verwaltungsbau genutzt wird. Ich gehe auch der Fairness halber in den katholischen Gottesdienst. Hier geht es eher traditionell zu, die Bänke sind gut gefüllt, aber alles läuft etwas gedämpfter. Am Ende des Gottesdienstes werden einige Babys getauft und schließlich kommen viele Besucher nach vorne und werden mit vom Prediger verspritzten Weihwasser gesegnet. Auch Ami und Nora sind unter den Gläubigen. Das sie mich gesehen haben erzählen sie mir aber erst als wir in ihrem Hause wieder zusammensitzen.

Gottesdienstbesucherin in der Kathedrale von Santa Ana

Am Theater sehe ich, dass heute Abend eine Band die Lieder des guatemaltekischen Grammy-Gewinners Ricardo Arjona spielt. Da es die Eintrittskarten erst in über zwei Stunden zu kaufen gibt, schaue ich mir ein wenig das Viertel an. Die alte Markthalle wird nicht mehr genutzt und sieht akut einsturzgefährdet aus. Nun haben sich die Stände in die umliegenden Straßen ausgelagert. Die meisten haben schon geschlossen, einige versuchen noch ihre Waren an die Kunden zu bringen. An einer Stelle stehen einige Wellblechbuden eng zusammen. Nur wenige enge Wege führen hindurch. Hier wird schon eifrig getrunken und es werden ein paar Meeresfrüchte, vor allem eine Muschelart mit schwarz-grauer Schale zu Ceviche verarbeitet. Die Einladungen zur Mittagszeit zum Mittrinken bei dreißig Grad lehne ich dankend ab. Zur zentralen Plaza zurück schlendernd kaufe ich noch meine Karte am Theater, bevor ich in eines der Restaurants auf eine ruhige Mahlzeit einkehre.

Lotterielosverkäuferin auf der Plaza

Am späten Nachmittag fahre ich mit dem Bus zurück ins Zentrum. Ich ziehe dreihundert Dollar aus dem Bankomaten und gehe danach zum Konzert. Das Nationale Theater wurde ab 1902 von den selbstauferlegten Steuern der Kaffeebarone gebaut. Seine Pracht sollte Santa Ana in Konkurrenz zu El Salvador treten lassen. Ich bestaune den guten Erhaltungszustand und genieße in dem zu zwei Dritteln gefüllten Saal den Schmelz der Lieder von Arjona. Wieder in meine Bleibe zahle ich meine Schulden für Fahrer und Übernachtung und unterhalte mich dann länger mit Ami über die Veränderungen seit Präsident Nayib Bukele an die Macht gekommen ist. Der ehemalige Bürgermeister von El Salvador ist seit 2019 im Amt und 2024 mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt worden. Im Ausland ist er zuerst wegen der Einführung von Bitcoin als offiziellem Zahlungsmittel durch die Presse gegangen.

Mann wartet mit Kippe nach dem Einkauf auf seine Frau

Der Grund seiner großen Beliebtheit ist aber vor allem sein rigider Vorgang gegen die Maras, die kriminellen Gangs. Die waren verantwortlich dafür, dass das Land die höchste pro Kopf Mordrate der Welt aufwies. Durch den Bau eines gigantischen Gefängnisses, der Aussetzung des Rechts, des dauernd verlängerten Ausnahmezustands und unter Einsatz von Militär und Polizei sind inzwischen bis zu zwei Prozent der Bevölkerung in Haft. Wohl nicht nur immer zu Recht Inhaftierte. Allerdings ist die Mordrate nun auch die niedrigste in Zentralamerika. Auch seine Gaben während Covid in Geld und Sachmitteln, wird von Ami positiv gesehen. Ein Problem sagt sie seien die noch immer sehr niedrigen und unsicheren Renten. In ihren Augen ist er der erste Präsident, der das Land nicht ausbeutet und Gelder in die eigene Tasche wirtschaftet. Laut Amnesty International baut er allerdings die Judikative und die Legislative immer weiter zu seinen Gunsten um, so dass abzuwarten bleibt, ob hier nicht ein weiterer Politiker versucht sich zum Diktator aufzuschwingen oder ob Bukele das Land in eine bessere, friedliche Zukunft führen möchte. Darauf wetten allerdings nur sehr wenige seiner Beobachter... Als es an der Eingangstür klopft beenden Ami und ich unser Gespräch. Martin ist angekommen und wir freuen uns über unser Wiedersehen!

No items found.

Wiedervereint durch El Salavdor

Wir stehen am Bordstein und, nachdem wir uns mehrmals über die Richtigkeit des Ortes bei vorbeigehenden Passanten versichert haben, warten auf Bus 248, der uns in den Nationalpark Cerro Verde bringen soll. Immer wieder halte ich einen Bus an, weil die meisten keine Nummer haben und unserer nun schon mehr als eine halbe Stunde überfällig ist. Dann biegt zwar nicht unser Bus, aber dafür der Ersatzspieler um die Ecke. Wie so oft ist es ein ausrangierter US-amerikanischer Schulbus. Auch wenn sie mir grundsympathisch sind, ist ihre Enge bei meiner Größe nicht angenehm. Beide Beine gleichzeitig kann ich nicht zwischen den Sitzen abstellen, eins muss entweder angewinkelt an der Lehne des Vordersitzes gestützt werden oder es steht im Mittelgang geparkt.

Marktverkäufer im Pausemodus

Unsere Fahrt geht über neunzig Minuten mit einer ungezählten Anzahl von Halten. Am Schluss sind nur noch die Touristen, die alle den Vulkan Santa Ana besteigen wollen, im Bus. Ein paar Ranger empfangen uns, geben ein paar Anweisungen und dann geht es mit ihnen steil hinauf. Allein darf keiner den Aufstieg unternehmen, wahrscheinlich sind schon zu viele Unfälle passiert. Auch war es lange Zeit gefährlich, weil es immer wieder zu Überfällen in dem unübersichtlichen Gebiet kam. Das Tempo unseres Guides ist hoch und schon bald zieht sich die Gruppe von etwa fünfzehn Personen immer weiter auseinander. Außer einer anderen Frau sind Martin und ich die Ältesten, der Rest scheint zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt zu sein. Wir steigen auf vier Kilometer Weg gut über tausend Höhenmeter bis zum Kraterrand bei 2380m hinauf. Zuerst geht es durch dichten Bewuchs mit Vogelgezwitscher und Wildbienen Gesumme. Nach einiger Zeit gibt die erste freie Stelle einen herrlichen Blick auf die Kuppel des zweiten von drei Vulkanen im Park, dem Izalco frei.

