Europa 1 Südwest

Auf dem E-Bike nach Portugal

Europa 1 Südwest

Von einem, der loszieht...

Die ersten beiden Tage sind erfahren und nach Maastricht, Niederlande ist heute Gembloux in Belgien das Ziel. Zwischen Aachen und hier muss es in den letzten Tagen ein starkes Unwetter gegeben haben. Sehr viele, teilweise monumentale Bäume sind entwurzelt oder einfach mittig zerborsten. In einige Hohlwege sind so viele Bäume gefallen, dass ein Durchkommen nicht möglich ist und Umwege unvermeidlich sind. Stellenweise schaffe ich es auch durch das Zerbrechen von Ästen mir einen Weg freizulegen. Das kostet Zeit und Kraft, erschafft aber auch ein Gefühl von Abenteuer mitten im Herzen Europas.

Morgen geht es weiter ins belgische Inland, die europäische Kulturhauptstadt 2015 Mons ist Etappenziel. Ich habe eine Unterkunft im Zentrum der Stadt gewählt, nachdem ich heute in einem ernüchterndem Siebziger Jahre Klotz der Best Western Kette gestrandet bin.

Das stundenlange Radfahren ist eine Meditation in der Bewegung und die Monotonie des gleichmäßigen Tretens führt zu völlig denkfreien Minuten. Ich fühle teilweise eine große Freiheit, das Herz springt und jauchzt und dann wieder eine Sinnlosigkeit, ausgesetzt der Natur mit Wind und Regen. Das Gelände ist bisher eher schlicht, eben bis leicht hügelig und stark landwirtschaftlich geprägt. Die Orte, abgesehen von Städten wie Maastricht, nicht sehr interessant. Ich freue mich nun unterwegs zu sein, gleichzeitig fehlen mir aber auch Anke, Eddy und Tomm. Die Familie ist einwichtiger Hafen, ein Ruhepol und ohne sie fühle ich mich ein wenig nackt. Schön, dass am Ende ein gemeinsamer Urlaub steht. So ist meine Tour ein interessantes Intermezzo und die Möglichkeit das eigene Gewicht mit dem der Familie auszuloten.

Durch die Kombination von GPS geleitetem Fahren und des Zusatzantriebs der Akkus erreiche ich eine unkomplizierte Art von Freiheit. Ich kann mich per Knopfdruck durch eher unfreundliche Gebiete verschnellern und werde durch die fremd gesteuerte Navigation dem Zufall näher gebracht. Es wechseln sich stille Naturlandschaften mit lauten Schnellstraßen ab. Das Gefühl von einer höheren Macht durch das Land gezappt zu werden lässt mich schmunzeln. Eine Collage aus verschiedensten Landschaftsschnipseln zieht vorbei und so erkenne ich, wie intensiv der Mensch hier alles nutzt, teils pflegend aber auch oftmals zerstörend. Emsig wird im Garten oder am Haus gearbeitet, kleine Grundstücke werden intensiv gestaltet. Es gibt wenige Waldgebiete und dann auch meistens quadratisch praktisch gut. Alte und neue Ziegelhäuser bestimmen zusammen mit Weiden und manchmal Feldern die Kulturlandschaft. Oftmals sieht man schon die Kirchtürme aus dem umgebenden Grün hervorstechen, bevor eine gewürfelte Drapierung aus Häusern um den Dorfmittelpunkt herum sichtbar wird. An den Ausfallstraßen die Baumärkte, die Pflanzengroßhandlungen, Tankstellen und riesige Kreisverkehre, die einen von Ort zu Ort leiten.

Im Hotel folgt ein Ablauf, der jetzt schon routinierter wird. Akkus, Navigationsgerät und Telefon laden, Wäsche waschen, duschen und die Herberge für den nächsten Tag buchen. Ein bisschen zur Erholung im Netz lesen, telefonieren und Musik hören. Bücher habe ich keine, was ein kleiner Verlust ist, weil lesend versinken immer schon wichtig für mich war.

Von meinem neuen GPS bin ich sehr angetan. Nachdem das alte aus geringer Höhe auf den Boden gefallen ist und nur noch das Wort „Ansichten“ zeigt, war ich zuerst verunsichert, da mein Kartenmaterial nicht ausreichend für eine gute Navigation wäre. Zum Glück habe ich sehr nahe ein Fahrradgeschäft aufgetan und, neben dem erhalten von nötigen Hinweisen zum Auffinden meines Etappenziels, auch ein neues Gerät kaufen können. Die Informationen werden jetzt besser aufbereitet und das Display ist bei hellem Licht gut lesbar.

Im Hotel Pastis in Maastricht gab es auf Grund eines Blitzeinschlags am Vortag noch kein Internet und der Kredit meines Handys war während der langen Zeit in der heimischen Schublade abgelaufen – technischer Zusammenbruch am ersten Tag. Die ganze Fahrt hängt von Strom ab, das zeigt eine Vielzahl von Ladekabeln und Geräten in meiner Packtasche: E-Bike Akkus, GPS-, Foto-, Handy- und Computerladekabel. Ein bisschen viele Hundeleinen für ein einziges Herrchen. Aber auch eine schöne Möglichkeit, um sich auf die Umgebung konzentrieren zu können und den Rhythmus nicht durch dauerndes auf die Karte schauen unterbrechen zu müssen.

Ich benutze beim Navigieren einfach die Zieleingabe und lasse mich dann leiten. Das entspricht sehr meiner Art des Denkens und Lebens: Mit geringer Führung, geringem Aufwand und großem Vertrauen auf Kontrolle verzichten und offen für das Kommende sein. Die Wege, die durch die Technik errechnet und mir dann angezeigt sind, wären vor der Computerzeit so nicht erschließbar gewesen. Nur Einheimische hätten die jeweiligen Teilstücke gekannt, ohne dass eine derartige Verzahnung jemals möglich gewesen wäre. Bei meinen früheren Fahrradtouren waren Hauptstraßen immer schon störend, aber auch unverzichtbar, um nicht das Ziel in zu weite Ferne zu rücken und den Rhythmus vollständig zu zerreissen. Jetzt fahre ich auf landwirtschaftlichen Wegen, Nebenstraßen und lokalen Radnetzen genauso schnell wie vorher auf Bundesstrassen. Welch erhöhter Genuss das ist, kann jeder nachempfinden, der schon einmal stundenlang die LKW-Meute bei Regen neben sich entlang hastend hatte.

Das Wort Gegenwind bekommt nach siebzig Kilometer Dauergebläse eine andere Dimension. Auf der flachen Etappe bis Mons, die in großen Teilen entlang des Canal du Centre führt, ist die Ausrichtung der Grashalme Programm und ich merke am eigenen Körper was andauernder Westwind bedeutet. Ohne elektrische Hilfe wäre das ein sehr harter Kampf geworden, so ist es nur unangenehm den Wind dauernd im Gesicht zu haben, in den Ohren sausend und die Beine leicht zermürbend. Die Temperatur ist gefallen, so dass ich fast die ganze Zeit in langer Hose und mit meiner winddichten Regenjacke fahre. Die Landschaft ist weiter recht monoton grün, der Kanal aber eine schöne Abwechslung und sogar spektakulär, wo er zuerst in etwa 20 Meter Höhe auf Stelzen über einem Dorf verläuft und kurze Zeit später vom Schiffshebewerk Strépy-Thieu abrupt unterbrochen wird. In den zwei unabhängig voneinander arbeitenden Trögen überwinden Schiffe bis zu einer Tonnage von 1350to einen Höhenunterschied von 73,15 Metern. Ein unglaubliches Bild, wenn die Schiffe mit scheinbarer Leichtigkeit in ihren Wannen vom unteren zum oberen Kanalabschnitt gehievt werden. Der Gedanke unserer Möglichkeiten im Kollektiv lässt mich die Menschen als maximal vergrößerte Ameisen sehen. Was für Umwälzarbeiten in solch einem Projekt stecken, Planungen, Material, Logistik – unfassbar. Die optische Wahrnehmung des Bauwerks vom oberen Kanalabschnitt kommend ist grandios: Eine Wasserstraße, an einem schwarzen Koloss in der Luft endend, den Himmel als Grenze.

In der EM-Halbzeitpause möchte ich den kurzen Weg von der Herberge zum Belfry, dem alten Glockenturm von Mons, hochgehen, werde aber nach ein paar Metern von einem Wolkenbruch gehindert. Ich finde Zuflucht unter dem dichten Blätterdach eines Baumes und höre den enormen Donnerdetonationen zu. Plötzlich beginnt das 49-stimmige Glockenspiel des Turms seine mir nicht namentlich bekannte klassische Melodie zu spielen. Zusammen mit zuckenden Blitzen, Donnerhall und den leider langsam durch mein Blätterdach tropfenden Regen ein fast surreales Schauspiel.

Wie anders der Eindruck der Menge am Abend beim Public Viewing auf dem Grand´ Place. Ein Menschenauflauf in den belgischen Nationalfarben, Großleinwände, Wurst-Bratereien, viel Bier und das singen der Nationalhymne. Zu viel für mich, ich gehe auf Umwegen durch leere Gassen mit abendlichen Sonnenreflektionen auf dem noch feuchten Kopfsteinpflaster in Richtung Herberge. Die Geräusche der Schaulustigen als Hintergrundmusik, den musealen Charakter der Stadt mit der Gegenwart aussöhnend.

Der Trommelschlag des Regens weckt mich, ein Blick durchs Fenster zeigt tiefes Grau und ich überlege mir gute Gründe für eine Ein-Mann-Tour nach Portugal. Im Augenblick fallen mir nicht so viele ein. 110 Kilometer Regenfahrt ist nicht der größte Ansporn zum Bett verlassen. Erst einmal frühstücken und hoffen, dass der Starkregen wenigstens in Niesel zusammenfällt.

Pünktlich zum Etappenstart stoppt der Niederschlag und die ganze Fahrt tropft es nur von Zeit zu Zeit. Dies ist der erste Tag, an dem sich meine Beine ohne Mühe drehen und ich fühle mich körperlich auf eine höhere Stufe gehoben. Das Terrain wird jetzt durch rollende Hügellandschaft bestimmt, die Fahrt ein stundenlanges auf und ab, zwischenzeitlich von ein paar Sonnenstrahlen unterstützt.

Aus einem Foto am ersten Tag entsteht eine Serie: Kollateralschaden des Individualverkehrs. Überfahrene Tiere nutze ich als Möglichkeit den Weg etwas zu gliedern. Immer wieder steige ich vom Rad und fotografiere die Tiertorsi: Hase, Igel, Marder und Krähe kommen in die Sammlung. Auch eine Art, sich Europa zu erschließen. Ich bin gespannt, welche Opfer die Fauna auf weiterem Weg für mich bereit stellt...

Die Grenze zwischen Belgien und Frankreich muss ich grün genommen haben, als ich aus dem Wald komme sind die Nummernschilder französische. Das passiert mir nach der deutsch-niederländischen Grenze schon zum zweiten Mal und ich geniesse, dass meine Reisefreiheit innerhalb der Europäischen Union mich keinerlei Folgen fürchten lässt. Gestartet bin ich nach der Brexit-Nacht, so dass ich mir einige Gedanken über die Zukunft der EU mache. Das grenzenlose Reisen im Schengenraum ist für mich eine ebenso schöne und praktische Erfahrung wie das Nutzen einer gemeinsamen Währung. Beides sind Privilege, die noch nie für so viele Bewohner selbstverständlich waren. Das es trotzdem eine große Menge von Europäern gibt, die diese, wie auch andere aus dem Zusammenschluss hervorgegangenen Freiheiten und Vereinfachungen bekämpfen, ist nicht leicht zu verstehen. Da es für so viele scheinbar keine zufriedenstellende Rolle gibt und sie den Rückfall in den Nationalstaat einer größeren Vision vorziehen, muss Europa neu und weiter gedacht werden, um möglichst viele mitzunehmen in eine gemeinsame Zukunft.

Einige Fehler der jüngeren Vergangenheit sind gut sichtbar:  Die Verödung der Dörfer, wo ein Dorfladen schon ein Auszeichnungskriterium ist. Stattdessen Megashops auf der grünen Wiese mit vierzig Kassen aufwärts. Die Innenstädte fern der Metropolen füllen sich mit Ramschläden, die Einkaufsstraßen sind mit immer gleichen Kettenläden besetzt. Die Bevölkerung zieht vom Land in wenige, stetig weiter wachsende Städte. Die Produktion wird weit weg verlagert, die ehemalige Arbeiterschicht hat nur noch das Privatfernsehen als Ersatz für Identifikation. Entwurzelung im eigenen Land. Die Gesellschafts- und Gehaltsschichten driften weiter auseinander. Lösungen weiß ich leider auch keine, ich beobachte nur die komlexen Probleme.

Fünfzig Kilometer vor Paris schlafe ich als zufriedener Europäer in Schloss Raray. Ein etwas heruntergekommenes, landschaftlich schön gelegenes Kleinod des 17.Jahrhunderts, heute Golfhotel. Mein Blick geht nach hinten raus, ich sehe ein Putting-Grün und alle zwanzig Minuten ein Golfwägelchen, das den nächsten Rentner zum Einlochen herbeifährt. Es ist leicht, Europa zu mögen, wenn es einem finanziell gut geht und man sich die achtzig Euro für eine Nacht im Schloss leisten kann – sei es auch weit nach dessen glänzender Zeit.

