Europa 2 Nordost

Das Baltikum ruft und ich fahre

Europa 2 Nordost

Auf an die Ostsee

Pünktlich zum Abschiedsfoto fallen die ersten Tropfen. Ich möchte heute auf meiner Startetappe Richtung Tallinn bis Nichtinghausen ins Sauerland fahren. Der anhaltende Nieselregen begleitet mich fast den ganzen Tag und legt einen Hauch von Melancholie über die Landschaft. Die Freude am unterwegs sein wird dadurch kaum getrübt.
Nach den ersten zehn Kilometern bemerke ich das Fehlen meiner Handschuhe. Ich rufe zuhause an, um sicherzustellen, dass sie nicht irgendwo im Wald liegen, und Anke fährt mir mit Handschuhen im Auto hinterher. In Lindlar verabschieden wir uns ein zweites Mal, ab jetzt ist mein Blick nach vorne gerichtet.
Eine Horde Biker mit martialischen Clubemblemen überholt mich. Ein wenig später galoppiert eine Hundertschaft Mustangs an mir vorbei. Ein Reh äst auf der Wiese nahe der Straße. Den Kopf hebend verfolgen mich die Augen, während die Zunge nervös immer wieder ums Maul fährt. Geschwindigkeitsrausch bekomme ich auf meinem S-Pedelec nicht, dafür genauere Einblicke in meine Umgebung. Enten spielen „Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh“, ein Reiher stakst, konzentriert nach Beute Ausschau haltend, durchs Uferdickicht.
Hinter Schloss Gimborn beginnen die ersten Steigungen. Ich bemerke leichte Schmerzen im Knie. Das kenne ich noch vom letzten Jahr und hoffe es genauso wie damals wieder ohne weitere Folgen verschwinden zu sehen.

Das Bergische Land an einem trüben Tag

Nach fünfzig Kilometern fühle ich mich müde. Fast ohne vorbereitendes Training gehe ich in diese Reise und dafür erhalte ich gerade eine kleine Strafe. Ein Café am Straßenrand hat geöffnet, verkauft am Sonntag aber nur Süßwaren. Ich bestelle zwei Stücke Pflaumenkuchen – wo kommen die wohl im Juli her? – mit Schlagsahne plus einen Milchkaffee. Die Mischung aus Zucker und Koffein ist perfekt! Nach der Pause bis zum Ziel sind Müdigkeit und Erschöpfung nicht mehr zu spüren.
Mein Navigationscomputer schlägt immer drei Möglichkeiten vor, um mein Ziel zu erreichen: Schnell, kurz oder schön. Schnell oder kurz sind selbsterklärend, aber schön wirft bei mir Fragen auf. Wie bewertet man das, liegt Schönheit nicht laut Binsenweisheit im Auge des Betrachters? Da mein E-Bike letztes Jahr an unserem Haus in Portugal geblieben ist, fahre ich nun ein Riese und Müller Delite mit Bosch Motor. Die Vollfederung lässt mich mit Sofa-Gefühl durch die Lande schweben. Das Gefährt erinnert eher an ein Mofa als an ein herkömmliches Fahrrad, fährt aber hervorragend.

Bauernhof im Sauerland

Der durch Zuckerdröhnung überstandene kleine Hungerast hat mir mal wieder gezeigt, wie die gleiche Umgebung völlig unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Nur durch eine kleine Veränderung in der Chemie von Kopf und Körper ist das gerade noch als etwas grau und melancholisch Empfundene plötzlich wieder aufregend und interessant.  Der Unterschied zwischen Angenehmen und Unangenehmen, Schönem und Hässlichem ist oft nur eine Nuance im Nahrungsgefüge.  Wie unnötig ist oft das Aufregen und der Streit um Nichtigkeiten. Aber gegen die körpereigene Chemie ist man, ohne sich selbst sehr bewusst zu sein, machtlos.
Das Schöne begegnet mir in verschiedensten Aufnahmen: Ein Junge trägt einen aus Pappe und Gräsern gebastelten Helm auf seinem Kettcar. Ein roter Milan fliegt, nur einige Meter über mir, eine Weile mit. Die Tourenradler-Truppe kommt mir grüßend entgegen. Ich habe mich heute für schnell entschieden, schön ist es trotzdem...!
Die Nacht ist um 5.30 Uhr zu Ende, das Bett nicht besonders bequem und so lese ich mich quer durch faz.net und sueddeutsche.de, folge in meinem Buch ein paar weitere Seiten dem sympathisch-witzigen Immobilienmakler Frank Bascombe bei seiner beschwerlichen Reise zum ich und schreibe ein paar Zeilen. Der Blick durchs Fenster lässt Gutes vermuten, der Himmel blau, die Straße ein langes graues Band, Begleitgrün allerorten - ich bin bereit mich ein wenig zu quälen, muss aber vorher noch auf den Beginn des für mich so wichtigen Frühstücks warten.

Jeden Tag ein neuer Schlüssel zu einem neuen Ort

Heute verlasse ich das hügelige Sauerland und komme in die flacheren Passagen vor Hannover. Die nächsten zwei Tage sind noch eine Art Einfahren, bevor es in die menschenleereren Regionen nordöstlich von Celle geht. Die Vorfreude gilt erst einmal den Passagen durch Mecklenburg-Vorpommern und der Fahrt über Usedom. Hier möchte ich schon länger einmal hin. Schon bemerkenswert, dass Indien, Venezuela und Co lange bereist sind, der deutsche Osten für mich aber noch der große unbekannte alte Mann ist.  Wahrscheinlich lag es an meinem Fernweh nach dem Abitur, dass mich trotz der gewaltigen Umwälzungen in Osteuropa exotischere Ziele mehr angezogen haben. Natürlich sind es ebenso die Hippieträume von Goa wie die abenteuerlichen Hirngespinste von Karl May und anderen Schmökerautoren gewesen, die mich weit weggetrieben haben. Auch erschien der Osten einem aus Nachrichten und Magazinen immer ein wenig zu grau, um wirklich zu interessieren. Schade, denn so war ich nicht nur spät an vielen Orten in der Ferne, sondern habe auch eine der spannendsten politischen Umwälzungen in meiner bisherigen Lebenszeit nur von außen beobachtet und ohne persönliches Bild an mir vorbeiziehen lassen. Ein wenig Trost gibt mir dabei der Gedanke, dass sowieso nichts verpasst wird, wenn die Sinne offen für das Außen sind und der Geist wach im Inneren ist. Jeder Moment hat seine eigene Qualität, meine positive Einstellung dem Leben gegenüber lässt mich fortlaufend irgendwo am bunten Zirkus teilhaben. Auch die Wertschätzung hat sich immer weiter weg von Event und Ereignis zum privaten und intimen erleben verschoben. Mit dieser Sichtweise ist jede Zeit die richtige, um Neues zu erleben und so freue ich mich nun auf eine weitere Reise durch die Europäische Union sowie die russische Enklave Kaliningrad. Wahrscheinlich ist gerade jetzt meine Zeit für Osteuropa im göttlichen Zeitplan vorgezeichnet.

Erneuerbare Energien werden im ländlichen Sauerland abgezapft

Mein Hotel in Bad Meinberg ist ein typisches vierzig Euro Hotel, etwas heruntergekommen, privat und freundlich geführt, mit kleinen Zimmern, in denen farblich undefinierbare Teppichböden ausliegen und billige Kunstdrucke pastellfarbene Wände schmücken sollen. Aber der Wasserdruck ist gut und nach der Reinigung meiner Radklamotte und einer heißen Dusche fühle ich mich prima. Hier bekomme ich fürs Netz tatsächlich noch einen 24 Stunden gültigen Ausdruck mit individuellem Code. Voller Geduld mit dem superlahmen Server buche ich mein nächstes Zimmer. Morgen geht es nach Hannover und ich freue mich nach zwei Tagen in der Provinz auf das urbanere Leben in der Landeshauptstadt.