Der Izalco mit davor liegender Farm

Er ist im letzten Jahrhundert mehrfach ausgebrochen und sein fast völlig kahler, perfekt geformter Kegel sticht aus dem sehr fruchtbaren Umland mit seiner Höhe von 1910m heraus, Eine einzelne Wolke steht am blauen Himmel genau über ihm. Die Wanderung geht weiter und langsam weicht der Buschwald. Nur noch ein paar Büsche, aber vor allem die wunderbar gelb blühenden Agaven begleiten uns weiter nach oben. Wir sind völlig erschöpft als wir endlich in den Krater hineinschauen können und den hellblauen, milchigen Kratersee erblicken. Kleine weiße Rauchwolken steigen hinauf zum Kraterrand und verbreiten den Geruch fauler Eier.

Blick auf den schwefeligen Kratersee des Santa Ana oder korrekt Ilamatepec

Wenn wir den Blick vom Rand in die andere Richtung wenden sehen wir den schönen Lago de Coatepeque eingebettet in die umliegenden Hügelketten. Erstaunlicherweise gibt es einen Eisverkäufer hier oben und um gegen die Unterzuckerung gefeit zu sein leisten wir uns ein herrliches Eis. Der Gedanke, dass jemand hier jeden Tag eine schwere Kiste hinaufbuckelt, ist eigentlich unvorstellbar. Nach einiger Zeit wandern wir wieder abwärts. Wir kommen an zwei Polizisten vorbei, die ein Mädchen auf beiden Seiten stützen und es praktisch tragen müssen. Scheinbar hat sie sich beim Aufstieg eine Verletzung zugezogen. Weiter unten kommt uns dann ein Mann mit einer Bahre und Tragegurten entgegen. Was für eine Anstrengung, dass übergewichtige Mädchen über diese tausenden Steine hinab bis zur Straße schleppen zu müssen! Martin und ich verlaufen uns am Ende noch ein wenig und verpassen so unseren Bus. Eine andere Gruppe kommt auch verspätet an und sie bestellen sich zwei Fahrer. Da wir noch mit ins Auto passen ergreifen wir die Möglichkeit und beteiligen uns gerne an den Kosten für die Fahrt zurück in die Stadt.

Schuhverkauf vor Graffiti in Santa Ana

Bevor wir nach Juayúa im salvadorianischen Hochland aufbrechen, versuchen wir den Schwund bei Handykabel und Adapter zu beseitigen. So lernen wir gleichzeitig eine andere Seite der Stadt kennen, ungefähr zehn Handy- und Elektroläden. Hier wie auch schon zuvor des Öfteren fällt mir die große Freundlichkeit der Bewohner positiv auf. Jeder Verkäufer überlegt mit, fragt nach und versucht uns möglichst bei der Lösung unseres Problems zu helfen. Im letzten Geschäft erhalten wir endlich den dringend notwendigen Adapter zum Wechseln von europäischem zu amerikanischem Stecker. Ohne diesen könnten wir weder mobil telefonieren noch meinen Computer oder Martins Hörgerät weiter benutzen, ein Gau wäre das für unsere weitere Fahrt.

Gut gefüllter Schulbus im Morgenlicht von Juayùa

Auf dem Rückweg kommen wir am Gefängnis der Stadt vorbei. Etwa dreißig Frauen verschiedenen Alters stehen mit vollen Einkaufstaschen vor der Tür und warten, dass sie nach der Eingangskontrolle ihre inhaftierten Männer besuchen dürfen. Ich denke an die Artikel über die teilweise wahllosen Verhaftungen in den letzten Jahren und hoffe, dass zumindest die Verfahren auf fairer Basis verlaufen. Glauben kann ich es nicht, nachdem nun auch noch durchgesetzt ist, dass hundert Einzelfälle gebündelt vor Gericht verhandelt werden können.

Ami und Nora fahren uns noch in die Nähe des Busbahnhofs. Ein unfassbares Gewusel und ein fast noch unerträglicherer Gestank, ausgestoßen von Mengen alter Auspuffe, umgibt uns. Auch die immer wieder vom Wind herüber gewehten Ammoniak-Gerüche sind nicht leicht zu nehmen. Leider kommen zwar alle möglichen Linien an, nicht jedoch unsere 238. Endlich sehen wir den Bus Richtung Busbahnhof abbiegen und denken, dass er nun gleich bei uns anhalten wird. Leider taucht er aber dann nicht wieder auf, so dass wir letztendlich doch ein Taxi für die wunderschöne Strecke durch die Berge nehmen.  
Juayúa liegt auf über tausend Meter Höhe und empfängt uns mit frischer Bergluft. Nach längerem suchen finden wir unsere Unterkunft und drehen dann ohne Gepäck eine größere Runde durch den Ort. Wir schauen uns in einer an den Seiten nach oben offenen Turnhalle um und schauen mit einem Bier der Dorfjugend bei ihrem Kick auf dem Hauptplatz zu. Die ruhige, nette Atmosphäre gefällt uns sehr nach der wuseligen unseres Vormittags am Busbahnhof. Mich erinnert Juayúa durch die umliegenden bewaldeten Höhen und das aufgeräumte Erscheinungsbild an einen Luftkurort.

Sehtesttafel für Analphabeten

Wir fahren mit unserem Guide Diego zuerst eine kurze Strecke mit dem Bus, bevor wir dann zu unserer Wanderung in den Wald einbiegen. Die kegelförmigen bewaldeten Hügel des salvadorianischen Hochlandes sind schön anzuschauen, aber auch steil bergab- oder bergauf zu gehen. Für uns geht es erst einmal eine ganze Strecke runter bevor wir einen Fluss erreichen und in dessen Bett weiter in Richtung erstem Wasserfall laufen. Nur mit Badehose, Sandalen und T-Shirt sind wir bekleidet, weil insgesamt sieben Wasserfälle erwandert werden und es immer dicht am oder sogar im Wasser weiter geht. Wir ziehen uns unsere T-Shirts aus und nehmen am ersten Wasserfall eine erfrischende Dusche.

Diego genießt das kühle Nass

Dichte Natur umgibt uns, orangefarbene große Schmetterlinge spielen in der Luft miteinander, umkreisen sich und flattern davon. An den steilen Wänden des Falls wachsen in kleinste Lücken Pflanzen, die sich fortwährend vom Wasserdunst bestäuben lassen. Große Würgefeigen beschatten die Szenerie. Wir wandern von einem Wasserfall zum nächsten, sie liegen alle nicht weit auseinander, und erfreuen uns an dem Schauspiel der Natur. Dann sagt Diego plötzlich, dass wir den nächsten Wasserfall hinaufklettern müssen. Wir stehen erschrocken vor der vierzig Meter hohen Wand und ich mache mir etwas Sorgen um Martin, nicht nur wegen seines Alters, sondern auch wegen des immer noch steifen Nackens. Aber wir gehen in den Aufstieg und finden immer wieder gute Möglichkeiten unsere Hände und Füße zu verankern. So geht es weiter und weiter hinauf bis wir nach zehn Minuten tatsächlich oben stehen. Nicht auszudenken, wenn einer von uns hier abgerutscht wäre...