Ich wasche, wie jeden Tag, meine Wäsche im Spülstein, plane den nächsten Tag und hole mir neue Energie aus der Steckdose. Für mich selbst steht eine Badewanne bereit. Die erste, die ich seit langer Zeit genieße. Die Muskeln sind gut fühlbar, genauso der Arsch. Zum Glück aber alles in einem unter sportlichen Aspekt hinnehmbaren Rahmen, keine wunden Stellen, nichts, was das Weiterfahren hindert.

Meine Route ändert sich jeden Tag ein bisschen, da ich die Hotels immer nur ein, höchstens zwei Tage im Voraus bei einem der bekannten Hotelportale buche. Ich arbeite dabei mit Google Maps, um mir Umwege zu ersparen und gleiche das Ergebnis dann mit dem Navigationsgerät ab. So kann ich mir sicher sein, dass Muskeln und Motor mich im inzwischen geübten Zusammenspiel gut zum nächsten Ziel bringen.

Am Telefon erzähle ich meiner Familie, dass ich auf der heutigen Etappe aus Versehen einen Abschnitt auf der Autobahn zurückgelegt habe. Laut meiner Navigation sollte hier eine Route National verlaufen, die aber nun zu einer Verlängerung der bestehenden Autobahn ausgebaut wird. Da die Beschilderung noch fehlte und ich damit beschäftigt war, die aus dem Ausbau resultierenden Veränderungen mit den GPS-Daten in Einklang zu bringen, fand ich mich plötzlich ungewollt auf verbotenem Terrain. Statt zum Geisterfahrer zu werden und dann auch einen größeren Umweg fahren zu müssen, entschied ich mich die Turbo Unterstützung einzuschalten und auf der nicht viel befahrenen Strecke mit 45km/h die sechs Kilometer bis zur nächsten Ausfahrt zurückzulegen. Leicht beängstigend, aber letztendlich wegen des breiten Standstreifens auch lustig und sicher.

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Flatlands and rolling hills...

Kurz vor Paris fahre ich unter einer der Hauptstromtrassen zur Versorgung der Stadt entlang. Es sind so viele Starkstromleitungen nebeneinander, dass ich in meinen Händen ein Kribbeln spüre. Zum Glück sehe ich keine Häuser in der Nähe.

Die Durchquerung Paris von Nord nach Süd ist auch eine kleine Fahrt um die Welt. In den Banlieues, den Vorstädten mit ihren seit den 50er-Jahren brutal eingepflanzten Hochhaussiedlungen, den Cités, leben heute überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund, oftmals aus den ehemaligen französischen Kolonien. Die damals als recht komfortable Siedlungen für die in die Städte drängenden Arbeiter gebauten Cités sind heute oft Manifestierungen des sozialen Abstiegs mit großen Problemen für die Einwohner, einer Stigmatisierung zu entkommen.

Kurz nach der ersten Cité lässt mich mein Hinterreifen im Stich. Luft entweicht langsam und ich wabbele durch die Kurven eines verdreckten Industriegebiets. Der erste Reifenwechsel seit vielen Jahren steht an und ich hoffe, dass ich das gut hinbekomme. Alles nötige, einschließlich eines neuen Schlauchs ist vorhanden und um die kölscheste aller Uhrzeiten, 11.11 Uhr, ist nach einer knappen halben Stunde das Rad wieder montiert. Allerdings gibt die mit dem Rad gelieferte Pumpe nicht genug Druck in den Reifen, so dass es erst einmal nur zum Schieben mit meinen25 Kilogramm Packgewicht reicht. Nach hundert Metern eine 24-Stunden-Waschstrasse, die mit Münzeinwurf funktioniert. Ich finde das Pressluftgerät, aber leider ist der Schlauch abgeschnitten. Den konnte wohl jemand gut gebrauchen... Eine nahegelegene Firma, die Autos prüft, verweigert mir leider ihr Gerät. Die danebenliegende Behindertenwerkstatt ist wesentlich freundlicher, deren Apparat hat aber keinen Anschluss für Ventile. Sie verweisen mich an die nächste Tankstelle in 300m Entfernung. Eine Gruppe junger Männer versucht hier genug Luft in ihren Hinterreifen zu pumpen. Gemeinsam bekommen wir erst das Auto und dann mein Rad wieder fit. Mit immerhin drei bar auf den Reifen fahre ich, recht komfortabel rollend, weiter ins Stadtgebiet von Paris.

Als ich die Banlieues verlasse, ändert sich zwar die Bebauung, die Bevölkerungsmischung allerdings noch nicht. Ich sehe, dass hier allerorts Armut und auch Verwahrlosung herrschen. Es sind sehr viele Menschen auf der Strasse, viel mehr Fußgänger als es sie in unseren Städten in Deutschland gibt. An den Straßenrändern sitzen Gruppen im Gespräch zusammen auf der Erde. Es liegt eine Menge Müll herum. An einem großen Kreisverkehr sind es Tonnen von alten Möbeln, Kleidung, Kartons und verdorbenen Esswaren. Nutten warten auf Kundschaft und viele Menschen stehen scheinbar grundlos herum. Ein Anblick, der mich an afrikanische oder südamerikanische Slums erinnert. Ich bin froh, mittags durchzufahren und auch, dass meine Taschen nicht durchsichtig sind. Mein ganzes Reisegeld und Fotoausrüstung wären für manchen Bewohner wohl ein Jahreseinkommen. Ich wage es auch nicht zu fotografieren, obwohl mir das sonst selten passiert. Mir weht die alte Dead Kennedys Lyrik „Holiday in other peoples misery“ durch den Kopf.

Auch die Innenstadt ist kurz vor dem Verkehrsinfarkt. Die Kreuzungen sind verstopft von Transportern, Motorroller zwängen sich durch kleinste Lücken und die Autos warten auf ein Weiterkommen. Ich schlängle mich durch den Verkehr, achte kaum auf rote Ampeln und nutze alle Möglichkeiten inklusive Gehwegen, um hier nicht für Stunden in den Abgasen festzusitzen. Dann eine Durchfahrt und ich befinde mich auf dem Innenhof am Louvre – eine für motorisierte Fahrzeuge gesperrte Insel der Ruhe. Hier habe ich vor Jahren schon mit Anke und Eddy, noch vor Tomms Geburt, gesessen. Direkt fällt der Stress ab und ich genieße ein paar Minuten die Touristenströme um mich herum.  Das Fahren in der Stadt fordert volle Konzentration, weil neben dem Verkehr auch die Navigation erhöhte Aufmerksamkeit verlangt.

Der Süden der Stadt ist sichtbar reicher. Ich werde von meinem Navigationsgerät kilometerlang durch einen Grünkorridor geführt. Gut ausgestattete Kinderspielplätze, schöne Basketballfelder und gepflegte Blumenbeete begleiten mich.  Viele Einfamilien- und kleine Mehrfamilienhäuser umschließen den Park. Hier sind wesentlich weniger, dafür aber hellhäutigere Menschen zu Hause. Das wohlhabende Paris.

In Gif-sur-Yvette, etwa 20km südlich von Paris, checke ich ins Hotel ein und nutze die Badewanne, um das Loch im Schlauch zu orten. Der zweite Flicken sitzt. Ich kaufe mir trotzdem noch einen weiteren Ersatzschlauch und eine bessere Luftpumpe. Mitten auf dem Land hätte mich meine Panne sehr viel Zeit kosten können.

Elvis lebt- und heute habe ich ihn auf dem Fahrrad gesehen. Er ist schlanker geworden, aber Hammerkoteletten und Sonnenbrille passen ihm noch wie zu besten Las Vegas Zeiten. Das Fahrradfahren scheint ihn jung zu halten, trotz seines Alters hat er kaum Falten. Ich nehme mir vor, in den nächsten Tagen zum Friseur zu gehen. Da ich nur auf der unteren Gesichtshälfte mit dem King mithalten kann, werde ich aus dem spärlichen Haupthaar das Beste rausholen lassen: 6mm

Während der Fahrt denke ich immer wieder über Jacks Tod nach, wie ein einziger Moment das Leben verändern oder beenden kann. Was für eine unglaublich große Rolle der Zufall spielt, der alles planen ad Absurdum führt. Keiner an den man sich wenden kann, um sich zu bedanken oder sein Leid rauszubrüllen. Es ist nicht verwunderlich, dass vieleMenschen die Religion brauchen, um mit den Unwägbarkeiten des Lebens fertig zu werden. Ich bin über Ihren Tod tieftraurig, auch weil er so ungerecht früh eine zutiefst liebe Frau getroffen hat. Ich hoffe, Joe wird einen Neuanfang schaffen und sich eine neue Basis aufbauen. Es ist so viel weggebrochen, ein Leben, und damit auch ein Lebenskonzept, ist einfach verschwunden und hinterlässt nur Trauer und Fassungslosigkeit.

Jack ist in Bangkok bei dem Besuch im Kiosk einer Freundin von einem durch die Schaufensterscheibe fliegenden Auto an die Wand genagelt worden. Nur Sekunden zuvor hat sie ihrer Freundin deren Baby zurückgereicht. Was ist Glück im Unglück? Schneller Tod oder nur ein Opfer...?

Die Vergangenheit ist Erinnerung, die Zukunft liegt noch entfernt vor uns, trotzdem ist es so schwierig, das Jetzt zu genießen und nicht dem Hype hinterher zu rennen oder dauernd zu denken man verpasse etwas. Die kleinen Momente zu lieben und den Moment zu leben ist eine hohe Kunst und ich freue mich immer wieder, wenn es mir für eine kurze Zeit bewusst gelingt.

Kurz nach Chartres sehe ich im Westen Regen mit dem Wind näher kommen. Ich bin auf einer Ebene Richtung Chateaudun unterwegs und während ich noch in der Sonne fahre, weiß ich schon, dass in wenigen Minuten auch hier viel Wasser vom Himmel fallen wird. Als die ersten Tropfen als Vorboten durch die Böen heran getrieben werden drehe ich schnell um und fahre ein paar hundert Meter zurück in das gerade durchquerte Dorf. Auf der Suche nach einem Unterstand finde ich eine Garage, in der ein älteres Paar Türen anstreicht. Ich frage, ob ich mich dazu gesellen kann, und so stehen wir zwanzig Minuten zusammen und unterhalten uns über Alter, Familie und das es viele französischen Rentner der Steuererleichterungen wegen nach Portugal zieht. Mein Französisch ist leider seit Schulzeiten nicht besser geworden, aber um die Hälfte zu verstehen und die andere zu erraten reicht es in diesem Falle aus. Als der Regen schließlich nachlässt ziehe ich meine Regenjacke an und wir verabschieden uns mit Händeschütteln.

Kurze Zeit später sehe ich zwei Fasanenmännchen am Feldrand. Viel zu schnell verschwinden die beiden ins Korn und ich radele weiter. Fünf Kilometer vor Chateaudun ist mein Akku leer und ich muss mir nach fast 120 Kilometer gegen den Wind anfahren die letzten Hügel mit allerletzter Kraft erkämpfen. Gegenwart kann in vielen Facetten seltsam wunderbar sein und ich versuche auch diese Momente zu genießen.

Zwischen Chateaudun und Tours fahre ich erstmals längere Strecken auf der Route National, vergleichbar der deutschen Bundesstraße. Da es keine Randstreifen gibt, quetsche ich mich möglichst eng an die Randmarkierung. Es ist reger Verkehr und besonders die LKW sind durch ihre Größe und den entstehenden Sog unangenehm. Ich fahre automatisch schneller und bin immer wieder froh, wenn es eine zeitlang möglich ist mich über kleinere Wege meinem Ziel zu nähern. Um das Akku vor dem Etappenziel nicht wieder aufzubrauchen benutze ich nur die untersten zwei Einstellungen und obwohl es kaum steile Anstiege gibt zermürben mich die vielen kleinen Erhebungen. Gegen Ende der Strecke freue ich mich nur noch auf mein Hotel.

Die Überlegung einen Ruhetag einzulegen verwerfe ich und plane stattdessen die nächsten Zielorte so um, das ich nur neunzig Kilometer pro Tag zurücklege. So verliere ich einen Tag auf die nächste Woche verteilt, habe aber dafür keine Probleme mehr mit zu wenig Elektroschub.Ich buche heute alle Hotels bis Biarritz vor, da am Atlantik die Saison angefangen hat und ich sonst nur sehr wenig und dafür teure Auswahl hätte.

Die Freude in ein paar Tagen hoffentlich am Meer zu sein lässt die gegen Ende der Etappe eingetretene Lustlosigkeit wieder schwinden. Auch die Schönheit meiner Herberge nach den sehr einfachen Unterkünften der letzten beiden Tage baut mich wieder auf.

Ein gutes Essen, freundliche Leute bei kleinen Unterhaltungen oder eben ein schönes Zimmer helfen sehr, die Motivation aufrecht zu halten. Da ich die meiste Zeit allein bin, sind es oftmals Kleinigkeiten, die leichte Trübsal in ein Hochgefühl verwandeln können. Diese relativ labile Stimmung hängt sicherlich neben dem auf mich allein gestellt sein auch mit der Anstrengung zusammen. Da ich kein großer Kämpfer bin, ist es meine positive Grundstimmung, die mich bei Laune hält, auch wenn der Körper Ruhe möchte.

Endlich hat der bisher stetig aus südwestlicher Richtung kommende Wind auf Westwind gedreht. Nach acht Tagen dagegen anfahren ist das eine echte Erleichterung. Der erstmals fast durchgängig blaue Himmel, eine angenehm gestiegene Temperatur und die Verkürzung der Etappe führen zu einer Genussfahrt.