Wind und Getreide ernten

Ich packe mir mein Laptop und Kopfhörer und gehe die paar Meter in den Kurpark, um ein bisschen zu schreiben und dabei Musik zu hören. Hier senke ich durch Anwesenheit den Altersdurchschnitt um einige Jahre. Viele Rollatoren, Rollstühle und Gehhilfen werden spazieren geführt. Wie die meisten Kurorte hat auch dieser seine besten Zeiten hinter sich. An den einst prachtvollen Herrenhäusern platzt hier und da die Farbe ab und Reparaturen werden meist mit preisgünstigen Materialien unsachgemäß durch mittelmäßige Handwerker oder gleich selbst ausgeführt. Zwischen die alten Schätzchen sind geschmacklose Kästen von Architekten ohne Berufsberechtigung gesetzt worden. Billige Läden säumen die Strassen, das Angebot ist Rentnergerecht und so kann zur erwünschten Ruhe schnell eine kleine Depression kommen.

Packungspreis 3,-€

In vielen kleinen Städten fallen die leeren Ladenlokale auch in besseren Lagen auf. Ob hier Landflucht, Vergreisung und der schnelle und meistens günstigere Einkauf im Netz ihre hässliche Seite zeigen? Auf jeden Fall haben Aldi, Lidl und die anderen Discounter mit ihrem standardisierten Angebot auf der grünen Wiese auch zur Verödung kräftig beigetragen. Die Frage ist, wie man das scheinbar nicht mehr haltbare Konzept des Einzelhandels in kleineren Subzentren in die Neue Zeit führen kann. Mir fällt das Projekt der Shrinking Citys ein, wo durch Rückbau der Häuser versucht wird einen brauchbaren und angemessenen Bestand zu halten. Im Sauerland und hier wirkt es teilweise schon wie ein Teufelskreis aus sinkenden Einwohnerzahlen und sinkendem Angebot und ich kann gut nachvollziehen warum junge gut ausgebildete Menschen in die Großstädte drängen und dort ihr Glück suchen.

Verödung der Kleinstädte und Dörfer

Die Sonne hat mir heute die ganze Fahrt über zugelacht und gefühlt bin ich überwiegend bergab gerollt. Der Schmerz im Knie hält sich zurück und ich bin bester Dinge, dass es sich an die Strapazen gewöhnt.  Die Landschaft bereitet Spaß und die weiten Blicke versöhnen mit der etwas miefigen Enge mancher Orte.
Um Paderborn trennt das Eggegebirge das Norddeutsche Tiefland vom Sauerland. Da der Wind hier von der See relativ ungehindert rein bläst, ist der Höhenzug mit Unmengen von Windrädern bepflanzt. Ich muss an Don Quichotes ohnmächtigen Kampf gegen die Windmühlen denken. Teilweise sind mehr als Hundert Anlagen gleichzeitig zu sehen und kaum ein Anstieg endet ohne drehende Rotoren am Kamm. Die Verspargelung der Landschaft ist sicherlich der Vergasung und Verbrennung vorzuziehen, schön ist das in der hiesigen Dimension aber trotzdem nur aus ideologischem Blickwinkel betrachtet. Immerhin ist der ökologische Schaden gegenüber dem Nutzen eher zu vernachlässigen und so bleiben die modernen Windmühlen für mich weitgehend positiv besetzt.

Verspargelung für den guten Zweck

Aus Wolken bricht die Sonne hervor und nach halber Strecke zwischen Bad Meinberg und Hannover beschließe ich den Modus vom heute Morgen eingestellten „Kurz“ auf „Schön“ zu wechseln. Der Unterschied liegt im sofortigen Abbiegen von der Bundesstraße auf Nebenstrecken. Das fühlt sich zunächst toll an, führt aber zu dauerndem kreuzen und kratzen der Hauptstrecke auf nun oft wechselnden, fast immer schlechteren, oft dreckigeren Belägen. Kurz bevor ich mich entschließen kann, wieder auf die Bundesstraße zurückzukehren, führt mich das Nyon eine steile Waldrampe hinauf. Ohne Motorhilfe müsste ich sofort absteigen, so schalte ich auf die höchste Stufe und fahre die etwa zwanzig prozentige Steigung mit faustgroßen Kieseln locker rauf. Oben komme ich mir wie im heimischen Königsforst vor. Dann geht es immer tiefer in den Wald, die Pisten werden immer verwaschener, bis ich schließlich selbst bei genauem Hinsehen nicht die angegebene Abbiegung ausmachen kann. Ich fahre stattdessen geradeaus und nehme den nächsten Vorschlag meines GPS. Das ist aber auch kein Weg mehr, sondern höchstens noch eine vom Harvester zum Holzeinschlag vor längerer Zeit geräumte Schneise. Im Schritttempo kämpfe ich mich in den Pedalen stehend wie ein Trail Fahrer den Berg hinab.

Vom rechten Wege abgekommen

Nach einer halben Stunde bin ich zurück auf dem Asphalt. Meine Gedanken wechseln zu einem Gespräch mit einem alten Bekannten, der nach Jahren in Australien und Indonesien nun wieder in Europa leben möchte und deswegen gerade auf Verwandtenbesuch in Rösrath weilt. Wir sprachen über eine halluzinogene Droge, die aus der Rinde einer Akazienart extrahiert wird. Das kristalline Produkt kann man rauchen und fällt in einen etwa dreißigminütigen LSD-artigen Rausch der völlig ohne spürbare Nachwirkungen bleibt. Wir nannten das damals die Früstückspausendroge. Ungefähr so, nur drogenfrei, fühlte sich gerade die Waldpassage für mich an: Ein kurzer Blick in eine völlig andere Welt, bevor es schon zurück in den Tourenalltag geht!
Zwei Jungen fahren eine Art zweisitzigen Kettcar-Chopper. Ich frage, ob ich ein Foto machen darf. Der ältere antwortet mit eine absolut kieksigen  Stimme: “Warum?“ Als ich erwidere, dass ich ihr Fahrzeug absolut cool finde, gibt er mir mit nun völlig normaler Stimme sein Einverständnis. Stimmbruch muss eine schlimme, peinigende Zeit sein und verrät oft zuviel über die Gefühlswelt. Ich schieße mein Foto, danke, rolle weiter in Richtung Stadt.

Selbstbau mit Seitenwagen


Die Einfahrt nach Hannover ist dank des „Schön“-Modus sehr angenehm. Durch Wohngebiete wechselnd mit Grünzonen finde ich fast bis zu Innenstadt. Die letzten Meter werden belebter, aber trotzdem fast völlig am Autoverkehr vorbei. Mein Hotel liegt etwas abseits, jedoch fußläufig des Zentrums in einer ruhigen Wohnstrasse. Das Ambiente ist hell und freundlich, die Frau an der Rezeption sehr nett und hilfsbereit. Nach den üblichen Handgriffen mache ich mich in die Innenstadt auf, schaue mir eine Ausstellung in der Kestner Gesellschaft an, esse beim Japaner Sushi. Während ich zum Hotel zurückschlendere genieße ich noch den warmen Abend.
Nach dem Frühstück werde ich herzlich und mit vielen guten Wünschen zurück auf die Straße entlassen. Es nieselt ein wenig, ich trete die ersten vierzig Kilometer durch die nun gänzlich flache niedersächsische Provinz. Ein Erdbeerstand lässt mich das erste Mal halten. Ich komme beim Einkauf mit der Verkäuferin ins Gespräch. Sie möchte im Sommer mit ihrem Mann eine Radtour um den Bodensee machen. Als ich erzähle, dass ich aus Köln komme, fangen ihre Augen an zu leuchten. Seit fast dreißig Jahren fährt sie mit ihrem Mann zu jedem Heimspiel des FC, beide haben Dauerkarten für die frühere Südkurve, jetzt Südseite. Genau wie Tomm und ich waren sie natürlich auch beim letzten Heimspiel, das die erste Teilnahme am internationalen Wettkampf seit Jahrzehnten sicherte und haben nach dem Schlusspfiff mit Tausenden anderen den Rasen gestürmt, um sich ein Stück des Tornetzes zu sichern. Das liegt nun schön gerahmt zuhause auf einem Ehrenplatz. Zum Abschied packt sie mir noch eine extragroße Erdbeere obendrauf und wünscht mir Hals und Beinbruch auf meiner weiteren Tour.

Ziegel ersetzt den weißen Putz

Meine Unterkunft Villa Kükenkamp ist ein ehemals nobles, jetzt etwas heruntergekommenes Siebzigerjahre Haus in Rätzlingen. Die zwei Söhne des Hauses begrüßen mich, stellen ein paar Fragen über mein E-bike und erzählen mir etwas über den gepflegten MGA in der Garage. Die Mutter rauscht in einem Elektro-Auto an, zeigt mir direkt meine Auftanksteckdose und führt mich an einem Papagei vorbei die Marmorstreppe hoch zu meinem Raum. Als ich später zum Dorfgasthof gehen möchte sehe ich die am Fuß der Treppe liegende Matte mit der Aufschrift „Ein Zuhause ohne Dobermann ist nur ein Haus“. Direkt erscheint einer der beiden Haushunde, bellt mich scharf an. Ich öffne schnell die Tür, gehe ins Dorf und denke, dass „nur ein Haus“ fein für mich ist.