Wieder einmal denke ich darüber nach, wie viele meiner alten Bekannten inzwischen nicht mehr unter uns weilen, aber im Gepäck doch immer mitreisen. Wenn Martin und ich abends essen gehen und uns währenddessen unterhalten, fällt oft der Satz, dass der eine oder andere auch schon verstorben ist. Beide haben wir einige Bekannte und auch beste Freunde auf unserem Weg sterben sehen. Auch die eigene Endlichkeit rückt damit immer wieder und weiter ins Blickfeld. Der Gedanke Kinder und vielleicht Partner zurückzulassen ist inzwischen nicht mehr aus dem Leben fernzuhalten. Damit ist aber auch ein wenig der Leichtigkeit verschwunden, was vielleicht schon ein bisschen dazu beiträgt, sich den Weg durch das weitere Leben zu erarbeiten und nicht plötzlich vor einer unüberwindbar scheinenden Mauer zu stehen. So ist das Sterben der Bekannten und vor allem der Freunde und Verwandten auch schon ein wenig das eigene Sterben. Die gemeinsam erlebten Abenteurer, die nun nicht mehr gegenseitig erzählt und abgeglichen werden können, das fehlende Korrektiv. Irgendwann, sollte ich einer der letzten aus meinem Freundeskreis sein, lebe auch ich vielleicht dann immer mehr in der Erinnerung. Hoffentlich dann aber noch des Öfteren unterbrochen durch Besuch von Kindern und Enkeln, die dann neben dem Kerzenlicht auch den Sonnenschein ins Haus hineinholen!

Heilschlamm macht fröhlich

Wir lassen uns zurück im Ort von Diego noch zur Bushaltestelle bringen und fahren mit unseren inzwischen wieder einigermaßen trockenen Anziehsachen direkt weiter nach Ataco um uns kurz den Ort anzuschauen und danach noch eine Kaffeeplantage zu besichtigen. Ataco ist laut Internet und Reiseführer bekannt für seine bunten Wandbilder, wird uns aber vor allem durch seine unfassbar vielen Stände mit Plastik Souvenirs in Erinnerung bleiben. Einmal mehr frage ich mich, wer all diesen Plunder jemals kaufen soll. Straßenzüge voller gelb-blau-rot-grünem Chinamüll für ein kaum sichtbares Publikum.  Wohl auch ein Zeichen der wenig vorhandenen Arbeit und der Ideenlosigkeit, wie neue Jobs hier entstehen könnten. Ein paar der wandfüllenden schönen naiven Gemälde finden wir auch.

Kaffeeverkäufer vor naiver Wandmalerei

Aber das als Grund zu sehen den Ort dafür zu preisen ist ein typischer Internethype! Im Ort treffen wir eine jüngere Finnin, die nun auf Kreta lebt. Weil sie gestern Abend auch schon am Tisch neben uns gesessen hat, spreche ich sie an und wir stellen fest, dass wir alle drei zu einer Führung auf die Plantage möchten. So fahren wir zusammen mit einem der auch hier inzwischen fast omnipräsenten Tuk Tuks dorthin. Kedra erzählt, dass sie uns auch schon auf dem Vulkan gesehen hat. So ist das, wenn kein Mietwagen genug Zeit gibt aus dem Reisezyklus der zum Glück wenigen Traveller auszubrechen. Man sieh sich mindestens zweimal....

El Carmen Coffee Estate ist ein in vierter Generation von der gleichen Familie geführter Betrieb der weitestgehend noch immer mit den alten Maschinen der ersten Generation arbeitet. Fast zweihundert Mitarbeiter ernten und verarbeiten knapp fünf Millionen Kilogramm Kaffeefrüchte zu einer Million Kilogramm verkaufsfertiger Kaffeebohnen. Auf dreihundert Hektar eigener Fläche wird angebaut, aber auch die Ernte umliegender Farmen wird hier verarbeitet. Gustavo, unser Führer, beschreibt uns in gutem englisch den ganzen Weg von der Ernte bis zum Verkauf. Nach dem Wiegen der Lastwagen kippen die Fahrer ihre Ladung in eines der bereitstehenden Becken. Von dort werden die Früchte mit Wasserkraft durch Rohre weitertransportiert und dann, je nach Menge, zwischen sechs und vierundzwanzig Stunden eingeweicht, um das rote Fruchtfleisch von den Bohnen zu entfernen. Danach werden vier Verfahren angewandt, jedes für eine andere Art der Weiterverarbeitung und eine andere Geschmacksrichtung des Endprodukts. Von direkter Trocknung bis siebentägige Fermentierung in Plastikbeuteln reicht das Spektrum. Letztendlich werden aber alle Bohnen irgendwann auf großen Betonflächen ausgelegt. Wir sehen mehrere Arbeiter mit Rechen die Bohnen von rechts nach links drehen. Das passiert acht Mal täglich, damit eine gleichmäßige Trocknung stattfindet.

Die Trocknung geschieht meistens durch Handarbeit

Jede Ablieferung eines Bauern wird dabei getrennt gelagert, so dass es keine Durchmischung der Ernten gibt. Sollte die Luftfeuchtigkeit zu hoch sein, so wird ein großer Ofen mit Feuerholz und den Hüllen der Früchte hochgeheizt, die Bohnen über riesige Schütten in große Trommeln befördert und unter dauerndem drehen der Trommeln mit der eingeleiteten Hitze getrocknet. Als nächster Gang folgt die Sortierung. Für die Qualität entscheidend sind drei Schritte: Sortierung nach Größe, danach nach Gewicht, um leere oder geschädigte Bohnen auszusortieren, anschließend nach Farbe. Diese Sortierung wird per Hand vorgenommen. Acht Frauen sitzen an einem Fließband und ihre Hände fliegen unentwegt hin und her zwischen den alle dreißig Sekunden weiterlaufenden Bohnen. Jede hat ein Kaffeesäckchen neben sich stehen, in dem beschädigte, dunkle oder faule Bohnen gesammelt werden. Jede gute Bohne läuft fünfmal an den Frauen vorbei, bevor sie dann in hundert Pfund Säcke verpackt und ins große Lager weitertransportiert werden.