La Grand Maison in Pas-de-Jeusieht von außen wie ein unbewohntes und heruntergekommenes Landgut aus. Da meinGPS keine Hausnummer annehmen wollte und ich mir natürlich auch keine gemerkt habe, fahre ich erst einmal vorbei, drehe am Ende des Ortes, um dann vor dem verschlossenen Tor zu stehen. Trotz dem Schild mit der Bitte einzutreten, gibt das Schloss nicht nach und ich stehe etwas ratlos davor. Fünf Minuten später hält ein silberner Mercedes neben mir mit einem sympathischen leicht ergrauten, langhaarigen Mann in den späten Vierzigern am Steuer und seiner Tochter auf dem Beifahrersitz. Es ist Ben, immigrierter Engländer, Berufsschlagzeuger und Besitzer des Grand Maison, der sich mit Frau und Tochter hier vor einigen Jahren seinen Traum vom Landleben erfüllt hat. Er öffnet das Tor und ich stehe in einer Oase, einem alten Herrensitz mit riesigem Sekoya, einer Holzterrasse in Flussrichtung und einer Menge Arbeit für die nächsten Jahre. Da das Zimmer noch nicht fertig ist gehe ich die hundert Meter die Straße herunter und esse im einzigen Restaurant des kleinen Ortes eine Wurstplatte mit lokalen Produkten und als Dessert eine köstliche Birnentorte.

Ben teilt mir seine Entrüstung über den Brexit mit, während er mich selbstredend „upgraded“ und ich meine hundert Quadratmeter Wohnung gezeigt bekomme. Wir sind uns von Anfang an sympathisch und beschließen heute Abend das EM-Viertelfinale Deutschland - Italien zusammen zu schauen. Er erzählt, dass er auch Halbwaliser, aber zuerst Europäer sei. Somit haben wir beide noch mindestens zwei Eisen im EM-Feuer: Ben Frankreich und Wales und ich Deutschland und Portugal. Ich verbringe einen sonnigen Nachmittag im Hof und genieße die fast private Atmosphäre.

Das bleierne Wetter hat mich wieder, bei etwa zwanzig Grad ist der Himmel dicht bewölkt. Wenigstens der Wind hat weiter abgeschwächt und es bleibt trocken. Ich sammle noch mehr tote Tiere für meine Fotoserie und komme inzwischen auf eine größere Anzahl verschiedenster Exemplare. Komischerweise ist bisher weder Hund noch Katze dabei. Aus meiner Jugend sind die als Unfalloper noch so gut in Erinnerung.Vielleicht liegt es daran, dass herumstreunende Haustiere seltener geworden sind. Innerhalb von zwanzig Metern bin ich auf zwei völlig unterschiedliche Echsenarten gestoßen und frage mich, ob hier der versuchte Terrariumsausbruch fatal geendet ist. Die beiden sahen auf jeden Fall nicht nach in Europaheimischen Arten aus.

Die Tour bringt auch eine Menge Monotonie mit sich und ich mache mir Gedanken über die Zugkraft von Fernsehen, Videospielen und anderen Spielarten der Berieselung gegenüber der dagegen oft langsam fließenden Realität. Das Besondere im Kleinen ist wohl für viele Menschen nicht mehr bemerkenswert. Gegenüber den schnellen Schnitten erlebe ich hier gerade die Verlangsamung allen Geschehens. Eher wie ein russischer Roman des frühen 20. Jahrhunderts. Ein mit seinen langen Hinterbeinen das Weite suchender Hase im Hohlweg freut mich sehr. Ein paar turtelnde Schmetterlinge, der laut schmetternder Vogel lassen mich aufwachen aus dem Trott des gleichmäßigen Tretens.

Am Morgen fahre ich jetzt die ersten vierzig Kilometer am Stück bevor ich mir mein zweites Frühstück schmecken lasse und dabei ein wenig die Beine vertrete. Meistens suche ich dafür einen Dorfplatz oder den Eingang einer Kirche auf, da kann ich beim essen ein bisschen dem örtlichen Leben zuschauen. Öfters kommt es neben dem obligatorischen Grüßen zu einem kleinen Tratsch über Wetter, Ziel der Reise oder andere Alltagsdinge. Danach fahre ich immer, bis Lust oder Luft knappwerden und ruhe mich am Weg- oder Straßenrand ein paar Minuten aus. Auch die Reichweite meiner beiden Akkus habe ich jetzt gut im Blick. Ist zu einem bestimmten Zeitpunkt noch genug Strom da, gönne ich mir ein paar schnellere Kilometer mit einer höheren Energiebeigabe.

Seit zwei Tagen trage ich während des Fahrens durchgehend meine GoreTex-Jacke, damit keine weitere Zugluft auf meine Schulter trifft. Durch den ewigen Schweißfilm auf der Haut und den stetigen Wind ist meine linke Seite verhärtet. Bevor das schlimmere Ausmaße annimmt, versuche ich sie zu schützen. Da aber die Jacke auch winddicht ist, schwitze ich umso mehr. Deswegen ziehe ich immer den unteren Reißverschluss nach oben und fahre so mit einer Art orangenem Cape wie Super E-biker durch Frankreich. Die Schulter fühlt sich schon viel besser an, egal wenn ich mich dafür ein bisschen zum Narren mache.

Die Etappe ist auf eine Art schön, die ich nicht begreife. Es hat sich nichts Wesentliches an der Landschaft geändert, die Wolken sind wieder am Himmel, absolute Windstille. Die Straße liegt fast ohne Verkehr vor mir und die Streckenführung ist sehr angenehm. Nach fünfzig Kilometern erreiche in einen Hügel mit einer verwitterten Kirche und einem ummauerten alten Friedhof. Ich höre nichts außer den Vögeln in verschiedenen Entfernungen. Der Ausblick ist nicht spektakulär, aber hübsch. Bei sehr guter Sicht blicke ich kilometerweit über Felder und Wälder, dazwischen einzelne versprengte Gehöfte. Ich steige ab, gehe die paar Meter zur Kirche hoch und besuche kurz den daneben liegenden Friedhof. An der Hecke neben der Kirche hängen zwei Jakobsmuscheln an roten Stoffbändern. Ich denke über das Leben und vor allem über den Tod nach. Das hier ist ein Ort der Kraft. Noch in Gedanken steige ich wieder auf und während ich den Hügel hinabrolle ergreift mich eine tiefe, aber auch schöne Melancholie.  Meine Augen werden feucht und ich merke, wie erste Tränen über meine Wangen rollen. Vor mir hoppelt ein Kaninchen an den Wegrand, ein Vogel bleibt ungewöhnlich lange sitzen und fliegt auf einen Ast direkt über mir. Die Tränen werden immer mehr und ich muss anhalten. Es schüttelt mich. Ich denke an Jake, an meine alten Eltern und an meine Familie. Ich denke an das Leben und den Verlust, daran, dass wir alle hier nur zu Gast sind. Vor kurzem habe ich gegenüber Claus gesagt, dass ich einen Glauben fühle, keiner Religion untergeordnet, eher substanziell. Warum sollen wir Menschen die einzigen Schaffenden sein, wen das Universum unendlich ist? An eine große Kraft glaube ich, habe ich gesagt.

Kurz vor dem Hügel liegt eine Kreuzung. Drei Abzweigungen im gleichen Winkel zueinander. Die Namen der Orte lauten Marsais, Thorigny und Saturnin. Welch ein Zusammenstoß der Religionen und Kulturen. Die Entstehung der drei Namen interessiert mich. Auch wir Europäer befinden uns in einem Konflikt der Religionen, der natürlich zuerst wieder ein Konflikt um Macht und Pfründe ist. Das ist für mich auch schon immer das abstoßende an den verschiedenen Glaubensrichtungen. Das Bevormunden und letztendlich das so kleinkariert Menschliche. Glaube ist essentiell, das daraus durch Machtmenschen angerichtete und durch Dummköpfe fundamentierte ist unser Problem.

Ein frühes Sonnenblumenfeld feuert mir seine leuchtend gelben Blüten entgegen. Ich schieße ein paar Fotos und beobachte die Insekten beim Nektar saugen. Erste Weizenfelder sind abgeerntet und der Mais wird gewässert. Heute habe ich eindeutig die Klimazone gewechselt.

Ein paar Kilometer weiter parkt ein Wagen der Gemeindearbeiter am Straßenrand. Etwas tiefer sieht eine Gruppe Reiter in traditioneller Jagdkleidung den beiden Arbeitern beim Versuch einer Reanimierung eines auf der Erde liegenden Mitglieds ihrer Gruppe zu. Alle sehen betroffen und ängstlich aus. Der Unfall muss sich vor ein paar Minuten ereignet haben, noch ist keine Polizei oder Krankenwagen vor Ort. Da genug Menschen zum Kümmern da sind fahre ich ohne anzuhalten weiter. Ein seltsames Bild, die Reiter wirkten einem alten englischen Jagdgemälde entsprungen, dazu der orange Wagen mit seinen gelben Dachleuchten und der surreale Rettungsversuch. Zerrissene Ausschnitte, zu grober Collage zusammengefügt.

Während meiner nächsten Pause hält ein Radfahrer und spricht mich auf mein Gepäck an. Ich erkläre ein bisschen meine Reise und er erzählt mir etwas über die Gegend. Mit Hilfe aller Körperteile verstehen wir uns. Er ist vielleicht 65, sieht drahtig aus, fährt sein Rad aber eher nicht aus sportiven Motiven, sondern nutzt es zum Flanieren. Der Sattel seines Rennrads ist so abgenutzt wie der Korpus von Rory Gallaghers Les Paul. Kein Stück vom ehemaligen Überzug schützt mehr das nun freiliegende Schaumstoff-Inlay. Er lässt sich gerne mit seinem Rad fotografieren, wünscht mir dann viel Glück auf meiner Reise und schüttelt mir die Hand zum Abschied.

Die französischen Straßen sind ähnlich den deutschen nach ihrer Wichtigkeit eingeteilt. Es gibt vier Farben, blau, grün, gelb und weiß. Schön zu fahren und einen Großteil meiner Strecke ausmachend sind die gelben und weißen. Öfters fahre ich auch die gar nicht gekennzeichneten landwirtschaftlichen Wege oder durch die Wälder. Unangenehm wird es auf der grünen Route National, die nur genommen wird, wenn es keine gute Alternative gibt und dann auch nur für möglichst kurze Strecken.

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Atlantik und Pyrenäen ziehen vorbei...

Im La Grand Maison bin ich auf die englischsprachige 25th Anniversary Edition von „Zen and the art of motorcycle maintenance“ gestoßen und habe sie von Ben mitbekommen. Hier werden gleich am Anfang auf amerikanische Verhältnisse und natürlich auf das Motorradfahren bezogen meine Gedanken treffsicher wiedergegeben. Ich habe heute einmal mehrgemerkt, wie viel Einfluss Breite und Kurven auf die emotionale Wahrnehmung einer Strecke haben. Natürlich spielen auch der motorisierte Verkehr und die umgebende Natur eine große Rolle. Aber stimmt das Verhältnis zwischen Teer zu Natur nicht, macht das Fahren nur halb so viel Spaß. Das Gefühl von Abenteuer und die Lust am Rätselhaften sind dann nicht abrufbar und ich versuche den Streckenabschnitt schnell hinter mich zu bringen.

Royan, ein altes französisches Seebad, empfängt mich mit deutlich wärmerer Luft. Die Stadt liegt an der Mündung der Garonne, die ich morgen früh mit der Fähre überqueren werde, um weiter gen Süden zu reisen. In dem Moment, in dem ich das Hotel finde, erblicke ich auch endlich den Atlantik. Unterhalb der Promenade liegt ein halbrunder Strand mit ein paar versprengten Gästen. Links und rechts schieben sich Belle Epoque Villen und neuere Klötzchen auf felsigem Grund am Strand vorbei Richtung Meer. Leider sind nur noch wenige der stilvollen alten Häuser übrig, da die damals von Deutschen besetzte Stadt gegen Ende des zweiten Weltkrieges in weiten Teilen bei Fliegerangriffen zerstört wurde.

Bevor ich einchecke, hole ich mir in der benachbarten Bäckerei einen köstlichen Cheeseburger und eine Erdbeer-Tartelette. So viel Belohnung muss sein, um das Erreichen des Meeres auf einer Bank an der Promenade zu zelebrieren.

Da mein Hotel erst um vier wieder die Rezeption öffnet, fahre ich noch ein bisschen die Promenade entlang und sehe mehrmals kleine auf etwa vier Meter hohen Holzstelzen im Meer verankerte Carrelets, Fischerhüttchen. Nach vorne zum Wasser haben sie feinmaschige weit aufgespannte viereckige Netze in der Luft hängen, die mittels einer Windenvorrichtung ins Wasser gelassen werden können. Die Technik des trockenen Fußes Fischens stammt wohl aus dem 18. Jahrhundert und die Carrelets sind heute als schützenswertes Kulturerbe anerkannt.

Die Fähre verlässt Royan um 8.00 Uhr und kreuzt den Mündungstrichter der Garonne, um zwanzig Minuten später im Hafen von Le Verdon-sur-Mer anzulegen. Es ist schön, mit der Morgenbrise im Gesicht über das Wasser zu fahren und ich freue mich an meinem Urlaubsgefühl.