Schon aus einigen Metern Entfernung ahne ich, dass der Gasthof zur Post mir kein Essen servieren wird. Hier gibt es nur Mittagstisch. Die Frau hinter der Theke erklärt mir den Weg zum nächsten Ort und ich spaziere die drei Kilometer an Feldern entlang durch die Abendsonne.  Der Versuch eines der vorbeikommenden Autos zu stoppen klappt nicht. Scheinbar bin ich mit meinem Wochenbart und der Skinny Jeans den Frauen des Ortes suspekt. Das ist aber auch egal, ich genieße die Gerüche und Geräusche, schaue den Vögeln beim fliegen zu und mein Herz lacht.
„Da hättest du die zwei Jahre auch noch warten können und dir den ganzen Quatsch gespart!“: Ein Fahrrad an einem Baum gelehnt hat meine Aufmerksamkeit erregt. Eine alte Frau sitzt neben dem Radweg und sammelt Blaubeeren. Ich begutachte ihre Ausbeute, wir kommen ins Gespräch, bald sitze ich auch zwischen den Sträuchern und pflücke direkt in meinen Mund hinein. Wir erzählen über unsere Familien, die Lebenden sowie die Toten. Ihr Mann ist schon lange tot, auch die Mutter ist vor einigen Jahren 95-jährig gestorben. Sie selbst zählt schon achtzig, ist dafür körperlich sehr gut dabei.

Begegnung in den Blaubeeren

Ihr Sohn lebt in Köln und hatte in den Achtzigern einen Ausbürgerungsantrag gestellt. Nach Jahren mit Berufsverbot in der DDR wurde er 1987 ausgewiesen. Zwei Jahre vor Maueröffnung. Ihren Enkel sieht sie seit der Scheidung ihres Sohnes leider nicht mehr. Ob ich ihn mal aufsuchen könne? Da sie keine Adresse hat, wird das unmöglich werden. Sie erzählt mir von ihren Depressionen, dass sie sich die letzten fünfzehn Jahre wohl übernommen hat bei der Pflege von Mann, Mutter und der Schwiegermutter ihrer Tochter. Letztes Jahr war sie in der Psychiatrie in Schwedt an der Oder, ihrer alten Heimat. Es war für uns beide schön ein wenig zu reden. Eine halbe Stunde vorher habe ich noch Libellen mit der Macro-Funktion meines Teleobjektivs auf Grashalmen an einem Bachlauf fotografiert...

Im Umfeld der Elbe

Seit heute fahre ich durch Mecklenburg- Vorpommern, nachdem ich mit der Elbe die alte innerdeutsche Grenze überquert habe. In Grabow komme ich an einem Imbiss vorbei, der durch seine abgewrackte Optik direkt ins Auge sticht. Jeder der fünf Gäste ist ein Unikum. Ich halte an, frage den die Straße beobachtenden etwa fünfzigjährigen Mann mit den zahlreichen selbstgestochenen Tätowierungen, ob ich ein Foto machen darf.  Ich bekomme sein Einverständnis und freue mich. Der Asphalt unter dem Dach des Imbisses ist mit einem alten braun-beigen Teppich ausgelegt. Er gibt dem ganzen etwas abgefuckt-heimeliges. Ich erzähle der Frau hinter dem Tresen von der Trinkhalle meiner Tante Lotte in  Göttingen am Hauptbahnhof, wo ich als Kind auf Besuch alle Comics lesen und dazu so viel Limo wie ich wollte trinken durfte. Nach einem Wasser verabschiede ich mich von allen und fliege weiter – ohne Teppich.

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Über Usedom nach Polen

Ein mich schon länger begleitender Gedanke kommt mir wieder in den Kopf. Wie nah und doch himmelweit entfernt verschiedene Um- und Zustände sind. Innerhalb von knapp zwei Stunden war ich in drei grundverschiedenen Situationen und habe am Leben anderer teilgenommen. Nun gehen wir alle wieder getrennte Wege. Mein Bruder Claus hat in Zimbabwe einmal die Migration von Stämmen am Vorkommen bestimmter Wörter in verschiedenen Dörfern erforscht. So kann man zeitlich einordnen, wann wer wo war und dabei wen getroffen hat. Diese Zusammentreffen im Leben jedes Einzelnen, meistens durch Zufall, verändern und stoßen etwas an, oft ohne dass im Nachhinein überhaupt ein Bewusstsein für den Ursprung der Veränderung vorhanden wäre und diese Anstöße werden wiederum weitergetragen. Der Flügelschlag des Schmetterlings... Das Tourenfahren begeistert mich genau aus dem Grunde und manchmal trauere ich der ungenutzten Zeit nach, in der ich ungebunden war und es zu oft versäumt habe mich, ähnlich einer Flipperkugel, etwas mehr durch die Welt schießen zu lassen. Umso dankbarer bin ich Anke, dass mir diese Freiheit nun wieder für ein paar Wochen auf dieser Tour gegeben wird. Hoffentlich lässt sich so das immer engere Korsett der Lebensumstände offen genug halten und die Gedanken können weiter von Fremdem angestoßen und verändert werden.

Etwas klobiger als mein E-Bike, aber auch interessant

Diese Mischung aus Verpflichtung, Freiheit in der Verpflichtung und reine Freiheit ist mir ein hohes Gut. Ich schätze mich glücklich diese Möglichkeiten zu haben. Welch ein Reichtum!
“Egal ob man eine gute oder schlechte Zeit hat, es ist die einzige Zeit, die man hat.“ sagte ein Weltenbummler in einem Interview der FAZ-Online. Das vergessen viele, verweilen in unmöglichen Verhältnissen, werden missmutig oder krank statt eine Verbesserung durch Veränderung anzustreben. Ich bin durchaus kein Selbst-Optimierer, schätze aber mein Leben genug, um es genießen zu wollen und immer wieder den Anstoß zu neuen Gedanken und Gefühlen zu suchen.
Vor dem Hotel komm ich mit einem älteren Herrn ins Gespräch über mein E-Bike. Mir fällt die Kombination aus seiner auffallenden goldfarbenen Billiguhr und dem daneben liegenden offensichtlich handgestochenem Tattoo auf. Ein sehr verwaschenes Herz mit dem Datum 10.3.64. Er erzählt, wie ein Freund es ihm damals in einer durchzechten Nacht im Heim gestochen hat. Leider kommt die Pensionsbesitzerin, ich muss mich verabschieden um mein Zimmer zu beziehen und auch er hat eine Verabredung. Gerne hätte ich mich mit ihm etwas länger unterhalten. Ein offener und offensichtlich zufriedener Mensch mit einer bestimmt interessanten Biografie. Eine DDR-Jugend im Heim war bestimmt ein harter Start ins Leben und sich daraus zu lösen eine Leistung über die ich gerne mehr erfahren hätte.

Statement

Ich schaue nach meinem Frühstück in der Bäckerei auf zu bleigrauen Wolken. Da es laut Kunden und Bäckersfrau den ganzen Tag regnen soll, entscheide ich mich für Regenklamotten, bevor ich mich auf den Weg mache. Nach zwei Stunden läuft mir das Wasser schon von oben in meine Schuhe. Jetzt fängt es auch noch an zu blitzen, ich suche einen Unterschlupf, finde einen Viehunterstand. Socken und Handschuhe kann ich auswringen, die Schuhe werde ich erst im Hotel wieder trocknen können. Ich ziehe mich um, auch das Trikot ist patschnass, hole mein Buch raus und versuche den Regen wegzulesen. Eineinhalb Stunden später sehe ich noch immer dem Starkregen zu. Nach zwei Stunden lässt der Regen endlich nach und ich verpacke alles wieder in meine Taschen. Es nieselt noch und ich fühle das Wasser in meinen Schuhen, mir ist kalt. Nach zehn Kilometern merke ich die Wärme in meinem Körper aufsteigen, trete noch fester in die Pedale. Der Plauer See begrüßt mich mit dutzenden Schwänen und Gänsen, ein Fischreiher stakt auf Nahrungssuche durch die Wiese. Auf ein Bad in einem Gewässer der Mecklenburger Seenplatte hatte ich mich gefreut, aber danach würde ich wohl eine Lungenentzündung auskurieren müssen.