Schwere Last aus kostbaren Bohnen

Hier kommen nun die Einkäufer aus der ganzen Welt vorbei, nehmen Proben, untersuchen diese im Labor, rösten und verköstigen sie, bevor sie sich für oder gegen den Ankauf entscheiden. Neunzig Prozent der Ernte geht in den Export. Vor zehn Jahren waren es noch hundert Prozent, aber inzwischen gibt es auch eine größere Schicht im Land, die es sich leisten kann und auch den Genuss eines guten Kaffees zu schätzen weiß. Einen Teil der Ernte verarbeitet der Estate selbst weiter. Wir kommen zu dem alten Röstofen, wo die Arbeiter noch ohne Thermometer oder geregelter Hitzezufuhr wie vor hundert Jahren rösten. Zuletzt wird dann noch ein Teil gemahlen und in die uns bekannten Verpackungen gefüllt. Uns bleibt jetzt nur noch die Verköstigung im schönen Garten von El Carmen. Gepflegte Grünflächen, alte Bäume und Pflanzrabatten werden von einigen Agoutis, an große Meerschweinchen erinnernde Nager, die ich schon aus Costa Rica kenne, genutzt. Gustavo bereitet uns den Kaffee zu und so lassen wir vier bei einer guten Tasse die Führung ausklingen.

Wandmalerei in Ataco

Das erste Mal funktioniert eine Reiseverbindung auf Anhieb und wir sitzen froh im Bus nach Sonsonate. Unsere nächste Verbindung folgt allerdings wieder alten Mustern, wir warten lange und bekommen dann gesagt, dass unser Bus erst in über fünf Stunden ankomme. Zum Glück gibt es einen anderen gerade abgefahrenen Bus, den wir auch nehmen können. Der hat zu unserem Glück Probleme mit dem Motor, so dass wir noch hinterherlaufen und die letzten beiden Stehplätze besetzen. Es dauert einige Zeit bevor der Helfer die richtigen Schraubenschlüssel aus der Kiste unter dem Sitz neben uns herausgesucht hat, dann geht es aber doch los. Glücklicherweise steigen einige Fahrgäste bald aus und wir bekommen die Premiumsitze hinter der während der Fahrt offenen Hintertür. Ich kann meine Beine ausstrecken und der Wind weht fröhlich um unsere Nasen. Der Tag ist ein Freund. Beim letzten Buswechsel müssen wir im Nirgendwo bei La Perla eine halbe Stunde warten, aber wir sind in netter Gesellschaft, auch wenn die Verständigung rudimentär ist. Der Fahrer lässt uns an der Straßenecke unseres Hostels aussteigen. Es ist überraschenderweise Teil einer „Gated Community“. Wir öffnen das Tor, lassen von einem Wachmann unsere Ausweise prüfen und gehen die staubigen dreihundert Meter bis zum Lagarza.
Nach dem Einchecken und Auspacken werfen wir uns erst einmal in die Wellen. Eine starke Unterströmung zieht uns hinaus, die nächste Welle wirft uns um und treibt uns wieder Richtung grauem Strand. Ich merke, dass ich den gerade in den Fluten verschwundenen Schlüssel zu unserem Spint besser nicht in meiner Badehosentasche gelassen hätte. So bleibt nach dem Duschen nur der Gang zur Rezeption. Die Frauen haben zum Glück noch einen Ersatzschlüssel und geben diesen auch anstandslos und mit nettem Lachen heraus. Heute läuft es trotz kleinerer Hindernisse!
Um unser Glück auszureizen, versuche ich nun auch noch uns für den Flug am Samstagmorgen nach Managua einzubuchen. Vor zwei Tagen sind bei dem Versuch den Flug nur nachzuschauen und um Martins Koffer nachzubuchen direkt drei Warnhinweise aufgepoppt. Angeblich war unsere Buchung gekippt und wir sollten uns einen neuen Flug suchen. Heute plötzlich keine Spur mehr davon, alles läuft reibungslos und nun besitzen wir auch noch zwei Bordkarten. So dürfen wir einen Tag länger in dem wunderschönen Hostel zu Gast sein, Meer und Infinity Pool nutzen und dabei einfach ausspannen. Sehr schön!

Mitwartender am Busstop


Hier tritt ohne große Schwierigkeit ein hedonistisches Lebensgefühl in den Vordergrund. Es wäre vor dieser Kulisse nicht schwierig in Eskapismus zu verfallen und nur das Schöne und Gute im Hier und Jetzt wahrzunehmen. Eine Enklave, uns ausgenommen, von Jugend und Schönheit. Einige digitale Nomaden haben für eine Zeit lang ihre Zelte aufgeschlagen und bearbeiten ihre Aufträge. Andere sind nur für zwei, drei Tage auf der Durchreise und gönnen sich eine Pause von „chicken bus“, billigen Hostels und staubigen Straßen. Mehr als ein Dutzend Salvadorianer kümmern sich um das Wohlergehen der europäischen und nordamerikanischen Klientel. Während sie allerdings per Bus abends wieder nach Hause fahren, bleiben die Touristen in der von Zäunen umschlossenen und gesicherten Luxushostelwelt zurück. Ich hatte auf einer Webseite von dem Ort gelesen und es ist zur Erholung ein sehr schöner Platz und auch in einem akuten Fall von Heimweh oder kulturellem Überdruss eine gute Wahl. Für uns ist es neben den beschriebenen Annehmlichkeiten auch ein Ort zum Wäsche waschen, weitere Stationen planen und alles wieder auf den aktuellen Stand bringen. So lade ich Fotos herunter und bearbeite sie, rasiere mich zwischendurch und schreibe Tagebuch, während meine Nachbarin sich vor ihrem Handy sorgfältig ihre Schminke aufträgt. Vielleicht auch Zeit einmal wieder über die Reiseblase nachzudenken. Abermillionen reisen um den Planeten, größtenteils aus den reichen Ländern des sogenannten Westens und bereisen die ärmeren Länder auf der Suche nach Sinn und Abenteuer. Auf den Gringo Trails treffen sich die immer gleichen Leute und freuen sich, jemanden zum Sprechen zu haben, der ihre Sprache und Probleme versteht. Das unterscheidet sich nicht so sehr vom Pauschaltourismus, wird bei den meisten wohl auch im fortschreitenden Alter zu diesem gewandelt. Der Versuch dem zu entkommen ist oft eine Frage von Zeit, Sprachkenntnis und auch Fortbewegungsmittel. Hier in El Salvador steckt der Tourismus durch die gerade erst endenden Bandenkriege und die davon hervorgerufene Abschreckung noch in den Kinderschuhen. Gegenüber Costa Rica sind nur wenige Reisende im Lande unterwegs. Deswegen sind im Gegensatz zu unserem aktuellen Hostel Aufenthalte wie bei Ami und Nora so wichtig. Gastgeber, die englisch sprechen und Kenntnis über das eigene Land haben, diese gerne weitergeben und so interessante Gesprächspartner abgeben. Da kaum jemand im Land gutes englisch spricht bleibt der Austausch mit unseren mageren Spanischkenntnissen manchmal auf der Strecke. Aber das Beobachten bringt ein gewisses Maß an Information und auch die Kamera ist immer ein Mittel zu einer freundlichen Interaktion. Ein kurzes Verlassen der Blase, ein Schritt zum Eintauchen ins Land. Ich wünsche mir einmal mehr ein größeres Verständnis für Sprache und denke, dass ich in der Vergangenheit mit ein wenig mehr Disziplin bessere Chancen auf ein Durchdringen hätte schaffen können. Vielleicht im nächsten Leben? Oder vielleicht auch, wenn Anke in drei Jahren ihr Sabbatjahr hat, was uns Zeit gibt ein paar Gegenden der Erde genauer unter die Lupe zu nehmen und dabei auch ein wenig mehr Sprache zu lernen.