In Soulac-sur-mer decke ich mich mit etwas zu Essen beim örtlichen Bäcker ein. Neben dem Haus sehe ich den ersten Radreisenden in nunmehr zwölf Tagen. John Schwerdfeger, ein dreiundsechzigjähriger Australier mit deutschen Wurzeln, ist genauso froh wie ich, sich ein bisschen austauschen zu können. Wir fangen an zu plaudern und stehen nach einer Stunde noch am gleichen Fleck. John ist mit einundzwanzig in die australische Armee eingetreten und erst dreiundzwanzig Jahre später wieder raus. Danach hat er noch einmal die Universität besucht und anschließend jahrelang als Mathematiklehrer gearbeitet. Nun ist er laut seiner Visitenkarte Abenteurer und Weltradler. Er ist zum zweiten Mal für sechs Monate in Europa unterwegs. Dieses Mal, in Kopenhagen gestartet, ist er auf dem Weg Richtung San Sebastian. Ich lade ihn auf einen Kaffee ein und so vergeht beim netten Plausch eine weitere Stunde. John erzählt begeistert von Hermann dem Cherusker, dessen monumentales Standbild er in Deutschland besucht hat. Auch die Sachsen haben es im angetan. Wir reden über seine Außen- und meine Innensicht auf Europa. John ist ein interessierter Beobachter und klarer Befürworter der europäischen Idee.

Wir beschließen, eine Strecke zusammen zurückzulegen. Nach ein paar Kilometern treffen wir auf Pete und Jane aus Wales. John hatte die beiden schon gestern kennengelernt. Auch Pete diente lange in der Armee und hat danach einen Abschluss in Geschichte an der Universität von Swansea gemacht. Jane war Professorin für Anglistik und beide haben lang genug Geld zurückgelegt, um nun mit Mitte Fünfzig ihre Jobs aufgeben zu können.Sie wollen ihr Cottage nahe Swansea für ein halbes Jahr gegen die Freiheit der Straße tauschen. Ohne konkretes Ziel touren sie durch Europa. Der einzige Fixpunkt ist der Herbsturlaub ihrer Tochter in Südportugal. Beide sind schwer tätowiert. Während John eine lustige Mischung von AC/DC bis zu Versen walisischer Poeten auf der Haut trägt ist Janes Mischung streng kuratiert: Ihre Arme sind den bisherigen Radtouren der beiden gewidmet. Zwei dicht beieinander stehende Fahrräder markieren den Startpunkt und dann folgen Sehenswürdigkeiten der Städte, die sie sich erradelt haben, Eiffelturm, Kathedrale von Santiago de Compostela und einige andere. Beide haben gegen den Brexit gestimmt und wenig Verständnis für die Entscheidung ihre Landsleute.

Wir fahren bis Montalivet und setzen uns zusammen in ein Kaffee. Alle können pointiert erzählen, so dass wir weitere anderthalb Stunden verfliegen lassen. Wir verabschieden uns mit guten Wünschen und ich mache mich auf, um meine letzten fünfzig Kilometer bis Lacanau anzugehen.

Nachdem ich in den letzten zwölf Tagen nur heimischen Radfahrern begegnet bin, sind hier Mengen von Urlaubern und auch einige Tourenfahrer unterwegs. Das Gebiet ist voll erschlossen und die Radwege erinnern mich oftmals an die bestens ausgebauten niederländischen. Ein Problem ist, dass die schiere Menge von Radlern um die kleinen Ortschaften herum ein Vorankommen erschwert. Ich nehme teilweise lieber die fast leere Straße, da mein Tempo nicht mit dem der anderen harmoniert. Einem liegengebliebenen Fahrer aus Freudenstadt helfe ich mit meinem Schweizer Offiziersmesser bei seiner Reparatur. Danach verausgabe ich mich eine halbe Stunde bei vierzig Stundenkilometern quer durch die Wälder.

Zwanzig Kilometer vor Lacanau führt mich das GPS in die Irre. Ein anfangs noch fahrbarer, wenn auch unbequemer Weg aus Betonplatten durch den Wald wird immer schmaler, die Platten immer brüchiger bis schließlich nur noch Sand unter meinen Reifen ist. Ich stelle mein Rad einige Male quer und entscheide mich dann, einen kleinen Pfad landeinwärts zu probieren in der Hoffnung auf ein besseres Weiterkommen. Das GPS schalte ich für heute aus. Nach anderthalb Kilometern treffe ich auf eine neu asphaltierte Straße und freue mich, nun mit gutem Tempo voranzukommen. Der süße Duft der Kiefern erinnert mich an alte Interrailzeiten und Campingplatzabenteuer im Süden. Der sandige Grund lässt neben Kiefern immer wieder Heidegebiete auftauchen. Die Zikaden begleiten mich mit ihren keckernden Lauten, es ist angenehm warm und ich liebe mein Leben.

Um den Massen zuvorzukommen, fahre ich schon um halb acht los und genieße auf den ersten fünfundvierzig Kilometern den ruhigen Morgen mit seiner langsam an Kraft gewinnenden Sonne. In Cape Ferrat nehme ich die Fähre über das Becken von Arcachon nach Moulleau. Die Fahrt ist mit dreizehn Euro recht teuer für zwanzig Minuten, dafür wird das Fahrrad aber auch an und von Bord getragen. Service kostet auch oder gerade in Frankreich.

Ich kaufe mir ein paar Aprikosen zum Frühstück und radele entlang der beeindruckenden Dune du Pilat, mit hundertzehn Meter Höhe und zwei Kilometer Länge die größte Wanderdüne Europas.Vor zwei Jahren waren wir als Familie oben und haben den wunderschönen Ausblick über die endlosen Kiefernwälder genossen. Leider kann ich heute keinen Aufstieg wagen, da ich mein Gepäck nicht allein lassen möchte.

Auf dem Weg nach Mimizan passiere ich einige Seen. Als ich näher an einen heranfahren möchte, muss ich zwischen Begrenzungspfosten durch und unterschätze die Breite meiner Packtaschen. Eine reißt ab und ich brauche eine halbe Stunde und einige Streifen Gaffa-Tape um sie wieder reisetauglich zu bekommen. Es ist die gleiche Rolle, mit der ich auch immer mein Auto zusammenflicke. Das wird langsam zu meinem Markenzeichen.

Die hundertzwanzig Kilometer werden mir gegen Ende lang und so denke ich im Hotel Chez Jean-Paul über den Antrieb zu dieser Tour nach. Ganz am Anfang aller bisherigen Radtouren stand Heinz Helfgen und seine zweibändige Reisebeschreibung einer Radtour um die Welt, die ich zufällig im Regal des Vaters eines Freundes entdeckte. Es faszinierte mich sehr, wie Helfgen aus den Trümmern des zweiten Weltkrieges aufbrach und sich die Welt ansehen wollte. Der zweite Initiationsfunke war der Vorschlag meines Bruders Claus, eine Tour nach Perugia in Italien zu machen, wo die Verwandtschaft seiner ersten Frau wohnte. Unsere einzige Proberunde vor der vierwöchigen Tour verlief über achtzig Kilometer durch das Bergische Land und ich schaffte es unter Krämpfen gerade noch wieder zurück. Die Tour selber war anfangs strapaziös aber schön und infizierte mich schnell mit dem Radreisebazillus. Es folgten einige längere Reisen und massenhaft Tages- und Zweitagestouren. Danach schlief das Radfahren wegen der Geburt der Kinder und der Konzentration auf unser Haus in Portugal etwas ein.  Aus dem auf lange Zeit nicht realisierbaren Traum einer Weltreise mit dem Rad kristallisierte sich der Gedanke einer Tour Haus zu Haus vom Tütberg in das Barranco do Banho heraus. Einmal quer durch Mittel- und Westeuropa. Aus Zeitgründen und weil ich in Portugal auch ein gutes E-Bike haben möchte, ist es eine Überführungsfahrt geworden. Da ich keinen Mitfahrer finden konnte, der vier Wochen Zeit hatte, nun eine Alleinfahrt.Neben den alten Träumen ist sicherlich auch eine Motivation, sich einmal wieder eine längere Zeit ungestört mit mir selbst beschäftigen zu können, mich selbst zu erfahren und an ein paar Grenzen zu stoßen. Ich merke dabei während der Fahrt schnell, wie sehr ich inzwischen Teil meiner Familie bin und wie wichtig das für mich ist. Die Einbindung in etwas Größeres schafft einen Schutzraum, indem manches Störende außen vor bleibt und gibt neben Liebe auch Komfort und Sicherheit.

Ich mache mich auf in Richtung Biarritz, es geht weiter durch Seekiefernwälder und über die schon bekannt guten Radwege. Ab Molliet-et-Maa tauchen zunehmend Korkeichen zwischen den Nadelbäumen auf und der Wald wirkt weniger steril. Auch erste Felder und Weiden mischen sich zwischen die Waldstücke. Ich stoppe in Cap Breton, einem recht schönen, aber auch sehr touristischen Ort. Das Überangebot an KleiderHemdenSonnenbrillenundAccessoires geht mir schon lange auf die Nerven. Von nun an nehmen die Verstädterung und der Verkehr stetig zu. Hinter der Kirche von Oigne sehe ich erstmals in großerEntfernung die Pyrenäen auftauchen. Irgendwann werden die Schilder zweisprachig, willkommen im Baskenland.

Biarritz gefällt mir auf Anhieb, die Stadtstrände, das bergige Terrain, die alten Villen mit dem Charme der Belle Epoque, dazu die jungen Surfer und ältere, betuchtere Gäste sind eine angenehme Mischung.

Zum Essen vor dem Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich suche ich mir auf der Guide Michelin Seite zwei Restaurants aus. Vor Ort stelle ich fest, dass beide nicht mehr an den angegebenen Stellen existieren. Ich setze mich stattdessen in ein Eckbistro, das mir auf dem Hinweg angenehm aufgefallen ist, und treffe Dennis und seinen Sohn Samuel. Die beiden sind aus Hamburg für ein paar Tage zum Surfen eingeflogen. Wir beschließen, das Spiel gemeinsam zu gucken.

Die Bedienungen sind alle in den Farben der Tricolore im Gesicht geschminkt. Sie fiebern, wie die ganze Stadt, mit ihrer Equipe. Hinter uns sitzen Peter und Debbie aus Manchester, beide United Fans. Auf die Frage nach seinem Tipp zeigt mir Peter auf seinem Smartphone sechs verschiedene Wetten über insgesamt vierhundert Pfund. Alle laufen auf Deutschland: Müller macht sein erstes Tor, Deutschland gewinnt zwei zu null... Peter gibt eine Runde und ist auch sonst ganz Conferencier. In England besitzt er eine Reinigungsfirma mit sechzig Angestellten und mehrmals im Jahr entfliehen die beiden für ein paar Tage dem englischen Wetter um in Vilamoura, Portugal zu golfen. Während des Spiels führt er Zaubertricks mit Bierdeckeln vor und kommentiert lustig-derb das Spiel. Als ich ihn anschließend auf seinen Wettverlust nach Deutschlands Niederlage anspreche flüstert er mir schnell „Keine Wetten, kein Wettverlust“ zu. Seine Frau hat wohl nicht viel für seine Leidenschaft übrig und soll nichts von seinem Verlust wissen. Als er dem schon gut angetrunkenen Samuel an der Theke mit Schnaps den finalen Fangschuss setzt, beschließe ich, ins Hotel zu gehen.

Auf den Strassen fahren Fahrzeuge Fahnen schwenkend durch die Nacht, Biarritz ist in Feierlaune. Unter meinem Fenster lärmt eine Gruppe Rollerfahrer hupend entlang. Plötzlich kracht es laut, zwei der Roller sind auf gerader Strecke zusammengestoßen. Nichts Schlimmes passiert, alle stehen auf und es geht weiter. Zu viel Jubel oder zu viel Alkohol, wahrscheinlich beides. Das Hupen und Feiern dauert noch Stunden.

Spanien empfängt mich mit Nieselregen und tiefhängenden Wolken. Nach vierzig Kilometern durch die Ausläufer der Pyrenäen bin ich bis auf die Haut nass. Bei den Abfahrten nehme ich die Füße auf die Federgabel, um meine Schuhe vor Durchnässung zu schützen. Ein Gasthof kommt gerade richtig, um mich abzutrocknen und neue Kleidung anzuziehen. Ich bestelle das erste Mal auf Spanisch mein desayuno completo mit Milchkaffee, frischen Orangensaft, Butter und geröstetem Weißbrot.Der Preisunterschied zu Frankreich fällt direkt auf.

Heute habe ich eine kurze Etappe mit fünfundachtzig Kilometern und bin froh, früh im Hotel zu sein. Es ist Zeit für eine umfassendere Handwäsche im Waschbecken. Jede Stange im Zimmer wird zum trocknen meiner Kleidung gebraucht. Ein bisschen Administration mit Überweisungen, Routenplanung und Fotoverwaltung, dazu Körperhygiene füllen die ersten Stunden nach Ankunft.

Nicht viel erwartend, spaziere ich durch die Stadt. Tolosa, mir bis zur Hotelbuchung absolut unbekannt, besitzt eine schöne Altstadt. Ich zähle jeweils über ein Dutzend Metzger und Bäcker, unzählige Einzelhändler und eine große Menge Restaurants und Bars. Eine so intakte Kleinstadt habe ich selten gesehen. Auch die Menge an Parkbänken ist enorm. Es ist sehr lebendig und ich lasse mich an der Plaza Berria nieder. Die Lautstärke ist beachtlich, noch beachtlicher aber die Anzahl Kinder, die auf dem etwa dreißig mal achtzig Meter messenden Platz unterwegs sind. Gegen siebzig anarchisch und fröhlich Spielende von zwei bis zwölf haben das Geschehen fest in ihrer Hand. In den sechs Bars an den Seiten des Platzes sitzen die Älteren, unterhalten sich, spielen Karten und lesen Zeitung. Es wird Kaffee, Bier und Wein getrunken und die Stimmung ist hervorragend. Die einen rauchen Zigarren, die anderen rauchen Gras, Jung und Alt in einer unkomplizierten Koexistenz. Die den Platz säumenden Häuser sind fünfstöckig, von einigen Balkonen wehen für die Eigenständigkeit des Baskenlandes werbende Banner. An der Kopfseite thront die erhöht liegende Grundschule und davor befindet sich ein Spielplatz. Am anderen Ende steht eine runde Bühne. Die Kinder spielen mit und auf allem, was sich anbietet.  Lange schaue ich mir das Ganze an und fühle mich, obwohl nur Beobachter, als Teil einer wunderschönen Inszenierung auf großer Bühne.