Nach dem Regen nur noch Pfützen

Ich fahre, bis ich achtzig Kilometer hinter mir habe, dann ein gutes Mittagessen, nochmals trockene Kleidung und bei aufklarendem Himmel die letzten fünfundzwanzig. Heute werde ich einen gemütlichen Nachmittag im Hotelbett verbringen. Ich föhne meine Schuhe trocken, gebe meine gesamte Schmutzwäsche dem Wäscheservice und stelle mich unter die heiße Dusche. Auch das ist Luxus!
Leichter Nebel liegt in der Luft. Eine gedämpfte Stimmung, kaum Laute zu hören. Ein paar Vogelstimmen, hin und wieder ein Auto und das Rauschen meines Antriebs. Alleen mit uralten Eichen, Buchen und Kastanien. Die Bäume stehen hier seit hundert oder mehr Jahren, manche haben schon das Kaiserreich an sich vorbeiziehen sehen, zwei Weltkriege und die Mobilitätsrevolution seit Beginn der Industrialisierung von der Kusche zum Automobil. Die Mecklenburgische Schweiz ist landschaftlich unspektakulär, leicht hügeliges Agrarland von Bäumen gesäumt. Die Kohl- und Getreidefelder sind riesig, wohl noch wegen alter LPG-Tage. Der Reichtum dieser Gegend liegt in der Ruhe und den lieblichen Orten. Die stillen Seen, Wälder, alte Herrenhäuser und schöne Landschaftsparks. Ich habe nachgelesen, dass alle Alleen des Bundeslandes hintereinander gelegt einer Wegstrecke von Moskau nach Lissabon entsprechen würden.

Windpark

Ich steige vom Rad, um die Stimmung in einem Foto einzufangen und höre zwei Vögel über längere Distanz Frage und Antwort spielen. Es sind Fischreiher. Einen schrecke ich bei der Weiterfahrt auf und er schwingt sich mit seinen enormen Flügeln in die Lüfte. Mit einer Spannweite von fast zwei Metern ein imposanter Anblick.

Das Meer schickt erste Vorposten

Die Sonne versucht immer wieder sich durch die Wolken zu schieben. Es ist warm, ein bisschen stickig sogar. In Anklam am Pennestrom lege ich eine Pause ein. Ich kaufe leckere Kirschen an einem Markstand und setze mich am Brunnen auf eine Bank. Hier kommen einige Tourenradler vorbei. Anklam ist das Nadelöhr um auf Usedom zu kommen. Nördlich der Stadt, am Anfang des Haffs nehme ich eine kleine Fahrrad-Fähre und setze zur Insel über. Es ist Samstag und eine Menge Menschen strömen mit ihren Autos auf die Insel. Um dem Verkehr auf der Hauptstrecke Richtung Heringsdorf zu entgehen, wähle ich die Option „Schön“ und fahre zehn Kilometer mehr, dafür aber über alte Dorfstraßen und ruhige Feldwege. Wieder einmal frage ich mich, wer all diese unscheinbaren Wege eingetragen hat. Eine wirklich wunderbare Gemeinschaftsleistung, die ich sehr gerne nutze und genieße!

Atom Heart Mother in Usedom

Bansin ist zusammen mit Heringsdorf und Ahlbeck eines der drei nebeneinander liegenden Kaiserbäder. Der Ort ist voll mit Touristen, Spektakel auf der Freilichtbühne, Sonnenbaden am Strand und flanieren an der Promenade.  Stand neben Bude neben Stand wird alles zu trinken, essen und shoppen angeboten. Alle drei Seebäder leben neben der Insellage mit ihren langen Sandstränden auch von den Zeugnissen ihrer Vergangenheit. Auf mehreren Kilometern liegt eine wunderschöne alte Villa neben der nächsten. Die stolz getragenen Namen, Germania, Kaiser Wilhelm, Odin oder Freya deuten auf die Zeit ihrer Errichtung hin.

Vollmond über deutschem Seebad

Entlang der Promenade fahrend merke ich gar nicht meinen Grenzübertritt nach Polen. Plötzlich bin ich auf der ul. Stefana Zeromskiego kurz vor Swinoujscie/Swinemünde. Ich verfranse mich etwas, weil ich das Navi nicht beachte und komme über einen kleinen Umweg zur Fähre. Da ich die Grenze verpasst habe, besitze ich auch keinen Zloty. Ich fahre trotzdem auf das Schiff, wenn auch mit etwas mulmigen Gefühl. Wir verlassen Usedom und kommen auf Wolin, der Nachbarinsel, an, ohne dass ich zahlen muss. Jetzt wird mir klar, warum das norwegische Auto vor mir umdrehen musste: Die Fähre ist nur für Einwohner der Stadt, Touristen müssen an einer anderen Stelle übersetzen. Glück gehabt!
Die Fahrt über Wolin und bis zu meinem heutigen Übernachtungsort ist ein kleiner Zivilisationsschock. Die Urlaubsorte sind genauso voll wie gestern, aber hier herrscht wirklich Kirmes. Sechssitzer Mietkettcars für die ganze Familie, Großzelte voller Ramsch, Automatenhallen mit dem Besten der letzten dreißig Jahre und Fressbuden. Alles entlang der gesamten Hauptstraße.

Ohne Motor und in Menge trotzdem grausig

Zwischen den Orten große Waldstrecken voller Verkehr. In Mrzezyno/ Treptower Deep lege ich mich erst einmal eine Stunde hin, gehe dann durch Rummel und Pinienwald ans Meer. Langsam taste ich mich an den Ort heran, esse Pierogi mit Sauerkraut und Pilzfüllung, dazu ein Piwo. Jetzt bin ich bereit, wandere die Hauptstraße in voller Länge ab, amüsiere mich über das Angebot und bekomme langsam ein gutes Gefühl dabei. Leider ist eine Verständigung über ganz wenige Worte hinaus nicht möglich und so bleibe ich erst einmal Zaungast beim bunten Treiben. Am Abend treffe ich dann Thomas, Barbara und Sabine aus Dresden in einer Fischbude. Die drei wandern entlang des westpommerschen Jakobwegs nach Swinemünde. Ich freue mich über zwei Stunden Kurzweil und zusammen genießen wir das leckere polnische Schwarzbier.
Ähnlich wie gestern fahre ich von einem Urlaubsort zum Nächsten und könnte keinen wiedererkennen. An der Küste müssen hunderte Speed Hockey Tische und tausende Gokarts auf junge Kundschaft warten. Wenn die Saison zu Ende ist wird hier wieder Ruhe einkehren und der Rummel in Primärfarben wieder Platz für die unauffälligen Häuser im Hintergrund machen. Da fast das ganze Angebot in Zelten aufgebaut ist, bleibt nach Abbau nicht mehr viel sichtbares übrig. Irgendwo in Polen muss es aber riesige mit Tinnef und Automaten gefüllte Lager geben, die darauf warten, im nächsten Jahr wieder ein paar Monate, befreit von ihrer Last, aufatmen zu dürfen.
Zur Frühstückspause halte ich an einem alten Leuchtturm aus rotem Ziegel. Schwalben fliegen um seine Krone und es könnte ein romantischer Ort sein, wenn nicht um neun Uhr schon aus drei verschiedenen Buden Billigtechno das Areal beschallen würde. Nach einem Kaffee mit Snickers, etwas anderes ist um diese Uhrzeit noch nicht zu bekommen, fahre ich weiter in östlicher Richtung mit Ziel Darwolo, früher Rügenwalde.