Riesige Blüte auf Vulkankegel

Josua holt uns wie bestellt um fünf Uhr morgens ab, damit wir pünktlich gegen halb sieben am Flughafen von San Salvador eintreffen. Er studiert Englisch auf einer Privatuni und verdient sich sein Studium unter anderem mit Chauffeurdiensten. Auch ihn spreche ich einmal mehr auf den Präsidenten an. Und auch er ist sehr froh über den aktuellen Zustand des Landes. Vorher war es nicht möglich ein Geschäft zu eröffnen, ohne an Gangs zahlen zu müssen. Auch Überlandfahrten waren immer gefährlich. Mindestens sechs Tote pro Tag, manchmal aber auch dreißig oder mehr waren zu beklagen. Viele Menschen bleiben jetzt oder kehren zurück aus den Vereinigten Staaten. Genauso hat es mir gestern ein älteres Paar im Hostel erzählt, mit denen wir ein längeres Gespräch geführt haben. Selten habe ich eine so übereinstimmend positive Wahrnehmung über die Regierung eines Landes vernommen.

Kunde im Eisenwarengeschäft

Die Dämmerung vertreibt die Nacht und der Himmel färbt sich langsam ins rötliche. Eine Menge schwerbeladener Lastwagen fährt nördlich. Wir passieren eine Polizeikontrolle auf der anderen Straßenseite. Fünf Dienstwagen warten auf herauszuwinkende Fahrzeuge. Josua erzählt von dem sprunghaften Anstieg der Kontrollen seit dem letzten Jahr. Die Polizei kontrolliert zumeist auf Drogen und Alkohol. Dann erzählt er eine lustige Geschichte wie er unbedingt auf einer Party Alkohol trinken wollte, aber nachher noch eine lange Strecke mit fast sicherer Polizeikontrolle zurückfahren musste. Um die Ordnungshüter auszutricksen, sollte sein Wagen nach einem Touristenauto aussehen. So setzte er seine Idee um und befestigte ein Surfboard auf dem Dach. Er lacht, als er erzählt, wie er ohne weiteres hinschauen durchgewinkt wurde. Wir denken beide, dass dem gerade wieder aufblühenden Tourismus wohl keine Schwierigkeiten gemacht werden sollen. Devisen sind wichtig, damit die Stimmung im Land nicht kippt. Der Tourismussektor wird zunehmend zum Wirtschaftsfaktor.  Am Flughafen angekommen verabschieden wir uns herzlich. In seiner Offenheit und durch seien lustigen Erzählungen hat Josua mein Herz gerührt.
Die Freundlichkeit, manchmal in Worten, oft durch den Ausdruck im Gesicht oder kleine Gesten, die einen willkommen heißen, transportiert haben das Mögen leicht gemacht.
Mit einem Lächeln verlassen wir das augenblicklich so aufgeräumte Land und freuen uns auf den Aufenthalt in Nicaragua.

No items found.

Granada, eine Insel mit zwei Bergen, und das nördliche Hochland

Wir tragen uns in unserem Hostel in Granada für eine Abendtour an den Kraterrand des Masaya Vulkan Systems ein, genauer an den Rand des Nindiri, einer von zwei mit Lava gefüllten Kratern in Zentralamerika. Nur mit einem Fahrzeug darf man bis dorthin fahren, um im Gefahrenfall schnell flüchten zu können. Schon die indigene Urbevölkerung opferte Menschen zur Beruhigung der Götter. In der Neuzeit wurde dieser Brauch zuerst von Präsident Debayle und später im Bürgerkrieg durch die Sandinisten wieder aufgenommen, um politische Gegner zu entsorgen. Leider hält der Ausflug nicht, was er verspricht, weil nach endloser Warterei am Eingangstor und dem Besuch eines bestenfalls mittelmäßigen Museums auch am Kraterrand kaum Interessantes zu sehen ist. Auch dürfen wir wegen der Schwefeldämpfe nur sieben Minuten vor Ort bleiben. Die Lava befindet sich gefühlte zweihundert Meter tief im Krater. Durch die weit zurückliegende Schutzmauer ist nur an wenigen Stellen ein kleiner Teil der roten Glut zu sehen. Der Einblick in den Vulkan ist nur bedingt aufregend und so sind auch die anderen Besucher nicht besonders begeistert. Die Rückfahrt verläuft recht still. Der Vollmond ist an diesem Abend der Hauptdarsteller.

Friseurbesuch in Granada

Weil Martin noch nicht so weit ist unternehme ich mit meiner Kamera schon einen kleinen Stadtspaziergang. In der Kirche an unserer Ecke findet um sieben Uhr morgens der erste Gottesdienst statt. Lustig finde ich, dass es zwei Fahrradständer in der Kirche gibt und auch ein paar Räder daran angeschlossen sind. Ob Gott die Räder seiner Gläubigen in seinem Haus zu schützen weiß? Ich schaue eine Weile dem Treiben zu und gehe dann weiter Richtung Zentrum zur gelben Kathedrale. Hier sind gerade die ersten Gäste eingetroffen. Ein großer Hubwagen steht innen geparkt. Ein Blick nach oben zeigt die gerade im Entstehen begriffenen neuen Malereien. Zwei Deckenfelder werden von Motiven der Sintflut bedeckt. Auf einem sind in leuchtenden Farben Tiere der Arche zu bewundern. Elefant, Löwe und Bär finden hier ihren Platz.