Google Maps sagt, die morgige Etappe ist fünfundsiebzig Kilometer lang, mein Navi gibt mir hundertundzwei an. Ich schaue mir die Strecke am Computer genauer an und Google scheint Recht zu haben. Wenn ein Ort auf halber Strecke in mein Gerät eingegeben wird, zeigt es eine korrekte Kilometerangabe. Ich beschließe so erst einmal loszufahren, notiere mir aber noch ein paar kleine Orte auf dem Weg, um notfalls von Ort zu Ort navigieren zu können.

Ein paar Rennradfahrer überholen mich als ich gerade fotografiere. Ich mache mir einen Spaß daraus, ihnen bei Tempo sechsunddreißig am Hinterrad zu kleben und so fahren wir etwa fünfzehn Kilometer weit im Fünfertrupp auf und ab. Zu meiner großen Freude ruft mein Vater an, so dass ich auch noch in aller Ruhe auf dem Rad telefoniere, was die anderen immer wieder mit ungläubigen Blicken über die Schulter quittieren. Als sich unsere Wege trennen, ist ihnen auch klar geworden, wie ich unterwegs bin und wir verabschieden uns lachend.

Leider leitet mich mein Navigationsgerät mehrmals auf unfahrbare Wege und will den Zielort San Roman auch mit immer verrückteren Kilometerangaben erreichen. Ich schalte das Gerät ab, hole meine Karte aus der Packtasche und versuche mit den Maßstabsblättern 1:200.000 meinen Weg zu finden. Die von Google Maps ausgewiesene Route würde mich ein Stück über die Autobahn führen, so dass ich einen zehn Kilometer Umweg zurücklege, bevor ich eine sehr schöne Route mit gleichmäßigem Anstieg über den Otzaurte Pass finde.

Kurz vor dem Einstieg geht erstmals in Spanien der Himmel auf und ich sehe hinter den grünen Hügeln die kahlen Granitspitzen aufragen. Der Straßenverlauf ist gleichmäßig ansteigend und nach acht Kilometern erreiche ich die Passhöhe. Großartige Ausblicke belohnen mich den ganzen Anstieg lang, es ist eine der schönsten Passagen bisher.

Ohne mein Navigationsgerät muss ich oft anhalten und bis kurz vor meinem Ziel bin ich nicht sicher, ob die Straße wirklich durchgeht oder irgendwann einfach aufhört. Auf den Michelinblättern ist der letzte Abschnitt nicht mehr drauf, weil die Straße zu klein für ihren Maßstab ist. Bei Google Maps war sie allerdings deutlich zu sehen. Mein GPS war sowieso nicht von diesem Weg ausgegangen. Da hier ansonsten nur die Autobahn in der Nähe ist, wäre das Ende der Straße auch so was wie mein Ende für heute, weil ich dann ungefähr sechzig Kilometer extra fahren müsste –in den Bergen kein erfreulicher Gedanke.

An einem Kreisverkehr scheint es tatsächlich so weit zu sein. Auf dem Schild kurz vorher werden nur drei Optionen gezeigt: die Autobahn, der Ort, aus dem ich gerade komme und einriesiger Autohof. Ich kann es nicht glauben und fahre eine zweite Runde durch den Kreisel und da sehe ich ein kleines Hinweisschild mit dem Namen eines Dorfes in meiner Richtung. Ich kurve fünf Minuten auf dem Autohof rum, schaue mir alles genau an, kann aber keine Lücke irgendwo im Zaun entdecken. Dann finde ich hinter einem kleinen Gerätehaus doch noch den Weg. Allzu oft scheinen andere Verkehrsteilnehmer hier nicht entlangzukommen. Ich freue mich, ohne weitere Schikanen das Hotel zu erreichen.

Mein Ziel stellt sich als Rast- und Tankstelle heraus. Neun Zapfsäulen, unzählige Brummis und ein riesiger Komplex mit Geschäft, Restaurant und eben meinem Hotel. Ich schmunzele bei dem Gedanken eben noch in der schönsten Bergwelt gefahren und dann hier für eine Übernachtung eingebucht zu sein. Morgen wohne ich in einem alten Konvent, auch hier könnte der Kontrast kaum größer sein. Es ist das einzige Hotel in weiterem Umkreis und da mir die Topografie auch noch wesentlich mehr An- und Abstiege hätte bescheren können, wollte ich nicht zu viel fahren müssen. So sind es heute trotz aller Umwegen fünfundneunzig Kilometer geworden. Mehr als von Google Maps prophezeit, weniger immerhin als mein GPS mit mir fahren wollte- trotz der Extrakilometer.

Ich gehe in das Restaurant und bestelle ohne rechte Überzeugung überbackenen Fisch mit Gemüse, stochere lustlos in dem Fraß herum, picke ein paar Happen heraus und zahle. Zwei Stunden später spaziere ich in den winzigen Ort San Roman. An einem Ende sitzen die Männer, am anderen die Frauen auf Bänken und erzählen. Es gibt keinerlei Geschäfte oder Restaurants. Zurück an der Tankstelle versuche ich es mit dem gegenüber liegenden El Ventorro. Laute spanische Schlagermusik höre ich schon von draußen und drinnen findet irgendeine Vereinsfeier mit zwanzig Frauen und einem DJ statt. Ich gehe in den Tankshop, kaufe mir Käse, Schinken, Baguette plus ein Snickers zum Trost und lass mich vom Lift hoch in mein Zimmer bringen. Über die Bergketten fallen gerade die Wolken herab wie eine Lawine. Der Sonnenuntergang dahinter ist wunderschön und etwa so kitschig wie in einem Fantasyfilm.

Über Nacht ist die am Vorabend noch über die Berge kriechende Wolkendecke zu einem das Tal füllenden Nebel geworden. Ich breche gegen 7.30 Uhr auf und schon nach wenigen Metern ist meine Brille mit winzigen Tropfen benetzt. Ich versuche es mit putzen, verstaue sie aber dann in die Lenkertasche und vertraue in die nebelauflösende Kraft derSonne. Nach ein paar Kilometern sieht mein Pullover aus, wie mit Raureif bedeckt. Die Sonne kämpft sich langsam durch und die Landschaft ist geheimnisvoll in unwirkliches Licht getaucht. Ich nutze die Stimmung und die langen baskischen Namen auf den schiefen Ortsschildern für den einen oder anderen Fotostopp.

Hinter Vitoria-Gasteiz geht es hinauf zu einem Pass und mehreren Höhenzügen mit immer wieder weiten Ausblicken über die umliegenden Äcker und Dörfer. Der Kontrast zwischen den erntereifen Feldern und dem Grün an den Berghängen ist eine Augenweide. Der Geruch von wildem Thymian wechselt mit dem Duft abgeernteter Weizenfelder und frischen Heus.

Ein paar Kilometer vor meinem Zielort Miranda de Ebro halte ich für eine Rast in einem schönen Dorf aus hellem Sandstein. Am Kirchenvorplatz liegt eine kleine Bar. Ich bestelle einen Milchkaffee und nehme mir ein paar Pinchos von der Theke. Spektakulär getürmt sehen die Häppchen einfach zu köstlich aus. Ei, Lachs, Sardellen, Gemüse, Zwiebel und anderes werden mit Zahnstochern zu kleinen Kunstwerken aufgeschichtet und sehen aus, als warteten sie auf den Foodporn-Fotografen. Ich genieße die Stille eines Sonntagmorgens in der Mitte von Nirgendwo.

Welch ein Kontrast ist die Hospederia El Convento zur Raststätte in San Ramon! Bei 29°C im Schatten steige ich vom Rad, schreibe mich in der Lobby ins Gästebuch ein und setze mich auf ein Sofa im Kreuzgang. Ich genieße das Ankommen, tippe ein wenig und lausche dem Plätschern des Springbrunnens im Innenhof.

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Flimmernder Asphalt und fehlender Schatten...

Die Entscheidung den Weg des geringeren Widerstandes oder den fünfundzwanzig Kilometer längeren über die Berge zu nehmen ist mir nicht leichtgefallen. Zum Glück habe ich mich für den weiteren entschieden. Andi Winklers alter Radfahrerspruch „Umwege verschaffen Ortskenntnis“ fällt mir ein, während ich die erste Stunde durch das Hügelland einrolle. Dann ein Rechtsschwenk und ich beginne mich die Serpentinen entlang der stark bewaldeten Flanke des Monte Mancubo hochzuschrauben. Kurve nach Kurve nehmend wird die Aussicht immer spektakulärer.

Gestern ist mir schonaufgefallen, dass mein Tachometer zu schnell läuft. Auf ihn schauend komme ich mir vor wie Marco Pantani auf irgendwas bei seinem legendären Aufstieg nach L´Alpe D´Huez. Da mir aber kein Dr. Fuentes zur Seite steht, muss ich auch keine Angst haben, morgen früh tot aufzuwachen.

Ohne Autoverkehr, dafür teilweise auf ungeteerter Piste radele ich durch das Naturreservat. Rechts aus dem Gebüsch kommt ein Fuchs getrottet, bewegt sich langsam in meine Richtung, bevor er etwa zwanzig Meter vor mir, scheinbar ebenso erstaunt wie ich über unsere Nähe, mich kurz musternd nach links wieder ins Grün verschwindet. Ich schwenke sicherheitshalber auf die andere Straßenseite. Kaum hundert Meter später hoppeln zwei Kaninchen mit ihren weißen Stetzen ins Gelände, ein Reh guckt mich kurz an und verschwindet. Hier soll es noch Wolf und iberischen Luchs geben. Ich glaube das sofort.

Auf dem Hochplateau grasen Kühe und Esel. Es geht ein Stück bergab, ich passiere ein paar alte Dörfer, halbverlassen, bevor der nächste Anstieg folgt. Auf tausend Meter Höhe durchfahre ich das Portillo de Busto, eine Öffnung im Granitfelsen und dahinter schwebt der Blick dann scheinbar aus Adlerperspektive über goldgelbes Getreide bis in die Unendlichkeit. Vor mir liegt die Kornkammer Spaniens.

Zwischen den Feldern führen schmale Wege von Ortschaft zu Ortschaft. Ich überhole eine Wachtelmutter mit ihren Kleinen. Sie spritzen überrascht nach rechts und links zwischen die Wildblumen am Wegesrand. Ob der über uns kreisende Raubvogel sie auch schon erspäht hat?

Ein Traktor biegt vor mir auf die Dorfstraße, hinten auf der an zwei Ketten befestigten Palette sitzt ein älterer Mann, lässig im blauen zwei-Streifen-Trainingsanzug und raucht seine Zigarette. Die Uhren ticken hier eindeutig anders. Ich hole im Fahren meine Kamera heraus und fotografiere ihn. Wir lachen uns an, grüßen und ich biege um die nächste Kurve.

Ein Wagen der Guardia Civil fährt mit Blaulicht und recht schnell vorbei. Nach kurzer Zeit parkt er am rechten Fahrbahnrand. Zwei Polizisten reden und im Graben auf der linken Seite, mit dem Dach auf Straßenniveau, steht ein roter Hyundai. Die Frontscheibe ist kaputt, der Fahrer abwesend. Ich stoppe kurz, schieße ein Foto, als der Polizist auf mich zukommt und mich zur Rede stellen will. Ich nuschele mich mit einem rudimentär spanischen „…no español!“ heraus, packe die Kamera schnell weg und umkurve ihn.  Die Guardia Civil überholt zum zweiten Mal und kommt mir ein paar Minuten später wieder entgegen. Zuhause scheint der Halter des Wagens auch nicht zu sein – wohl aus Gründen.

Die letzten vierzig Kilometer gen Burgos fahre ich in Höchstgeschwindigkeit. Mein Trikot weht im Wind und ich komme kaum noch unter 40km/h. Der Teer ist neu, tiefschwarz und ohne Markierungen. In meinem Kopf läuft ein ganz eigener Film. Eine Mischung aus Realität und Fiktion treibt mich voran. Die Sonne brennt jetzt mit 33°C vom Himmel und es ist high noon. Endorphine überfluten mich, ich bin überglücklich und vielleicht ein bisschen verrückt. Bei einer Abfahrt erreiche ich knappe 70km/h.

Erinnerungen an die Seealpen vor fünfundzwanzig Jahren jagen als Fetzen durchs Gehirn. Dieses Gefühl, das der eigene Körper einen high macht, einen fast abheben lässt. Darauf habe ich auf dieser Reise über zwei Wochen gewartet, aber heute ist es da. Ich beobachte die Schatten meiner Beine und freue mich an der Geschwindigkeit ihrer Umdrehungen. Die Oberschenkel sind aufgepumpt, das Blut fließt ungehindert hindurch.

Den letzten Kreisverkehr vor Burgos durchfliege ich in steiler Kurvenlage, die erste Abfahrt verpasse ich, dann bremse ich mich wieder ein, gewöhne mich an den plötzlich aufkommenden Verkehr und genieße die ruhige Fahrt durch die Vorstadt Richtung Zentrum.