Im Kampf mit Mücken und Sumpf

Mein GPS leitet mich in die Irre und statt einem Weg am Strand entlang über eine Nehrung sehe ich nur Sand. Beim Versuch nicht die letzten sechs Kilometer wieder zurückfahren zu müssen lande ich in einem Sumpfgebiet. Umgestürzte Bäume und ein immer matschigerer Weg verhindern ein Durchkommen. Bevor ich drehe möchte ich noch ein Bild von der Idylle aus spargeligen Birkenstämmen und Sumpfgräsern schießen. Sobald ich anhalte fallen aber Myriaden von Stechmücken über mich her. Beim Versuch, noch für ein paar hundertfünfundzwanzigstel Sekunden während meines wilden Veitstanzes innezuhalten, werde ich mit einem Dutzend Stichen durch Radshirt und Hose bestraft. Ich flüchte, irre noch weitere zwanzig Minuten im Wald umher und sehe endlich einen Campingplatz durchs Dickicht scheinen. Ich komme bei der Suche nach einem Ausweg noch zwei Mal an der gleichen Stelle vorbei und bin dann froh endlich wieder Asphalt unter die Räder zu bekommen!

In seinem Element

Wie überall in Pommern ist auch in Rügenwalde die deutsche Bevölkerung mit dem Sieg der Roten Armee vertrieben und durch Polen und Ukrainer ersetzt worden. Deren Heimat wiederum fiel an die Sowjetunion. Eine der großen Menschenverschiebungen infolge des Zweiten Weltkrieges.
Mein Wirt vor Ort ist ein ehemaliger amerikanischer Soldat, der mit einer Polin verheiratet ist. Durch seine Zeit in Wiesbaden spricht er fließend Deutsch. Wir trinken ein Weizenbier zusammen und bevor ich meinen Gang in die Stadt antreten kann, schlafe ich auf einer Liege im Garten ein. Durch erste Regentropfen und fernes Donnergrollen geweckt ziehe ich ins Restaurant um. Zu köstlichem Essen schaue ich in einige der zahlreichen deutschen Bücher über die alten Ostgebiete. Das scheint neben Militaria ein Interessengebiet meines Wirtes zu sein. Draußen vor der Tür parken mehrere amerikanische Militärfahrzeuge und auf Nachfrage bejaht er auch den Besitz mehrerer Panzer. Die stehen aber bei im zu Hause oder noch am Strand, an dem letzte Woche ein großes internationales Militaria-Treffen stattgefunden hat. Eine solche Veranstaltung kann ich mir in Deutschland nicht genehmigungsfähig vorstellen.

Neben Panzern und allen Arten von militärischen Fahrzeugen und Waffen knattern sogar alte Armeeflugzeuge über Land und Wasser. Dem Fachlatein der Fans würde ich gerne einen Abend lauschen. Der Einstieg in eine andere Welt. Auf dem Hoffnungsthaler Herbstflohmarkt habe ich einmal die etwa zwanzig Geweihe aus dem von uns gekauften alten Forsthaus verscherbelt. Gegenüber früherer Präsenz auf dem Markt hatte ich diesmal ein völlig anderes Publikum und musste gefühlt alle zehn Minuten die Frage nach verkäuflichen Militaria verneinen. Die Fahrzeuge im Hof meines Gasthauses haben alte amerikanische Nummernschilder. Solange er eine Versicherung habe, interessiere das hier niemanden versichert mir mein Wirt.

Bruno, Herrchen und Gespann

Von dem Treffen am Strand kam wohl auch Brunos Herrchen, ein Berliner mit einem Tarnfarben-Jeep und militärgrünem Wohnanhänger. Selbst ganz in Camouflage gekleidet stand er mit seinem Rauhaardackel an einem kleinen See bei Lazy. Für ein Foto der beiden samt Gespann habe ich extra noch einmal umgedreht.

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Von Danzig nach Kaliningrad

Seit nunmehr elf Tagen versuche ich die Russlandkarten auf mein Nyon zu spielen und bin bisher an allen W-Lan Verbindungen zu Hause und auf der Reise gescheitert. Immer näher rückt die Grenze und langsam überlege ich mir schon, wie ich ohne Kenntnisse der kyrillischen Schrift und ohne gutes Kartenmaterial meinen Weg finden soll. Entlang der Hauptstraßen mag es funktionieren, aber ich möchte natürlich lieber kleinere Wege durch Kaliningrad finden. Nach meiner Kurzetappe über heute nur achtzig Kilometer erreiche ich das zwar direkt unterhalb der Hauptstraße gen Danzig, aber auch an einem idyllischen Fluss liegende Hotel.

So soll es sein

Der Platz ist eine Oase mit einem wunderbar altmodisch eingerichteten Restaurant und sehr liebevoll zubereiteten Mahlzeiten. Das ist auch wichtig, da es in einigem Umkreis das einzige Lokal ist. Zu meiner Überraschung besitzt dieser Platz drei verschiedene, allesamt hervorragend funktionierende W-Lan Netze. Nachdem ich mein Laptop vorsorglich ausgeschaltet und drei Stunden immer wieder bangend auf das GPS geschaut habe, ist die Karte tatsächlich übertragen! Die letzte Stunde habe ich nicht einmal gewagt zwischen die Geräte zu treten und gehofft, kein anderer Gast wolle etwas im Netz suchen…. Selbst Aberglaube erschien mir nicht zu fern und ein bisschen Beschwörung und positives Denken waren auch dabei. Egal, alles geladen und in drei Tagen kann Russland kommen.

Aus alt mach anderes alt

Während ich schreibe, sitze ich einen halben Meter über dem Wasser und das Flussgras schaukelt in der Strömung hin und her. Libellen surren vorbei und die Schwalben jagen, tollkühn fliegend, um ihre Brut, unter einem Mauervorsprung schreiend und wartend, zu sättigen. Auf einem Spaziergang vor zwei Stunden bin ich am nahegelegenen Schloss Bijou und einigen Teichen vorbeispaziert. Ein kleiner, scheinbar erst vor kurzem dem Wasser entschlüpfter Frosch erregt meine Aufmerksamkeit. Während ich ihn betrachte, fallen mir die nächsten ins Auge und dann merke ich, der Weg ist voll von Fröschen. Jeden halben Meter hüpft einer unbeholfen über das grobe, mittelalterliche Pflaster. Den Blick nur noch gesenkt haltend versuche ich ohne Froschleichen zu verschulden weiterzugehen. Als ich doch einmal den Kopf hebe sitzt fünfzig Meter vor mir ein Hase. Unsere Blicke begegnen sich und er verschwindet lautlos im hohen Gras am Wegesrande. Immer mehr Pfützen machen das Gehen mühsam und ich trete vorsichtig den Rückzug an. Das letzte und einzige Mal in meinem Leben habe ich bei Oma Huckemeier in der Lüneburger Heide so viele Frösche gesehen. Gegenüber dem Campingplatz, auf einer immerfeuchten Wiese, haben wir sie damals beobachtet, gefangen und am Abend wieder freigelassen. Ein perfekter Kindheitstag, eine liebe Erinnerung, die gleich einem Juwel, kurz funkelt, um dann wieder zu verschwinden.

Aus Hochglanz wird Holzabdeckung

Ich denke an meinen Vater und unsere Familienurlaube in meiner Kindheit. Tränen schießen mir in die Augen. Heute ist der 11. Juli und damit ist es drei Monate her, dass Vater gestorben ist. Heute Morgen habe ich schon mit meiner Mutter telefoniert und seitdem steigen allerhand kleine Anekdoten in mir auf. Ich bin dankbar für die letzten sechs Monate, in denen ich geholfen habe meinen Vater zu pflegen. Es hat mir viel gegeben und war hoffentlich auch für ihn eine Verbesserung der nicht mehr schönen Umstände. Für mich war es die Chance eines mir Frieden bescherenden Abschiedes. Vorher hatte ich immer das Gefühl, zwischen uns wäre nicht alles gerade, ein Abstand noch da. Dieses Gefühl haben wir gemeinsam ausgeräumt, oft mit kleinen Geschichten, meistens durch Blicke und manchmal durch längeres Händehalten und versunken beieinander sein. Es waren eine Menge Stunden, die meine Mutter, mein Vater und ich zusammen in ihrem Schlafzimmer verbracht haben und keine einzige war zuviel. Nachdem ich eine Kurzreise mit Wolfgang, Peter und Guido wegen des schlechten Zustandes meines Vaters nicht angetreten habe, bin ich mit Anke und den Kindern einen Tag vor seinem Tod nach Portugal geflogen. Nach einem Schlaganfall und dem fast völligen Verlust seiner Sprache hatte er das Essen schon zwei Tage eingestellt und ich konnte den Geräuschen anhören, dass der Tod innerhalb von achtundvierzig Stunden eintreten würde.