Nach uns die Sintflut

Vor dem Gemäuer spielen ein paar Straßenkinder mit einem halbplatten Ball. Teilweise haben sie keine Schuhe an, ihre Kleidung und die Haare sind grau. Das schadet dem Engagement ihres Einsatzes aber nicht. Einer der Jungen ist zutraulich und erzählt mir stolz von dem sieben zu null Kantersieg seiner Mannschaft. In einer Ecke steht ein großer Sack voller leerer Plastikflaschen. Wahrscheinlich verdienen sie mit dem Sammeln ein paar bitter nötige Münzen zum Überleben.

Straßenkicker

Wir werden nach dem Frühstück abgeholt, um eine Kajaktour durch die Isletas de Granada zu unternehmen. Weit über dreihundert kleine Inseln vulkanischen Ursprungs liegen südöstlich der Stadt im Nicaragua See. Unser Guide zeigt uns während des dreistündigen Ausflugs eine große Anzahl Wasservögel und erklärt auch einiges zur Flora des Gebietes. Ein Teil der Wasserwege führt auf schmalen Pfaden entlang der Inseln. Hier sind die Isletas ein kleines Naturparadies. Weiter zum offenen Gewässer hin haben reiche Nicaraguaner ihre Ferienhäuser gebaut. So liegen einfache Holzhäuser der Fischer neben teuren Villen auf ummauerten Privatinseln. Wir legen an und bekommen jeweils eine Kokosnuss geöffnet und später das Fleisch zum Genießen rausgehebelt. Unser Guide ist offensichtlich in die Kokosnussverkäuferin verliebt, so dass unsere Pause etwas länger als geplant dauert. Dafür geht es danach auch auf direktem Weg zurück zum Einstiegsplatz.

Fischer von den Isletas

Mein zweiter Stadtspaziergang führt mich aus dem Zentrum hinaus in die deutlich ärmeren Wohnviertel. Hier ist nichts mehr zu sehen von prachtvollen Innenhöfen, weit vorstehenden, von geschnitzten Holzpfosten getragenen Dächern und hohen Decken in großen Wohnräumen. Wellblech für Wände und Dächer, deutlich mehr Schmutz auf den Straßen und verhärmte Gesichter zeigen die nicht touristische Seite der Stadt. Viele kleine buntgestrichene Verkaufsstände passen zu den ebenfalls bunten Hauswänden, die Armut bekennt hier Farbe.  Ich laufe eine Stunde durch die Gassen bevor ich Martin abhole und wir die Dämmerung nutzen und auf dem Hauptplatz vor der Kathedrale dem Treiben zuschauen. Viele Essstände buhlen um Gäste, an Tischen mit Betonplatte und Damebrettern wird mit Flaschenverschlüssen in zwei Farben als Spielsteinen engagiert gespielt. Eine zwölfköpfige Brass Band aus Frankreich, alles junge Studenten, spielt groß auf und zieht eine Menge Zuschauer an.

...und die Tuba

Wir beschließen unseren Abend im herrlich begrünten Innenhof des Garden Café mit einem leckeren Essen bevor wir uns auf den Rückweg zu unserem Hostel machen. Dabei kommen wir noch am Haus der Kultur vorbei, einem etwas in die Jahre gekommenen Palast gegenüber der Kathedrale. Ich sehe durch den weiten Flur auf eine Reihe Tische, an denen eine Menge Leute sitzen. Neugierig geworden gehen wir hinein und ich höre schon aus der Distanz das Aufrufen von Zahlen. Wir sind in einem Bingo Abend gelandet. Voller Begeisterung spielen vielleicht fünfzig meist ältere Leute, während der graumähnige Entrepreneur immer neue Zahlenkolonnen preisgibt. Die meisten Spieler haben mehrere Blätter vor sich und jeder hofft sein „Bingo“ in den Saal rufen zu dürfen. Ein letztes Highlight bevor wir dann in den Schlaf fallen.

Zu junger Obstverkäufer vor der Kathedrale

Zu unserem Glück kommen wir etwas eher an der Bushaltestelle an, so dass wir uns einen Sitzplatz im Chicken Bus sichern können bevor er über sein eigentliches Fassungsvermögen hinaus gefüllt wird. Wir fahren knappe zwei Stunden bis Rivas, dann bis San Jorge mit dem Taxi und schließlich mit der Fähre auf Ometepe, der größten Insel im Nicaragua See. Sie ist die wirkliche „Insel mit zwei Bergen“, in der Form fast eine acht steht jeweils ein Vulkan auf den beiden Teilen. Die Fähre hat erwartungsgemäß schon bessere Zeiten gesehen und ich bin froh als sie auf der Insel anlegt und wir Gustavo treffen, der uns in seinem Taxi zur Finca Mystica bringt. Ometepe ist ein Nationalpark, hauptsächlich leben die Einwohner hier von Tourismus und Landwirtschaft. Nur der nördliche Teil besitzt eine gepflasterte Straße. Wir wohnen auf dem Südteil des Eilands. Da sowohl Martin als auch ich seit ein paar Tagen Magengrummeln und leichten Durchfall haben, lassen wir den Tag in Ruhe auf dem Farmgelände ausklingen.

Alle Reisenden holen ihr Gepäck zur Weiterfahrt nach Ometepe

Obwohl wir noch weit entfernt von wieder hergestellt sind, unternehmen wir nach dem Frühstück eine Wanderung zu einem aus den Hängen des Vulkans fließenden Wasserfalls. Die Anstrengung haben wir deutlich unterschätzt und so keuschen wir immer weiter unserem Ziel entgegen, dauernd wieder Pausen einlegend. Wir haben noch Glück, dass uns eine Familie mit kleinem Kind ein Stück des noch befahrbaren Weges mit seinem Quad mitnimmt, aber auch so bleibt es eine echte Plackerei und Schweißbäche rinnen unsere Körper hinab. Eine Gruppe Brüllaffen ist weithin hörbar und dann sehen wir auch ein paar in den Baumwipfeln turnen. Ihre Schreie begleiten uns noch lange durch den Wald. Nach über vier Stunden und leichtem Klettern im Schlussanstieg erreichen wir das, was vom Wasserfall zur Trockenzeit noch übrig ist. Zwei schmale Fälle ergießen sich aus etwa sechzig Meter Höhe. Es ist trotzdem ein sehr schöner Platz und wir freuen uns über die Abkühlung nach der Strapaze. Ich wasche meine beiden T-Shirts, eins zum Tragen und das andere als Sonnenschutz, aus. Dann machen wir uns erfrischt an den Rückweg. Als wir wieder auf der noch befahrbaren Piste sind, kommen uns mehrere Rollerfahrer entgegen. Zwei scheitern an der Steigung und kippen seitwärts. Einen müssen wir wieder auf die Piste heben. Wir gehen weiter bis zur Hauptstraße und haben das Glück ein Tuk Tuk zu erwischen. Wenigstens die letzten drei von fünfzehn Kilometern durch die sengende Sonne bleiben uns so erspart.