Ich denke an Guido, der Burgos als hässlich auf seiner Tour nach Santiago de Compostela empfunden hat. Ich kannte nur das Zentrum genauer und habe trotzdem damals schon widersprochen. Doch auch die Vorstadt ist reizvoll. Über die letzten Jahre habe ich eine andere Sicht auf Städte gewonnen. Die Stadtteile außerhalb des Zentrums haben ganz eigene Reize, die Kontraste sind schärfer, alles etwas greller oder grauer. Hier spielt sich Alltag und Leben zu großen Teilen ab. Die Fotografie hilft mir dabei, sie lässt mich an Unorten oft die interessanteren Motive finden und eine Stadt ganz anders verorten.

Es fällt mir erstmals schwer einen Ort zu verlassen, aber Burgos ist eine Oase im nordspanischen Raum mit seiner Mischung aus Kultur und Leben, Touristen und Einheimischen, Ruhe und Spannung. Das Viva la Pepa mit seinen zwei Ausgängen, der eine zum Vorplatz der Kathedrale und der andere zum Laubengang oberhalb des Flusses, dem Paseo del Espolón, ist ein Lieblingsplatz in der Stadt. Als ich um acht Uhr eintreffe, bin ich einer der ersten Gäste. Ich bestelle mein Frühstück und schaue mir im auch hier unvermeidlichen Fernseher zusammen mit der Belegschaft die Stierläufe der diesjährigen Sanfermines an. Fast alle in den engen Gassen von Pamplona mit den Stieren laufende tragen die traditionelle rot-weiße Kleidung. Die Stiere nehmen wieder ein paar Menschen auf die Hörner oder unter die Hufen. Wir begleiten das Geschehen mit Ausrufen der Bewunderung oder des Schreckens. Zwischendurch läuft Chorizo Werbung. Ich denke an eine Motorradtour mit Peter und Jesus zu dessen Mutter in Galizien zurück. Bei einem kleineren Fest ist Peter nach einigen Schlucken aus dem Weinschlauch in die Arena zu den Stieren und den jungen spanischen Männern über die Bande geklettert. In Cowboystiefeln und mit seinen fussigen Haaren stach er gleich einem wildgewordenen Pumuckel aus den Schwarzhaarigen deutlich heraus.

Zwei Kilometer vor der Stadt fällt mir ein größeres Brachland mit fertigen, aber gesperrten Straßen auf. Alles ist schon vom Unkraut etwas eingewachsen. Ob es sich um ein bankrottes Projekt aus der Zeit vor dem Platzen der spanischen Immobilienblase handelt? Bei ihrem augenblicklichen Bauvolumen dürfte die Stadt in ein paar Jahren auch hier angekommen sein und das Angefangene vollenden.

Auf einer Wiese beobachte ich vier Störche auf Nahrungssuche. Immer wieder picken ihre langen roten Schnäbel im Gras und fressen die gefangenen Insekten. Ich gehe mit meinem Fotoapparat auf etwa zehn Meter an die duldsamen Vögel heran. Durch mein Teleobjektiv erkenne ich Ringe an ihren Beinen. Nachher möchte ich für Tomm und Eddy nachschauen, ob  über die Nummern ihre Flugroute verfolgbar ist.

Nach mehreren Kilometern der Ungewissheit, über Feldwege und -ränder finde ich den Camino de Santiago. Mein GPS hat mich auf dieser Etappe leider völlig im Stich gelassen und mir eine über hundert Kilometer zu lange Route vorgeschlagen. Somit bin ich auf meine Landkarten und die Informationen der Bewohner angewiesen. Ich muss öfters anhalten, aber es entwickeln sich so eben auch kleine, sonst nicht zustande gekommene Gespräche.

Der Camino ist hier vor tausend Jahren erstmals urkundlich erwähnt worden, geht aber wohl noch dreihundert weitere Jahre in der Geschichte zurück. Ab Burgos ist der Weg eine Autobahn der Pilger. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Zahl der Wanderer laut Wikipedia verzehnfacht. Die Sinnsuchenden versuchen es eben auch vermehrt wieder mit den traditionellen Modellen. Wenn die Gegenwart zu bedrohlich oder stressig erscheint, soll die Vergangenheit oft als Lösungsmodell dienen. Alle hundert Meter überhole ich einzeln oder in kleinen Gruppen dahin zockelnde. Alle tragen ihren Rucksack mit Jakobsmuschel, die meisten haben einen Gehstock, viele vertreiben sich die Zeit mit Hilfe von WhatsApp, Facebook oder anderen Plattformen, um so der Monotonie der täglichen Wanderung etwas Abwechslung beizumischen. Einige tragen Verbände oder Stützmanschetten. In deren Schuhen möchte ich nicht stecken!

In einem kleinen Ort am Weg kaufe ich im Dorfladen eine Flasche Wasser und komme mit zwei auf der Bank sitzenden Frauen ins Gespräch. Die beiden sind aus Colorado, USA und irgendwo aus Kanada. Sie sind seit vierzehn Tagen und schon über dreihundert Kilometern auf dem Camino. Ihre Schuhe und Socken sind ausgezogen, die beiden tragen praktische Gelpads mit einem Ring über den Zeh gezogen, damit der Mittelfußbereich nicht zu sehr strapaziert wird. Ich bekomme einen Keks und verschenke ein paar Kirschen. Es ist leicht Kontakt zu machen, wenn alle das gleiche Ziel haben.Das könnte eine gute Ebene für Partnervermittlung sein, jenseits von Instituten und dem Internet. Kurz überlege ich, ob ich den Umweg über Santiago nehmen soll, ob aus dem Saulus ein Paulus werden kann. Nach einem Blick in die Karte und auf die Entfernung wird mir klar, dass ich Individualreisender bleibe. Das Pilgerziel bleibt Monchique, ich bei mir selbst.

Die blauen Schilder mit der Muschel dienen den Textmarkern zur Übermittlung von Grüßen und Flüchen. Vierzig Kilometer fahre ich über den Pilgerpfad, unzählige Male den Pilgergruß Buen Camino empfangend und verteilend. Dann scheiden sich der Weg der Pilger und meiner. Ich fahre auf ruhigen Straßen weiter Richtung Palencia. Hier ist es wieder wie vor Burgos, kaum Läden, kaum Cafés in den kleinen Orten. Entlang des Camino deSantiago sind die Pilger ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor für die ländliche Bevölkerung. Überall kleine Geschäfte und Pilgerunterkünfte, die dem ländlichen Raum einen kleinen Wohlstand bescheren.

Gleitend bewege ich mich von Palencia nach Tordesillas. Der über Tage abwesende Wind bläst nun erstmals in meine Richtung. Ich fahre wie mit Segel, von der Brise stetig nach vorne geschoben. Die Landschaft ist weit und mein Zeitgefühl bleibt schon seit Tagen in den Städten. Hier zwischen den Feldern und Wegen gibt es keine Uhren. Die Freude an meiner Reise nimmt mit jedem Tag zu. Bei Frühlingstemperaturen fahre ich unter blauem Himmel mit einem leichten Pullover, kein Schweißtropfen auf der Stirn. Ein Gefühl von Unendlichkeit verdrängt alle Sorgen und kleine Nöte. Die Reise hat die Regie übernommen.

Dann auf offener Strecke drei riesige Gebäude, lang gestreckt und fensterlos. An den Stirnseiten jeweils zwei mannsgroße Ventilatoren. Der Geruch - ein Schweineknast, Heimat des Jamon Iberico. Von außen alles sauber, alles neu. Drinnen möchte ich aber genauso wenig versumpfen wie in dem ein paar Kilometer vor mir aus der Landschaft erwachsenem Gefängnis. In dieser Weite auf so kleinem Raum gefangen muss grausam sein. Die Blocks sehen alle genau gleich aus, lange Reihen mit vergitterten Fenstern. Das Ganze umfriedet von einer sehr hohen Mauer und drei Reihen stacheldrahtbewehrtem Maschendrahtzaun. So weit weg wie der Mars von unserem Heimatplaneten.

In Dueñas sehe ich von einer Eisenbahnüberführung aus in eine korngefüllte Lagerhalle. Die Traktoren der Bauern warten darauf ihre Ladung abzukippen. Ein Bagger mit extra langem Arm und einer breiten Schaufel setzt immer wieder vor und zurück um das nachrutschende Korn möglichst hoch in die Halle einzufahren.

Mir begegnen mehr Landmaschinen als Autos. Es ist Erntezeit. Immer wieder halten die Traktoren mit ihren Anhängern unter den Rohren der Mähdrescher, übernehmen das Korn und fahren zur örtlichen Entladestation. Auf manchen Feldern stehen Zusatzanhänger um das abernten reibungslos zu gestalten. Zwei Menschen schaffen riesige Flächen.

Massentierhaltung, Menschenverklappung und Großfeldbau, drei Möglichkeiten sich heutzutage hier in Lohn zu halten. Nicht genug für alle, aber für ein paar, die nicht in die Städte ziehen.  Um zu überleben, müssen auf gleicher Fläche immer größere Erträge eingefahren werden oder mehr Flächen zu immer riesigeren Feldern zusammengelegt werden. Die Großen schlucken die Kleinen und die Monokulturen, von Monsanto versorgt, prägen den Raum. Die Zeit steht auch hier nicht still.

Ich genieße meine Fahrt trotzdem, das ist alles nichts Neues und auch wenn ich um die Probleme weiß, kann ich mich hier ganz im Moment verlieren. Der Reiz von Straßen, kilometerweit von knorrigen Telegraphenmasten und fortlaufenden Feldern gesäumt, unterbrochen nur von sich in Mulden duckenden Dörfern, bleibt. Wenn ich in eines dieser Dörfer einfahre, fühle ich mich an Spaghettiwestern erinnert. Der Fremde kommt die Hauptstraße entlang geritten, steigt vom Pferd und stößt die quietschende Tür zum Saloon auf. Hier ist die Kulisse dazu. Im staubigen Dreieck des hereinbrechendenLichtstrahls drei an Bier und Schnapsglas geklammerte Gesellen. Die Blicke sich kreuzend.

Kurz vor meinem Ziel sehe ich eine kleine Windhose durch ein gemähtes Feld streichen. Sie wirbelt über eine Länge von hundert Metern das Stroh in die Luft und zieht vor mir über die Straße hinweg. Als ich kurz danach die Stelle passiere regnet es noch Halme auf meinen Helm.

Eine gewöhnungsbedürftige Veränderung gegenüber zuhause ist das geringe Schlafbedürfnis. Es ist halb sechs morgens und seit mehr als einer Stunde höre ich Musik und versuche ins störrische Internet zu gelangen. Trotzdem ich in der letzten Woche nie vor halb zwölf das Licht ausgeschaltet habe, ist spätestens ab sechs Uhr nicht mehr anSchlaf zu denken. Entgegen meiner Annahme, dass Radfahren ermüden würde, ist es eher ein Wachmacher. Auch wenn ich am frühen Nachmittag im Hotel ankomme, bin ich nach Wäsche waschen, duschen, Fotobearbeitung und Reisebericht schreiben nicht müde, sondern gehe ein paar Stunden durch den Ort. Im Hotel lese ich dann, höre Musik und recherchiere über das Ziel des nächsten Tages und den Weg dahin. Auch das Licht löschen ist dann eher eine Vernunft- als eine Müdigkeitsentscheidung.

Eine weitere unerwartete Neuerung ist der kleinere Appetit. Ich brauche weniger Nahrung als sonst. Wahrscheinlich ist es gerade die Loslösung von Gewohntem, die zu den Veränderungen führt. Es gibt genug Bewegung und viele neue Reize. Das Muster aus fest geplanten Mahlzeiten entfällt genauso wie die durch Kinder und Umfeld durchgeplanten Tagesabläufe. Hier geht es nur um konkrete Bedürfnisse. Wenn Durst oder Esslust kommen, sind sie auch nicht mehr wegzuschieben, aber es gibt eben keine Mahlzeiten nur weil gerade Essenszeit ist.

Ist Reiselust vererbbar? Sollte das so sein, habe ich meine von meinem Vater geerbt. Beim Aufwachen kam mir in den Sinn, dass wir vor dem Ende des Warschauer Paktes in Polen und Ungarn waren, schon Mitte der siebziger Jahre mit dem Wohnwagen über unasphaltierte Straßen zum Nordkap gefahren sind und so ziemlich jedes Land Europas bereist haben. In mir steckt dieses aufbrechen wollen, neue Länder kennenlernen, Menschen treffen und Kulturen verstehen, genauso wie es in ihm offensichtlich immer steckte. Die Mischung aus Heimat und Fremde ist Lebensqualität. Die Freude am Aufbruch und genauso die Wiedersehensfreude. Das wieder zuhause eintreffen und alles wie mit frisch gespülten Augen sehen und schön finden. Ein toller Luxus, aus einem sicheren Hafen in die Welt aufbrechen zu können, um dann auch wieder in die heimischen Gewässer einfahren zu können.

Der Weg aus Tordesillas führt mich ein Stück über die um diese Zeit noch leere Nationalstraße. Trotzdem möchte ich die erste Möglichkeit zum Abbiegen nutzen. Meine Karte zeigt mir eine weiße Route über Herreros nach Pollos. Den neunzig Grad Abzweig übersehe ich fast, es ist eine Piste, ungeteert, mit vielen Schlaglöchern und noch viel mehr Steinen. Der Weg teilt sich mehrmals, nirgendwo ein Wegweiser. Ich orientiere mich an der Sonne und meinem Gefühl. Neben mir läuft ein dreißig Meter breiter, von Bäumen gesäumter Fluss. Die vorbeifahrenden Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern hüllen mich in die von ihnen hinterhergezogenen Staubwolken ein. Nach etwa fünf Kilometern erreiche ich ein Dorf. Eine Frau bestätigt, dass ich nun in Pollos bin. Von hier geht es geteert weiter.