Das Alte verzerrt im Neuen

Öfters habe ich mich seither gefragt, ob ich auch diese Reise hätte absagen sollen. Für mich bin ich dann zu der Überzeugung gelangt, dass alles so geschehen ist, wie es geschehen sollte. Meine Mutter saß an seinem Bett und hat während er vom Leben in den Tod wechselte seine Hand gehalten. Über sechzig Jahre waren die beiden ein Paar. Am Tag vorher haben Vater und ich Abschied genommen und ich habe versprochen mich gut um seine Frau zu kümmern. Morgen bin ich in Danzig, wo wir drei 1989 auf unserer letzten gemeinsamen Urlaubsreise als Vater, Mutter und Sohn auch einen Tag verbracht haben. Damals noch jenseits des Eisernen Vorhangs in einem anderen Land.
Ich trockne meine Tränen, schniefe in den Fluss und sehe noch ein wenig den Schwalben beim Fliegen zu.

Brücke in den Himmel

Zu laut und viel zu viele Autos. Mein Weg nach Danzig führt mich über recht verkehrsreiche Straßen, obwohl ich versucht habe durch einen Umweg, etwas weiter südlich, ruhiger fahren zu können. Ich gebe alles und nehme auch alles aus meinem Akku, so dass ich schon um dreizehn Uhr vor meiner Adresse in Danzig stehe. Leider ziehen die anderen Gäste gerade erst aus. Einmal um das Hafenbecken herum leuchtet mich ein Sushi Restaurant an. Köstlich zubereitet, wohl das leckerste Sushi meines Lebens, und herrlich angerichtet freue ich mich über meinen Mittagstisch. Noch ein kleiner Rundgang und ich kann einziehen.
Danzig ist keine schöne Stadt. Die kleine Altstadt ist um diese Jahreszeit ziemlich überlaufen und bietet nichts, was nicht auch viele andere Altstädte besitzen. Außerhalb des Kerns herrscht emsige Bautätigkeit. Die Ruinen auf der ehemaligen Speicherinsel werden abgerissen und man sieht schon, dass hier nichts Gutes erwächst. Statt einer um 1900 erbauten typischen Neustadt gibt es in Danzig einige Geschmacklosigkeiten der sozialistischen Ära gemischt mit gesichtslosen Bauten der kapitalistischen Nachfolgezeit. Für einen Tag ist das schon interessant genug, mehrere Tage wären nur mit gutem Kulturprogramm verträglich. Ich warte den aufkommenden Starkregen im Hotel ab und gehe dann noch einmal etwas essen. Leckere Restaurants gibt es auf jeden Fall hier.

Erneuerung im Zentrum

Der eigentlich geplante Weg über die Nehrung, um dann mit der Fähre das Kleine Haff zu überqueren, ist nicht möglich. Die Fährverbindung nach Fromburg ist eingestellt worden und die einzige andere, in der Nähe ankommende Fähre ist wegen zuviel Wind für Morgen abgesagt. So fahre ich über Elblag und bin überrascht heute fast ohne Verkehr über sehr schöne Wege zu radeln. Oft geht es an Flüssen oder kleinen Seen vorbei. Das Terrain ist so flach, dass ich einige Gewässer nur auf meinem GPS erkennen kann. Vom Fahrrad aus sehe ich über weite Schilflandschaften.

Pontonbrücke über eines der vielen Gewässer

Wieder einmal werde ich in ein Kurzabenteuer gestoßen, als die Straße neu angelegt und ohne jegliche Hinweisschilder plötzlich von Teer zu geplättetem Sand wechselt. Da ist nur sehr schwer fahren und immer wieder bricht mein Hinterrad aus. Aber ehe ich einen anderen Weg in diesem Schilflabyrinth suche, bleibe ich lieber auf Kurs. Nach einem Kilometer ändert sich der Belag erneut. Nun endet der Sand und stattdessen ist der Boden fünfzig Zentimeter tief ausgehoben. Durch den gestrigen Regen ist hier die Oberfläche durchweicht.

Fluß- und Seenlandschaft östlich von Danzig

Der Matsch klebt so dick an den Reifen, dass es immer unmöglicher wird zu fahren. Auch rutschte ich von einer Seite auf die andere. Letztendlich steige ich ab und schiebe. Aber selbst das geht nur noch mit Gewalt, weil nun der Platz zwischen Mantel und Schutzblech so voller Matsch ist und sich dadurch der Reifen nicht mehr drehen lässt. Mehrmals muss ich den Dreck mit Fingern und Ästen herausdrücken. Nach einem weiteren knappen Kilometer kommt eine Abzweigung nach links, geteert. Die nehme ich, säubere Räder, Bremsen und Schaltung vom gröbsten Matsch und trinke ausgiebig aus meiner Wasserflasche. Später hole ich mir einen Lappen aus der Radtasche und entferne die inzwischen leicht angetrockneten Klumpen. Das Rad wird so noch einmal um ein Kilo leichter.

Jedes Schutzblech ist hier zuviel

Der Wind treibt mich die nächsten zwanzig Kilometer gut voran, bevor ich bei Elblag in östliche Richtung abbiege. Nun kommen starke Böen von schräg vorne und versetzen mich regelrecht auf der Straße. Mit der Zeit lerne ich, wie ich am Anfang einer Böe bereits gegenhalte und so meiner Spur treu bleibe. Einige Höhen und Tiefen später erreiche ich mein heutiges Ziel Frauenburg.

Über dem kleinen Ort thronen Dom und Domburg. Hier ist Kopernikus, Astronom, Mathematiker und Domherr der Stadt, begraben. Nahe der russischen Grenze gelegen ist das Städtchen mit seinen etwa 2000 Einwohnern heutzutage ein kleines Ende der Welt. Der winzige Hafen mit zwölf Segel- und einer Hand voll Fischerbooten öffnet sich zum Kleinen Haff. Alle Wolken haben sich verzogen und so liegt ein silbernes Sommerlicht magisch über der Landschaft. Hier gibt es keinen Strand, das Ufer ist von hohen Gräsern umgeben. Somit auch keine Automaten, Kebabbuden oder Zuckerwatte. Im Restaurant am Hafen bestelle ich Aal und Bier. Die Kellnerin kommt nach kurzer Zeit wieder, der Aal sei „BIG“. Ich versuche mit Handzeichen zu klären, ob sie die Hälfte zubereiten könne. Das scheint nicht möglich und so bekomme ich ein zweites Mal die Speisekarte. Aber dann kommen Köchin und Chefin heraus, den Aal in der Hand. Kurzes Gestikulieren und Lachen, ich bekomme die Hälfte mit Bratkartoffeln und verschiedenen Salaten. Kurz denke ich an den in Danzig geborenen Günther Grass und seine Beschreibung des Aalfangs in „Die Blechtrommel“, vergesse das aber einfach schnell wieder. Alles ist köstlich und nach der zweiten Flasche Bier gehe ich leicht angesäuselt und pappensatt noch ein bisschen zur Mole, die angenehme Wärme der Abendsonne genießen. Der quicklebendige und von quirligen Aalen bevölkerte Pferdekopf ist da schon lange wieder aus meinen Gedanken verschwunden.

Zweisamkeitsidylle

Kurz vor der Grenze tausche ich meine letzten Zlotys in Rubel um. Eine schmuddelige Bar, der letzte Halt vor der Grenze, hier nehme ich meinen Morgenkaffee. Der Türkentrunk könnte Tote erwecken. Ich hole mir eine zweite Einheit Milch, so dass ich wenigstens ein Drittel der Tasse trinken kann. Zum Zahlen gehe ich rein. Die Inhaberin sitzt vor dem Fernseher, offensichtlich noch nicht ganz wach. Sie nimmt mich gar nicht wahr und so lege ich ihr fünf Zloty hin und bin froh, sie und ihren bestialisch stinkenden Hund hinter mir zu lassen. An heißem Kaffee kann hoffentlich nicht so viel verkehrt sein.