Dörflicher Zwischenstopp auf dem Weg nach Ometepe

Unserem körperlichen Zustand nachgebend verbringen wir den Rest des Tages lesend und im Gespräch mit den anderen Gästen. Außer uns sind überwiegend Backpacker zwischen zwanzig und dreißig Jahren zu Gast. Nur ein nordkalifornisches älteres Ehepaar erhöht mit uns den Altersdurchschnitt deutlich. Angela und George, die Besitzer der Finca sind eine aus Colorado stammende US-amerikanische Familie. Die Eltern wohnen seit siebzehn Jahren auf der Insel, ihre beiden Mädchen wurden hier geboren. Ich freue mich an der guten Musik und unterhalte mich mit George über die unterschiedliche Musikkultur in Deutschland und den USA. Er erzählt, dass in seinem sechzehntausend Seelen Städtchen jeden Abend mindestens zehn kleinere Live-Konzerte stattfinden und selbst seine achtzigjährige Mutter noch oftmals Konzerte besucht. Wie anders sieht das bei uns zuhause aus! Es erklärt auch, warum englische und amerikanische Musik so starken Einfluss auf meine Generation haben. Neben der Vorliebe für US-amerikanische Pop-Kultur ist es auch einfach das durch live spielen vorhandene Können und die durch die Verankerung im kulturellen Leben entstehende hohe Qualität der Musik.

Werbung für das eigene Land

Nach der Fähre steht eine lange Fahrt durch die in der Trockenzeit öde wirkende Ebene an. Buschland und Weiden wechseln mit ärmlichen Siedlungen. Blechhütten mit im Staub spielenden Kindern, überall kleine improvisierte Verkaufsstände mit dem immer gleichen Angebot von gesalzten Nüssen, Süßigkeiten und in Plastiktütchen verpacktem Obst. Langsam wechseln wir in hügeliges Land, erste kleine Waldfläche tauchen auf. Dann erreichen wir Matagalpa, eine von Bergen umgebene emsige Provinzstadt. Durch die Kaffeeproduktion ist Matagalpa eine relativ wohlhabende Provinz, auch wenn sie überwiegend von einem Produkt und dessen Preis auf dem Weltmarkt abhängig ist. Der Einbruch des Preises im Jahre 2001 führte zu einer Hungersnot mit einigen Toten, hoher Arbeitslosigkeit und zum Zusammenbruch von Banken, denen die Farmer ihre Kredite nicht zurückzahlen konnten.  

Ometepe: Wir verlassen die Insel mit zwei Bergen


Wir tanken noch einmal Dollars am Geldautomaten, werden für die steile Auffahrt zu unserer letzten Station vom PKW in einen Allrad Pickup umgepflanzt und sind froh als wir auch diese holprige Anfahrt hinter uns haben und unsere Zimmer in der biologischen Station Aguati beziehen dürfen. Es ist inzwischen schon Nachmittag, so dass ich nur noch ein Taxi für den Ausflug am nächsten Morgen organisiere und wir uns dann in der deutlich kühleren Bergluft der Ruhe unserer Umgebung hingeben.

Uhrreparatur am Straßenrand

La Hammonia und der umliegende Selva Negra, Schwarzwald, ist eine 1974 von den Nachfahren ehemaliger deutscher Kolonisatoren übernommene Farm und Kaffeeplantage auf elfhundert bis achtzehnhundert Metern Höhe. Eine von über fünfundvierzigtausend Kaffeefarmen im heutigen Nicaragua.
Ein Drittel der Farm ist geschützter Nebelwald, ein weiteres wird zum extensiven Anbau von Schattenkaffee im gelichteten Wald und das letzte Drittel landwirtschaftlich genutzt. Am Vormittag wandern wir den unteren Teil des riesigen Geländes ab. Ein klassischer Bauernhof wie aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gepaart mit einer ebenfalls antiquiert wirkenden Kaffeeproduktion geben erst einmal ein recht romantisches Bild ab, einem Filmset eines Streifens über längst vergangene Zeiten durchaus entsprechend. Es gibt für alle Arbeitsfelder eigene größere Bereiche. Ein freundlicher Arbeiter erklärt uns die kleine Kaffeesträucher Aufzucht, wo von der Bohne zur Pflanze jedes Jahr vierzigtausend neue Sträucher gezogen werden. Vor einer Scheune laden zwei Arbeiter etwa fünfzehn Tankrucksäcke mit Spritzmittel. Ohne irgendeine Schutzkleidung gießen sie die Flüssigkeit aus einem großen Blecheimer in die Container um. Ein geschnitzter Elefantenkopf hängt an der Wand, Assoziationen an die Kolonialzeit in Afrika weckend.