Die Landschaft ist weniger monoton und damit trotzdem langweiliger. Kartoffeläcker, zu viel Mais, wie überall in den letzten Jahren, und blühende Sonnenblumen sind Indikatoren für genug Wasser. Ich sehe alte, nicht mehr genutzte Zisternen und dicke schwarze Schläuche. Das moderne Bewässerungssystem hat auch hier die alten Anlagen obsolet werden lassen. Schirmpinienwäldchen unterbrechen den Feldbau, dafür gab es einmal EU-Subventionen.

Beim Fotografieren auf einer kleinen Anhöhe passiert es. Ich übersehe ein mit Gras bedecktes Loch und knicke meinen rechten Fuß um. Bilder des Bänderrisses im letzten Dezember blitzen durch meinen Kopf, während der Schmerz den Bereich um meinen Knöchel durchfährt. Ich falle hin, setze mich wieder auf und prüfe die Beweglichkeit. Es scheint nicht tragisch zu sein, schmerzhaft ist es trotzdem. Wieder auf dem Fahrrad trete ich vorsichtig einige Umdrehungen. gebetsmühlenartig zische ich ein „Bitte nicht“ nach dem anderen. Ich halte wieder an, gehe ein paar Schritte, alles gut, es ist nichts Schlimmeres passiert.

Kurz vor La Bóveda de Toro verlasse ich das Tal und finde mich direkt in meiner Kornlandschaft wieder. Ich halte an einer Bar zum Kaffeetrinken, schreibe ein bisschen und setze mich wieder aufs Rad.

Das Fotografieren ist zusammen mit dem Schreiben eine wertvolle Ergänzung zum Radfahren.Meine Olympia hat mehr Möglichkeiten als ich jemals begreifen werde. Mit Blende, Zeit und Lichtempfindlichkeit bin ich gut gerüstet. Ein Technikinteressierter bin ich auch jetzt noch nicht. Manchmal wünschte ich mir ein wenig mehr Sachkenntnis, aber als Autodidakt, der die Blende nach dreißig Jahren immer noch über die Zeit regelt, ist da nicht viel zu machen. Meine Ausrüstung besteht aus drei Zooms, einem Blitzlicht und dem Body. Alles zusammen passt genau in den Kameraeinsatz der Ortlieb-Lenkertasche und ist wunderbar schnell griffbereit.

Mich interessieren die Ausschnitte, Flächen, Linien und Farben, den Rest muss die Kamera für mich erledigen. Das Nötigste habe ich mir in diesem Urlauber erarbeitet, ein paar mehr Funktionen kenne ich jetzt und ich bin schneller im Zugriff geworden. Damit kann ich erst einmal gut leben.

Die Luft ist in den letzten Tagen sehr klar, das Licht am späteren Vormittag ideal. Beste Voraussetzungen, wenn die Motive auch erkannt werden. Extreme Verdichtung bei Stadt- und weite Öffnung bei Landschaftsaufnahmen motivieren mich. Es sind die Übergänge und Transitzonen zwischen Natur und Kultur, Industrie- und Lebensraum, Stadtrand und Viertel in der Umwälzung, die interessant sind.

Ich versuche so genau wie möglich zu arbeiten. Den Rest muss ich dann mit dem Computer rausholen. Auch hier gilt die Regel, es nicht kompliziert zu machen. Ich arbeite mit dem sehr einfachen Bildbearbeitungsprogramm von iPhoto. Jede Aufnahme bekommt nicht mehr als zehn Sekunden, dann steht sie oder landet im digitalen Mülleimer. Das digitale ist durch die schnelle Verfügbarkeit und die geringen Kosten ideal. Dafür nehme ich die etwas schlechtere Qualität gerne hin.

Den Nachmittag verbringe ich im Krankenhaus von Salamanca in der Ambulanz. Mein Ellbogen hat sich entzündet und schmerzt. Vor drei Tagen habe ich eine Hautunreinheit beseitigen wollen. Da hätte ich mal besser vorher meine Hände mit Seife gewaschen! So verbringe ich vier Stunden mit warten, röntgen, Fieber messen und Blutdruck prüfen. Letztendlich verschreibt mir der nette junge Arzt aus Venezuela eine Antibiotikakur.

Ich belohne mich mit einem Spaziergang durch die schöne Altstadt, meide die Drosselgasse Calle Mayor, genieße die abendliche Ruhe um die sandfarbene Kathedrale und kehre in rein vegetarischen Tapas Restaurant ein. Es schmeckt köstlich und fühlt sich auch im Magen sehr gut an. Das gute Angebot ist der Vorteil einer Touristen- und Universitätsstadt. In der Provinz habe ich schon ganz anders gegessen, Fleisch ist da mein Gemüse.

Die Landschaft wechselt ihr Kleid und die Ebene schlägt Wellen. Am Horizont taucht eine erste Bergkette auf, die Extremadura kann nicht mehr weit sein. Kurz hinter Salamanca fängt das Weideland an und die Anzahl der Bäume nimmt mit jedem Kilometer zu. Ich sehe die ersten schwarzen Stiere, die hier sechs Jahre mit den Kühen auf der Weide leben, bevor einige ihren chancenlosen Kampf in der Arena antreten müssen. Abschlachtung vor Publikum für den Macho. Sie stehen und liegen im Schatten der alten Eichen oder schubbern sich an den Stämmen. Die Wiesen gehen genauso bis zum Horizont wie zuvor die Felder. Manchmal verdichten sich die Bäume zu Wäldern.

Vor mir geht ein alter Mann mit Stock und Hut die ins endlose laufende Straße entlang. Ich nehme ihn von hinten auf, dann stoppe ich neben ihm und frage, wo sein Haus sei. Er lacht, zeigt einen großen Bogen mit seiner Hand, sein täglicher Spaziergang, und ich erkenne westlich in einiger Entfernung tatsächlich einen kleinen Häuserhaufen. Er erlaubt mir ein Portrait zu schießen, Hand geben, er wünscht mir eine gute Reise, Weiterfahrt.

Über einer Weide zähle ich mehr als drei Dutzend Raubvögel in der Luft. Weswegen sie hier so konzentriert auftreten, weiß ich nicht. Der erste Pirol meines Lebens fliegt vor mir über den Weg. Sein gelb-oranges Federkleid ist beeindruckend. So plakative Farbe kenne ich sonst nur aus den Tropen.

Heute sind einige Höhenmeter abzukurbeln. Auf- und Abfahrten sind mehrmals länger als fünf Kilometer. Es geht auf gelben und weißen Wegen bis zum in 950 Meter Höhe liegenden Bejar. Ab hier wären Nebenstraßen zu große Umwege und ich lege die letzten zwanzig Kilometer auf der spärlich befahrenen Nationalstraße zurück.

Ich finde mein Hotel nicht, das passiert mir das erste Mal auf meiner Tour. Der Portier im Centro de Saude versucht mir den Weg zu erklären, die dazukommende Ärztin weiß es besser. Trotzdem sehe ich das Haus weiterhin nicht. Ein junger Mann, der während er mich führt, die ganze Zeit in schnellstem spanisch auf mich einredet, zeigt mir schließlich mein Ziel. Wie konnte ich das immerhin mit einem kleinen Schild ausgewiesene Haus auf der Hauptstraße übersehen?

Ich gehe erst einmal in eine Bar und fülle mir einen halb gefrorenen Liter Flüssigkeit ein.Vielleicht war ich von der Sonne und der Hitze zu benebelt. Der ältere Mann am Tisch neben mir legt seinen Hut auf den Tisch und sein Kopf nickt immer wieder nach vorne. Kurz danach ist er im Stuhl eingeschlafen. Von drinnen höre ich die Fernsehkommentatoren der Tour de France. Heute ist der heißeste Tag und ich reibe mir die eiskalte Flasche über Puls, Nacken und Gesicht.

Gegen 7.30 Uhr sitze ich auf meinem Rad. Die hundertzwanzig Kilometer nach Cáceres möchte ich früh angehen, der Tag droht wieder sehr heiß zu werden. Ich fahre die gesamte Strecke auf der Nationalstraße, da alle Nebenstrecken über Pässe und große Umwege verlaufen. Zufällig hatte ich mir bei meiner Planung einen Samstag ausgesucht. So fahre ich fast autofrei über die bestens asphaltierte N630.

Bei einem Fotohalt bemerke ich den bedenklichen Schiefstand meines Rades. Eine Schraube des Ständers ist im Gewinde am Rahmen abgebrochen. Von jetzt an werde ich es an Wand oder Baum lehnen müssen. Die jetzt schon über dreiwöchige Tour fordert ihre Tribute von Mensch und Maschine. Zum Glück sind es nur ärgerliche oder schmerzliche, nicht aber die Reise bedrohende Kleinigkeiten.

Am Embalce de Alcántara fotografiere ich eine bis zum Bauch im Wasser stehende Kuh. Erstmals nach über 2000 Kilometern gehe ich auch selbst ins Wasser und genieße die herrliche Abkühlung. Ich fahre in Sandalen weiter und trete mich die Steigung vom See zum Plateau hinauf.

Nach zehn Kilometern geht es noch immer bergauf, die Unterhose an meinem Lenker ist schon fast trocken und mir bleibt langsam die Luft weg. Keine Wolke, kein Baum und die Sonne steht senkrecht über mir. Es wären 38° C im Schatten, gäbe es irgendwo welchen. Die Temperatur in der Sonne mag ich mir nicht vorstellen.Erstmals auf dieser Tour trinke ich während der Fahrt aus meiner warmen Plastikflasche, anhalten macht hier keinen Sinn. Die letzte Bar habe ich vor etwa zwanzig Kilometern passiert und weit und breit ist nichts in Sicht. Eine geschlossene Tankstelle mit eingeschmissenen Scheiben und ein zum Verkauf stehendes Restaurant lass ich rechts liegen. Ein paar Schafe legen ihre Köpfe an den Fuß einer Natursteinmauer, so ergattern sie minimalen Schutz vor der Sonne.Die Extremadura trägt ihren Namen zu Recht, kalte Winter wechseln mit trockenen, sehr heißen Sommern.

Leider habe ich mich auch mit meinen Akkus etwas verkalkuliert, so viel Aufstieg war nicht mehr eingeplant. Endlich finde ich doch ein Restaurant, bestelle zwei Wasser und zwei frisch gepresste Orangensäfte, hänge den Akku an die Steckdose und genieße den Schatten auf der Terrasse. Das war Rettung zur rechten Zeit! Jetzt noch dreizehn Kilometer ohne Motor und Wasser sind keine spaßige Vorstellung.

Das Casa Don Fernando liegt gegenüber der durch die UNESCO geschützten Altstadt am Plaza Mayor. Meine zwei Versuche das Umfeld zu erkunden verlieren sich in einem See aus Schweiß. Erst ab neun Uhr abends ist es möglich in gemessenem Schritt ein bisschen spazieren zu gehen.

Am oberen Ende der vom Platz zur Altstadt führenden Treppe nehme ich mein Abendessen ein.Von rechts höre ich eine Kapelle aufspielen und dann schiebt sich eine Prozession ins Bild. Die Männer tragen die Marienfigur und kommen, gefolgt von den Musikern, die Rampe neben der Treppe hinauf, um durch das Tor in die Altstadt einzuziehen. Ich liebe Prozessionen mit ihren melancholischen und Weltschmerz verbreitenden Melodien. Sie berühren mich an einer empfindsamen Stelle.

Über uns fliegen hunderte Schwalben ihre chaotische Choreografie. Mit zunehmender Dunkelheit mischen sich Fledermäuse mit unruhigem Flügelschlag dazu. Alle zusammen sind auf der Jagd nach Insekten und so ist der Platz erfüllt vom Gemurmel der Menschen und den Schreien der Flugkünstler. Erste Sterne tauchen am noch dunkelblauen Himmel auf. Scheinwerfer illuminieren einzelne Gebäude und die Stadt zeigt sich hier von ihrer schönsten Seite. Nichts zu spüren von einer andauernden Finanzkrise und einem wieder zu hohen Staatsdefizit. Dafür müsste man wohl einige Häuserzeilen weiter hinten nachforschen.

Es ist Mitternacht und das Thermometer an der Apotheke zeigt 34°C. Die Bodenplatten strahlen unfassbare Hitze ab und die Wand neben mir lässt mich und meine Nachbarn weiter schwitzen. Ich beschließe Schutz in meinem klimatisierten  Zimmer zu suchen, morgen sollen es 40°C werden.

Um neun Uhr trete ich vor die Hoteltür, das Thermometer zeigt 32°C und es liegen hundertzehn schattenlose Kilometer vor mir. Heute ist Kampftag! Die gestrige Etappe steckt mir noch etwas in den Beinen und die richtige Moral will sich auch noch nicht einstellen. Ich erfinde einen kleinen Aufrappelreim und singe für eine Minute in sturer Wiederholung, vielleicht hilft es auch den leichten Kopfschmerz vom gestrigen Bier zu vergessen.

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Portugal, ich komme!