Die polnische Zollbeamtin prüft kurz meine Fahrradtasche, hat aber, mit einem Blick auf meine oben liegende Unterhose, keine Lust in die Tiefe zu gehen. Sie verschwindet in ihrem Häuschen und nach Prüfung meines Passes geht ein kleines Fenster auf und ich darf weiterfahren bis zum nächsten Schlagbaum. Hier prüfen zwei junge russische Soldaten meine Papiere kurz und winken mich weiter. Ich versuche nachzufragen, ob ich nicht noch ein Zusatzpapier brauche, aber sie lachen nur. Großartig, so einfach habe ich mir das nicht vorgestellt. Die Straße ist nach hundert Metern gesperrt und ich muss links abbiegen. Hier jetzt kommt erst die richtige Kontrolle, die erste Schranke war nur eine Vorprüfung. Dem Auto vor mir wird ein Spiegel am Stock untergeschoben. So kenne ich das noch aus alten Zeiten. Ich schieb meinen Pass durch die Öffnung des Grenzhäuschens, werde eingehend gemustert, mein Pass geprüft und für gut befunden. Hier gibt es auch das nötige Formular, um stressfrei wieder ausreisen zu dürfen. Taschen oder Rad werden überhaupt nicht angesehen. Die draußen stehenden Zöllner erzählen sich einen und lachen. Eine Pausbäckige fragt mich in gutem Englisch, ob ich wirklich von Deutschland bis hierher geradelt bin. Als ich bejahe schiebt sie mit einem ungläubig-koketten Blick ein „Single?“ nach. Ich weiß nicht, ob sie meint, reise ich alleine oder ob ich alleine lebe. Ich sage einfach ja, bekomme ein nettes, offenes Lächeln und fahre weiter. Nach nochmaliger Kurzüberprüfung an einer weiteren Schranke bin ich in Russlands Enklave Kaliningrad, dem nördlichen Landstrich des früheren Ostpommern. Auf der anderen Straßenseite steht eine lange Schlange und wartet. Es sind ausschließlich polnische Fahrzeuge, wahrscheinlich Tanktouristen. Der Liter Benzin kostet auf russischer Seite nur 50 Cent. Da rechnet sich das Schlange stehen.

In Russland gelandet

Mein Säckchen mit leckeren Kirschen leert sich fortwährend am Lenker hängend und ich greife, esse, spucke und schlucke während ich in bester Laune über die breiten, gut ausgebauten Straßen mit wenig Verkehr radele. Schöne alte Bäume rahmen den Weg. Erst nach einigen Kilometern kommen mehr Fahrzeuge dazu, aber bis kurz vor Kaliningrad, früher Königsberg, ist das eine schöne Strecke mit viel auf und ab.

Jenseits der Außengrenze der Europäischen Union wechselt die Schrift ins kyrillische Alphabet

Kaliningrad ist laut und der Verkehr in den durchradelten Vorstädten dicht und stinkend. Durch die Kriegszerstörungen und darauffolgende Schleifungen von Burg und anderen Zeugnissen der verhassten deutschen Kultur ist die alte Geschichte der Stadt in der Architektur kaum noch sichtbar. An ihrer Statt sind massiver Plattenbau und breite Verkehrsachsen getreten. Der Verkehr ist heikel, ich bemühe mich die schmaleren Straßen zu finden. Etwas abseits der Hauptachsen komme ich an einem kleinen See vorbei. Winzige selbstgebaute Holzdatschen säumen das Ufer, Angler versuchen in der trüben Brühe ihr Glück und im Hintergrund die Platte aus den Siebzigern. Ich fahre durch eine Brache und muss mein Rad über die Bahnschienen heben, um mich wieder in den normalen Verkehr einzufädeln. Ein riesiger Kreisverkehr, nur mit Mühe schaffe ich es rein und wieder raus ohne meine Taschen abgefahren zu bekommen. Das alles ist interessant und spannend, schön ist es nicht. Deshalb habe ich vorher beschlossen hier nur durchzufahren und direkt bis kurz vor der Kurischen Nehrung nach Zelenogradsk, früher Crantz, zu fahren. Im Zentrum Kaliningrads werde ich an einer Brücke vom Militär auf ein Fotografierverbot für öffentliche Bauten hingewiesen. Ich packe die Kamera ein und meine Schokolade aus. Eine kurze Pause, ein wenig auftanken und dann geht es auf die letzten vierzig Kilometer.

An der Peripherie von Kaliningrad

Auf dem Weg nach und von Kaliningrad fallen die vielen Einfamilienhäuser im Bau auf. Eine neue Siedlung folgt auf die nächste. Dazwischen viel Brachland, kaum Feldbau. Die alten Katen am Wegesrand haben meistens einen kleinen Gemüsegarten zur Selbstversorgung umzäunt mit einem einfachen Holzzaun. Was ist aus dem ganzen Besitz der Kolchosen und Sowchosen geworden? Wem gehört das ganze Land?

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Über die Kurische Nehrung nach Riga

Crantz ist ein ehemals deutsches Ostseebad. Viele der alten Villen sind noch im Ortskern zu finden. Einige wirken verlassen, bis jemand ein Fenster öffnet oder zur Tür herauskommt. Andere schon wiederhergestellt und so manches Haus, mit Baugerüst verkleidet, befindet sich gerade in der Renovierungsphase. Es ist genug alter Bestand vorhanden, um hier einen Teil der Geschichte wieder auferstehen zu lassen. Offensichtlich sind inzwischen auch der lange Zeit nicht vorhandene Wille sowie das nötige Geld da. Über die vielen Jahrzehnte seit Kriegsende ist das Erbe der siebenhundertjährigen deutschen Geschichte im heutigen Kaliningrad systematisch verschwiegen und getilgt worden. Nach der Flucht eines Großteils der ehemaligen Bevölkerung wurden viele russische Soldaten und ihre Angehörigen angesiedelt. Das Gebiet bietet noch heute dem Militär und der Wirtschaft Russlands den einzigen dauerhaft eisfreien Ostseehafen. Bis zur Hebung des Eisernen Vorhangs war die jetzige Enklave eine Speerzone und als solche auch nicht zu bereisen. Heute ist sie durch Polen, Lettland und Litauen von der Europäischen Gemeinschaft umgeben und der westlichste Teil Russlands. Eine Umbenennung von Kaliningrad in Königsberg wird es wohl nicht geben. Anders als bei Sankt Petersburg, das mit seinem Namen für eine lange russische Geschichte steht, ist hier der Bezug zur deutschen Geschichte und damit zu möglichen Begehrlichkeiten politisch und wohl auch von den heutigen Bewohnern nicht gewollt.

Alte Backsteine werden zur Wiederverwertung gestapelt

Überall ist der Kontrast zwischen alter Armut und neuem Reichtum zu sehen. An der breiten, mit Formsteinen gepflasterten Promenade stehen verfallene Villen neben Neubauten. Alte Frauen verkaufen ihre zwei Plastikbecher Blaubeeren, um die knappe Rente aufzubessern. Es gibt viele deutsche Oberklasselimousinen und viele alte Menschen mit durchgelaufenen Schuhen.

Für die einen romantisch, für die anderen arm

Hundert Kilometer lang ist die Kurische Nehrung. Eine an ihrer breitesten Stelle achthundert Meter breite Halbinsel mit der Grenze zwischen Russland und Litauen in ihrer Mitte. Sie trennt das Süßwasser des Kurischen Haffs von dem Salzwasser der Ostsee. Ich fahre, links und rechts von Wald begleitet. Würde ich nicht an ein paar Stellen versuchen, das eine oder andere Ufer zu erreichen, wäre das eine zwar angenehm zu fahrende, aber auch sehr monotone Strecke. Zwei Mal steige ich auf etwa vierzig Meter hohe Dünen und genieße von hier aus einem weiten Blick über die Nadelwälder und den Sand bis zum Haff im Süden und der See im Norden.  

Links das Haff, rechts die Ostsee und mitten drin die Kurische Nehrung

Die russische Grenze ist in zwanzig Minuten abgehakt. Die Frage, was die kleine Spraydose beinhalte, die aus meiner Fototasche seitlich rausschaue, beantworte ich mit Pfefferspray für die Hunde und gegen ihre Bisse. Der Zöllner ruft es seinem Kollegen zu, beide lachen und er winkt mich weiter. Die litauische Seite braucht wesentlich länger. Ein paar russische Radfahrerinnen aus Kaliningrad sprechen mich in gutem englisch an. Sie erzählen mir, dass die baltischen Männer als sehr langsam arbeitend gelten. Jedes Land hat seine Vorurteile über den Nachbarn, in diesem Fall trifft es aber auf jeden Fall zu. Es dauert anderthalb Stunden, bis die Passkontrolle durch ist. Die Frauen erzählen mir aber auch von sechs und mehr Stunden Wartezeit. Die Fahrerin des russischen Fahrzeugs vor mir wurde schon am ersten Stoppschild rüde von einem Zöllner angefahren. Jetzt an der Schranke muss sie dreimal ihren Kofferraum und die Türen zur Kontrolle öffnen. Hier zeigt sich auch das angespannte Verhältnis zwischen der ehemaligen Sowjetrepublik Litauen und dem alten Mutterland. Leiden müssen immer die Kleinen unter der großen Politik.