Spritzmittel werden abgefüllt

Wir ziehen weiter und finden den offenen überdachten großen Hühnerstall und die kleine Käserei. Hier werden vom Manchego bis zum Gouda und Camembert verschiedene Sorten aus Kuh- und Ziegenmilch hergestellt. Weiter dem Weg folgend finden wir eine Anlage zur Kälberaufzucht. Auch einige Kühe warten auf ihren Weidegang. Unterhalb beginnen dann die ausgedehnten Kaffeeplantagen. Einige der alten Urwaldbäume wurden auf den gerodeten Flächen stehengelassen, um den Sträuchern den nötigen Schatten zu spenden. Auch wurden auf manchen Anbauflächen Avocado-, Orangen- und Zitronenbäume zu diesem Zwecke gepflanzt. Die Kaffeefrüchte sind schon abgeerntet, weswegen die Sträucher nun etwas struppig wirken. Zweihundertfünfzig Arbeiter und Angestellte arbeiten auf der Finca. Zur Erntezeit kommen noch einmal sechshundert Pflücker hinzu.  Neben dem Kindergarten an einem mit Seerosen bewachsenen großen Tümpel, einer Schule für Kinder bis zur sechsten Klasse, der kleinen und recht rudimentär wirkenden Krankenstation, sowie dem großen Brennholzlager kommen wir auch an Siedlungen der Arbeiter vorbei. Einfache Reihenhäuser, alle mit einem Eisenrohr als Schornstein aus der Wand ragend und einer SAT-Antenne auf dem Dach, erinnern ein wenig an Arbeiterunterkünfte im Ruhrgebiet aus der Hochzeit des Kohleabbaus. Die ganze Farm wirkt für uns aus der Zeit gefallen, für Nicaragua ist sie aber ein gut funktionierender Betrieb. Ein Museumsdorf das keins ist. Eine für den Besucher romantisch wirkende Umgebung, die den hart arbeitenden Menschen hier alles ist: Heimat, Arbeitsplatz, Schule, Krankenhaus, sozialer Lebensmittelpunkt. Für Touristen ein Ökoressort im angenehm kühlen Bergland des nördlichen Nicaraguas.
Junge Männer laden schwere Säcke mit Bohne von einem Lkw und stapeln sie auf eine Palette. Mehrere Hallen sind zur Lagerung der Ernte nebeneinander gebaut. In einer laufen zwei Fließbänder parallel, an denen jeweils einige Frauen sortieren.  Gegenüber wird auf einer mit einem Gaze-Tuch überspannten Fläche die noch feuchte Ernte hin und her geschoben. Es gibt verschiedene Lagerflächen für biologisch und konventionell angebauten Kaffee. Wir schauen uns auf unserem Weg zur Mittagspause noch die Schreinerei an, in der zwei Männer gerade an einem recht aufwendigen Rahmen arbeiten. Der ganze Betrieb berührt mich durch die grandiose Lage mitten in den Nebelwäldern eingebettet und auch durch den Zeitsprung, den wir hier aus unserer Sicht vornehmen. Auf der anderen Seite erinnert auch alles an die Ungerechtigkeit, die durch die Kolonialisierung der Europäer dem Rest der Welt angetan wurde. Anke und ich haben Anfang des Jahres im belgischen Saint Vith auf dem AGORA Theaterfestival das preisgekrönte Stück „Kaffee mit Zucker“ der in El Salvador und Deutschland aufgewachsenen Laia RiCa gesehen, worin diese Thematik geschichtlich behandelt wird. Deutsche, denen vom Staat das Land samt seiner Bewohner geschenkt wurde, um es urbar zu machen und so einen Mehrwert zu schaffen. Aber eben auf dem Rücken der damals versklavten Ureinwohner, die als eine Art Untermensch angesehen aller ihrer gewohnten Lebensumstände beraubt und als billige Arbeitskräfte missbraucht wurden. Unvergessen, wie die Plantagenbesitzerin sich in einem Film rühmte Kindern in der von ihr als persönliche soziale Leistung aufgebauten Schule in den späteren 1930er Jahren die deutsche Nationalhymne beizubringen... Aus ihrer eigenen Perspektive erzählt Laia RiCa in dem Stück die Auswirkungen des damaligen Unrechts bis in die heutige Zeit hinein – auf die Gesellschaft und auf sich persönlich.

Posen für den Fotografen

Nicaragua ist arm, hinter Haiti das zweitärmste Land Zentralamerikas. Jede feste und sichere Anstellung ist hier ein Geschenk in einem Land, wo sich ein Großteil durch Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Aber die Frage, die ich mir stelle ist, warum ist das Land so arm? Wie wäre die Entwicklung ohne all die Ausbeutung gewesen, womöglich sogar mit Zusammenarbeit stattdessen? Während wir den Nachmittag mit einer kleinen Wanderung durch den oberen Teil des Farmbesitzes, den mittlerweile geschützten Nebelwald unternehmen und den unglaublichen Vogelstimmen lauschen, bekomme ich meinen inneren Scheinwerfer weiterhin nicht fokussiert. Wie kann ein fairer Umgang mit der Vergangenheit in der Zukunft zu einem guten Umgang miteinander führen? Ich lese mir die Informationen auf der Seite von Selva Negra durch. Die sozialen Leistungen klingen gut, die Umsetzung eines nachhaltigen Betriebs mit Blick auf das Wohl der Arbeitenden scheint gegeben. Auch die Menschen auf der Farm hinterlassen größtenteils einen zufriedenen Eindruck. Vielleicht ist hier ein Stück Erde befriedet worden, sicher gilt es aber auch sich noch viel mehr Gedanken über koloniales Erbe zu machen. Auch fällt mir bei meiner kleinen Internetrecherche das fehlende Fair Trade Siegel auf, das ein Bekenntnis zu gerechterer Bezahlung der Arbeiter anzeigt.

Schweiß und Kaffeebohnen

An unserem letzten Tag im Land gehen wir den an der biologischen Station beginnenden Kreuzweg hinauf zum Hausberg. Über fünfzehn Stationen geht es steil bergan bevor wir dann von der Spitze einen schönen Blick über die waldreichen Hügel Matagalpas und Umgebung genießen. Zurück in unserem Zimmer wollen wir uns ausruhen, unsere Sachen und uns bereit für die lange Rückreise über Managua, Miami und Tampa machen. Ein Guide der Station erzählt uns aber von einem in einem Baum hockenden Faultier eine Viertelstunde den Berg hinauf. So machen wir uns noch einmal auf den Weg und finden das Tier auch tatsächlich in einem Wipfel auf einer Astgabel sitzend. Allzu viele Wildtiere haben wir nicht gesehen. Weder Nicaragua nach El Salvador können hier auch nur annährend mit Costa Rica mithalten. Gerade deswegen ist die Arbeit der biologischen Station Aguali so wichtig. Hier werden Erwachsene zu Guides und im Wildmanagement ausgebildet und Kinder in Englisch und einem schonenden Umgang mit der Natur unterrichtet. So sollen Weichen für eine bessere Zukunft mit Rücksichtnahme auf die Umwelt gestellt werden.
Auf der frühmorgendlichen Fahrt zum Flughafen erzähle ich lange mit Jazzer, der aus Matagalpa stammt und in seinem erlernten Beruf als Civil Engineer keine Arbeit mehr findet. Er erzählt mir, wie wichtig ihm seine jetzige Ausbildung durch die Station ist und was sich durch ihre Aktionen vor Ort in der Sicht der Menschen auf ihre Umwelt positiv ändert. Wuppertal als Partnerstadt unterstützt die Station finanziell und durch ein jährliches Reisestipendium in die Stadt meiner Vorfahren. Bevor wir am Flughafen aussteigen gebe ich Jazzer, der dieses Jahr in der Ausscheidung um dieses Stipendium gute Chancen hat, meine Telefonnummer und hoffe, dass wir uns in Deutschland wiedertreffen und ich ihm meine Heimat ein wenig näherbringen kann.

No items found.

No items found.

USA Nicaragua El Salvador