Kurz hinter Cáceres merke ich ein Knirschen beim Treten der Pedale. Das war schon mal kurz da, aber auch schnell wieder verschwunden. Jetzt scheint es lauter zu werden. Ich halte an, bekomme sofort den ersten Schweißausbruch, und öle jeden sichtbaren Zugang. Das Geräusch ist weg, dafür ist die Schraube zur Befestigung meiner Tretkurbel locker. Genau den hier nötigen Inbusschlüssel habe ich bei der letzten Reparatur meiner Packtasche liegen lassen. Das festdrehen mit der Hand hält immer nur einen Kilometer aber nach drei Versuchen kommt mir der rettende Gedanke. Ich ziehe mit einem gut passenden Stein die Schraube so fest wie möglich und klebe das Ganze dann sorgfältig ab. Nicht fachgerecht, aber es hält.

In Puebla de Obando, dem einzigen Ort bis Badajoz, finde ich eine Tankstelle mit Werkstatt. Es ist Sonntag, die Tankstelle ist geschlossen, aber das Tor zur Werkstatt ist einen Spalt offen. Ich rufe hinein, bekomme keine Antwort. Da ich Geräusche höre, zwänge ich mich durch den Spalt und tatsächlich repariert jemand ein Auto. Ein paar Schwalben fliegen lautstark durch die Halle. Ich hole mein Multitool heraus, zeige auf den Inbusschlüssel und frage nach einem größeren Exemplar. Der Mechaniker mit Kippe auf dem Zahn dreht sich zum Werkzeugwagen um, murmelt wiederholend mein „mas grande“ und reicht mir ein Werkzeug. Passt! Ich ziehe die Schraube an, bedanke mich und gehe, ohne Antwort zu erhalten, zufrieden wieder raus.

Ein paar Meter weiter halte ich erneut und betrete eine schummrige Pinte. Der Laden ist voll, Bier, Kaffee und Brandy stehen auf der Theke. Der Fernseher läuft und jeder hat viel zu sagen.  Ich kaufe eine Flasche Wasser und gehe aus der angenehmen Kühle wieder ins gleißende Licht hinaus.

Bis kurz vor der portugiesischen Grenze habe ich bereits vier Liter getrunken. Mein Mund ist trotzdem andauernd trocken und die Lippen bekommen leichte Risse. Es ist kurz vor eins, als ich Badajoz erreiche. Hier mache ich eine längere Pause, noch mehr Sonne vertrage ich einfach nicht. Das Gefühl, permanent zu nahe am Feuer zu stehen, ist zermürbend. Trotzdem ich mich heute morgen gegen jede Gewohnheit eingecremt habe, fühlt sich mein Nacken verbrannt an.  Der Schatten unter den Bäumen des Cafés ist wohltuend, die kalte Flasche im Nacken auch. Gleich geht es über die letzte Grenze und heute schlafe ich meine erste Nacht in Portugal.

Parallel zur Autobahn überquere ich den Grenzfluss, um diese Jahreszeit eher ein Rinnsal, und radele die letzten zehn Kilometer. Vor dem Schlussanstieg gieße ich mir mein restliches Wasser über den Kopf und komme kurz vor kochend an meiner Hospedaje in Elvas an. Mein Zimmer muss erst noch hergerichtet werden, ich habe die einstündige Zeitumstellung vergessen. So nutze ich jeden Zentimeter Schatten auf dem Weg zur nächstgelegenen Bar und versuche meinen Flüssigkeitshaushalt wieder auszugleichen. Über den Tag verteilt trinke ich heute sechs Liter. Mehrmals wache ich mit nassem Kopfkissen auf. Mein Nacken schwitzt die ganze Nacht hindurch nach und verliert Unmengen an Flüssigkeit an das Bettzeug. So verbrannt habe ich mir ihn noch nie.

Der erste Morgen in Portugal empfängt mich mit moderateren Temperaturen. Ich genieße die Fahrt nach Evora, biege in mehrere kleine Ortschaften ab und sitze mit den Alten auf den Bänken am Dorfplatz. Sie tragen die Einheitskleidung aus kariertem Hemd und Schiebermütze, da bin ich nicht nur wegen meiner Größe recht auffällig.  Hier fühle ich mich trotzdem direkt heimisch, ungezählte Wochen habe ich in den letzten zwanzig Jahren in Portugal verbracht. Bei Galão, Pasta de Nata und einem Tosta Queso freue ich mich, meinem Ziel so nahe zu sein. Noch zwei Tage bis Monchique, aber eigentlich bin ich heute schon angekommen. Ich rieche es in der Luft, ich sehe es an den Häusern und spüre es an den Menschen. Die ruhige Art, das Zurückgenommene und die natürliche Freundlichkeit haben mir immer schon sehr gut gefallen. Natürlich bin ich hier immer noch Fremder, zudem mein Sprachschatz nach all den Jahren überschaubar geblieben ist. Aber mit den paar Wörtern zaubere ich öfters ein Lächeln auf die Gesichter und damit ist schon eine Basis geschaffen für eine kleine Unterhaltung mit allen Körperteilen.

Ich fahre zuerst hinauf zur Zé, setze mich in den Schatten und lasse die Touristen und Einheimischen an mir vorbeiziehen. Zwei Bänke weiter sitzt ein komischer Heiliger mit langen weißen Haaren und Rauschebart der aus einer Zeitung lautstark, ausdauernd und sehr betont ließt. Keinen scheint es zu stören, das Leben geht seinen ruhigen Gang.

Evora ist nicht nur die Hauptstadt des Alentejo sondern auch die schönste Stadt in weitem Umkreis. Zusammen mit dem UNESCO Titel Weltkulturerbe lockt das jedes Jahr viele Touristen, so dass in dem ansonsten strukturschwachen Alentejo hier eine kulturelle Perle in ganzer Schönheit erstrahlen kann. Die vielen Souvenirläden sind recht diskret und der Alltag hat seinen gleichberechtigten Platz neben dem Tourismus. Wie immer, wenn eine historisch bedeutende Stadt auch eine Universität besitzt, ist die Mischung inspirierend. So verkommen alte Mauern nicht nur zum Museum für alte Besucher, sondern werden auch von den Studierenden in die Zukunft geführt.

Dies ist bereits mein vierter Besuch und ich erinnere mich, dass hier auf dem Platz beim römischen Tempel meine Liebe zu Portugal erwacht ist. Der weite Blick über das Land, die lebendige Atmosphäre in historischer Umgebung und das Gefühl, trotz allem abgeschieden an einem Ende der Welt zu sein faszinierte mich.

Viele Plätze erinnern mich an frühere Besuche. Während ich am Brunnen des Hauptplatzes sitze, sehe ich die Bank, die ich mit Joe und Achim im endsedierten Zustand als letzte Schaluppe vor dem Hotelbett geentert hatte. Nach einer Woche dauerquarzen hatten wir hier den letzten Tag unserer Portugalwoche verbracht.

Eben war ich erstmals in der Knochenkapelle, der Igreja do Salvador. Die Innenwände sind im späten 16. Jahrhundert von Franziskanermönchen aus fünftausend Knochen von exhumierten Körpern gebaut worden. Sie stammten von umliegenden Friedhöfen, deren Land man anderweitig nutzen wollte. Über dem Eingang las ich die Inschrift „Wir, die Knochen, die hier liegen, warten auf Eure.“

Das Plätschern im Rücken werde ich ein bisschen wehmütig. Wo ist die ganze Zeit hin, wo stecken all die Geschichten aus der Kindheit, warum bin ich nicht mehr so verrückt wie in der Jugend? Irgendwie ist das hier auch eine Wallfahrt zum ich. Je länger ich lebe, je achtloser scheinen die Jahre zu verschwinden. Ich kann meine Mutter verstehen, wenn sie über die dahinfliegende Zeit sinniert. Was kann ich Sinnvolles mit meiner Zeit anfangen? Das hedonistische habe ich spätestens mit Tomm und Eddy hinter mir gelassen. Party um der Party Willen ist nur ein paar Nächte im Jahr großartig. Vielleicht ist es mit so viel frei verfügbarer Zeit, wie ich sie gerade besitze, auch richtig, dem Tod einmal ein wenig Platz einzuräumen. Den hat er sich sowieso schon selber geholt in den letzten zwei Jahren. Aber jetzt aus dem passiven ins aktive Nachdenken zu kommen ist ein Gewinn. Ich komme immer wieder auf Familie und Freunde zurück. Im Zusammenleben liegt viel Sinn. In der gewinnbringenden Nutzung gemeinschaftlicher Zeit. Gemeinsamer Spaß, gemeinsame Traurigkeit, gemeinsame sinnfreie Zeit.

Das allein reisen bringt Sinn durch die ungestörte Zurückwerfung auf das ich. Bestimmt nicht gut auf Dauer, aber als begrenztes Projekt hat es etwas von klösterlichen Einkehrtagen. Besinnung. Der Ursinn liegt in der Arterhaltung, der Fortpflanzung. Sonst wäre es schnell zu Ende mit dem Leben. Aber in unserer so diversifizierten Epoche, in der viele über eine Menge Freizeit verfügen, ist die Sinnfrage oftmals fast so existenziell wie die Nahrungsfrage. Ich erinnere mich, wie fremd uns zuhause die in Dallas und Denver Clan üblichen Besuche beim Psychologen waren. Für meine Eltern, als im Weltkrieg und der Nachkriegszeit Aufgewachsene, ist das intensive Kreiseln um den eigenen Bauchnabel noch befremdlich. In meiner Generation ist die bewusste Reflektion schon deutlich weiterverbreitet.

Vor einer Bar im Nirgendwo zwischen Evora und Aljustrel esse ich meinen Käsetoast und schaue auf die Karte, als plötzlich vereinzelte dicke Tropfen fallen. Es regnet im Alentejo mitten im Juli! Die Wolken haben schon seit meinem Start zugenommen, aber das heute daraus Feuchtigkeit bis zur Erde dringt, hätte ich nicht gedacht. Es sind etwa 28°C und nach einigen Minuten ist es auch schon wieder vorbei. Die Kleidung ist nicht einmal richtig nass geworden und auf das Jacke aus der Tasche holen habe ich direkt verzichtet. Glück bisher auf meiner Reise, zwei Tage mit Regenschauern und dann die zwei Tage mit kaum auszuhaltender Hitze in der Extremadura. Ansonsten am Anfang viele Wolken und am Atlantik in Frankreich und ab Burgos blauer Himmel und gemäßigte Temperaturen. Kein einziger gefährlicher Moment, ein paar hupende Autofahrer, manche warnend und wenige schimpfend. Ein toller Schnitt für zweitausendachthundert Kilometer durch sechs Länder.

Von den Wolken auf meinem heutigen Weg angeregt habe ich zurückgedacht an die ersten Tage in den Niederlanden und Belgien mit all den umgestürzten Bäumen, teilweise den Weg versperrend. Ein abenteuerlicher Anfang, dann aber viel Ruhe während des Strampelns, eine Menge Zeit zum Gucken und in sich horchen.

Der Ausdruck „Europa der Kulturen“ kommt mir wiederholt in den Sinn. Die Übergänge zwischen den Landstrichen sind oft fließend, aber mit Abstand gesehen doch deutlich vorhanden. Schön, dass derart verschiedene Gebiete friedlich miteinander auskommen. Hoffentlich bleibt das noch lange so und die Spalter und Nationalisten bekommen kein Oberwasser. Wenn ich in der Geschichte zurückschaue und die Menge an Kriegen an mir vorbeiziehen lasse, ist es schon erstaunlich das aus dem tödlichsten von allen dies hier erwachsen ist. Selbst das Baskenland, eine in meiner Kindheit durch ETA kontra Staat chronisch unruhige Region schafft es heute die Probleme politisch anzugehen. Die Wunden vieler Regionalkonflikte sind nur oberflächlich geschlossen. Es wird noch lange dauern, bis all die kleinen und größeren Zwiste wirklich Geschichte sind. Ich hoffe, dass die Zeit dafür ins Land ziehen darf.

Der lange Anstieg nach Monchique und von da ins Barranco do Banho zu unserem Haus kostet noch einmal die letzte Kraft, aber das Glücksgefühl, es nach siebenundzwanzig Tagen geschafft zu haben, bläst durch den ganzen Körper. Am Eingang unseres Tals treffe ich unseren Nachbarn Antonio, der mich ganz erstaunt anschaut. Ich erzähle im kurz von meiner Reise und das erste Mal seit wir uns kennen klopft er mir lachend auf die Schulter, leicht ungläubig den Kopf schüttelnd.

Ich stelle das Rad an die Hauswand, ziehe die verschwitzten Klamotten aus und springe erst einmal in unser Wasserbecken. Herrlich kühl ist es nach dieser Hitze am Berg. Der Ausblick über die Terrassen und die bewaldeten Bergketten bis hin zum Meer ist immer wieder wunderschön. Diesmal vielleicht noch grandioser, weil ich ihn mir selbst erfahren habe. Ein Traum ist Wirklichkeit geworden und dabei nicht zerbrochen. Die Tour war sicher anders als ich mir vorgestellt habe, aber eben anders schön und damit bin ich glücklich. Es hat Spaß gemacht, diese Reise mit Kamera und Laptop zu begleiten und so dem flüchtigen Fahren eine bleibende Erinnerung an die Seite zu stellen, damit daraus beim lesen und anschauen wieder Geschichten und Ideen erwachsen können. Vielleicht zu einer neuen Reise, der Nordosten der Gemeinschaft mit den noch jungen Ländern Lettland, Estland und Litauen wäre eine schöne Fortsetzung. Vielleicht eine neue Geschichte, eine von unendlich vielen Geschichten auf einer uns Menschen Untertan und Freund gewordenen Erde.

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Europa 1 Südwest