Seit langem im Familienbesitz

Litauen empfängt mich mit auffallender Schönheit. In den Ferienorten auf meiner Strecke sind die Häuser zum Großteil aus Holz, alles ist sehr gepflegt und unglaublich viele Radfahrer sind unterwegs. Ich erreiche das Memeler Tief, welches Festland von Nehrung trennt. Eine große Fähre setzt hier halbstündig die Ausflügler nach Klaipeda über.

Die Stadt ist der nördlichste immer eisfreie Hafen der Ostsee. Das Bild mit vielen gelben Kränen, den Schiffen und der Mole schafft von der Fähre aus betrachtet ein beeindruckendes Panorama der Stadt. Hier fühle ich mich direkt sehr wohl. Die Menschen sind eindeutig wohlhabender. Viele gut gekleidete junge Leute schlendern entlang der Kais und sitzen in Cafe´ und Bar. Ich setze mich dazu, nutze das sehr schnelle Internet und buche mir ein nettes Hotel am Wasser. Es ist inzwischen schon früher Abend, ich bin heute über 120 Kilometer gefahren.

Der Hafen von Klaipeda

Nach dem Abendessen nutze ich das goldene Abendlicht und fotografiere im Hafen. Hier legt auch eine Fähre aus Travemünde an. Ein großer Kreuzfahrtdampfer macht sich bereit zur Abfahrt. Die Kräne leuchten in der untergehenden Sonne. Es sind viele Menschen zum Auslaufen des Schiffes gekommen. Gigantisch wirkt es mit den kleinen Leuten am Kai. Drei junge deutsche Männer sitzen neben mir auf der Kaimauer und haben ihre Eisteeflasche zur Hälfte mit Wodka aufgefüllt. Sie haben schon ein wenig Schlagseite und unterhalten sich über ihre Reise. Eigentlich sollte es zur Goldküste ans Schwarze Meer in Bulgarien gehen. Aber dann haben sie von den schönen und stolzen Frauen in Litauen gehört, die sie nun gerne erobern möchten. Ob die auf angetrunkene Bayern stehen? Hier scheinen Traum und Realität etwas auseinander zu klaffen.

Im Hotel möchte ich noch die Fotos der heutigen Etappe bearbeiten. Dabei setzt der Computer plötzlich aus und vierundachtzig Bilder sind wohl für immer verschwunden. Traurig gehe ich ins Bett. Ein ganzer Tag mit seinen vielen Eindrücken ist fotografisch verloren.

Am Morgen fahre ich zum Hafen und suche ein paar der gestrigen Motive noch einmal. Aber ohne das richtige Licht ist das leider keinerlei Ersatz. Noch immer grummelnd fahre ich los nach Telsiai/ Telsche. Ähnlich wie in Kaliningrad wird auch hier auf der grünen Wiese eine Einfamilienhaussiedlung neben der nächsten hochgezogen. Wer mag später einmal hier wohnen? Oft stehen die Häuser schon, ohne dass es überhaupt Straßen davor gibt. Ob hier gerade eine Immobilienblase entsteht und die Häuser bloße Spekulationsobjekte sind? Schwer vorzustellen, dass es für die alle Käufer geben soll. Es wirkt eher, als würde hier billiges Geld umgesetzt und nachher von irgendeiner Bank abgeschrieben. Richtig hinter die Fassaden schaue ich leider nicht.

Der nördlichste immer eisfrei Hafen der Ostsee

Erst etwa dreißig Kilometer entfernt von Klaipeda hört der Neubauboom auf und die Landschaft darf die Hauptrolle übernehmen. Es geht durch hügelige Landschaften mit verstreuten Bauernhöfen. Immer wieder ein kleiner Ort. Hier sind viele Häuser noch traditionell aus Holz gebaut und in verschiedenen Farben gestrichen. Der ländliche Raum wirkt recht ärmlich, aber für mich als Beobachter auch romantisch. Ein wenig von einer Zeitreise in die Vergangenheit hat das. Sobald ein Ort etwas größer ist, hört die Romantik schnell auf. Dann sind die alten Häuser oft unrestauriert und die neueren trist und hässlich. Die Mischung ist nicht ausgewogen, das ist sie in Deutschland aber auch meistens nicht.

Traditionelles Holzhaus

Die gleichen Fehler immer wieder, Geld ist zu entscheidend und selten mit Visionen verknüpft. Die ewig gleichen Rechtecke in weiß gestrichen und je nach Wohlstandsgrat und Lage mehr oder weniger verwohnt. Auf dem Weg werde ich schon seit Polen von Störchen begleitet. Hier sind sie auf jeder Wiese, ziehen den Heu machenden Traktoren hinterher und sitzen mit ihrem Nachwuchs in den großen, über Jahre und Jahrzehnten benutzten Nestern. Meistens sind es vier pro Nest, die Jungvögel schon fast ausgewachsen. Ich sehe Fütterung, Nesterweiterung und Neubau. Das älteste Nest ist über zwei Meter hoch. Das Paar wird schon einige Jahre wiedergekehrt sein, um immer wieder eine neue Ästeschicht auf das Alte zu setzen. Störche bleiben ein Leben lang zusammen. Das wird der Kirche gut gefallen.

Andere Zeiten, andere Bauarten

Da im Restaurant am See sehr viele Gäste sind und ich nach einer halben Stunde noch kein Getränk habe, gehe ich in mein Hotelrestaurant. Eine Kleinfamilie mit Schwiegermutter kommt herein. Sie sind eindeutig wohlhabend, gehören zur Oberklasse. Er in kurzer Jeans, neonorangenen Turnschuhen, mit vielen Tätowierungen und einem T-Shirt mit großem Totenkopf und „Blackwater“ Aufschrift. Seine Frau trägt durchgehend Rotgold-Schmuck, ein kurzes Kleid mit sehr tiefem Dekolleté und eine hochgesteckte Edelsonnenbrille im Haar. Weder Lippen, noch Nase oder Brüste sind echt, es sieht aber alles gut gemacht aus. Ihre Schwiegermutter ist recht einfach gekleidet und fühlt sich offensichtlich nicht ganz wohl hier. Die Geschlechterrollen sind schon seit Polen deutlicher als bei uns verteilt. Auch in Klaipeda fielen die sehr herausgeputzten, gutaussehenden Frauen und die muskulösen Männer in engen T-Shirts auf. Gerade in den Städten werden Reichtum und Reize offener gezeigt. Gutes Aussehen ist auch immer noch eine gute Chance zum sozialen Aufstieg.

Die Discounter halten mich trocken

Ich stehe im Regen und über mir ziehen dunkle Wolken übers Land. Mein linker Fuß steckt in einer Spar Plastiktüte und mein rechter in einer von Albert Hein. Das E-Bike parkt völlig vermatscht in einer aufgeweichten Traktorspur mitten in einem riesigen Weizenfeld. Das GPS hat mich verraten und verkauft! Schon in den letzten Tagen ist mir aufgefallen, dass es nicht mehr so genau arbeitet. Heute stehe ich nach zehn Kilometern Waschbrettpiste und weiteren fünf Kilometern Feldweg vor nichts. Kein Weg, wie auf dem Navi eingetragen, nur Wald und Büsche. Ich versuche um das Waldstück herum zu fahren und auch mittendurch. Es geht nicht. Auf den Traktorspuren durchs Feld bleibe ich wieder einmal vor lauter Matsch an den Reifen stecken. Ich fahre zur nächsten Kreuzung zurück und versuche in nördlicher Richtung weiterzukommen. Wieder endet der Weg einfach.

Wieder einmal Piste

In dem ganzen Gebiet hier gibt es nur ärmlichste Behausungen. Fenster mit Plastikfolien notdürftig verschlossen oder direkt ganz zugenagelt, Holzbretter weggefault und Dächer durchhängend. Ich stoppe auf der Suche nach einer geteerten Straße bei einer Familie mit fünf Kindern. Die Sprachbarriere verhindert fast jede Kommunikation. Ich darf ein Foto mitnehmen und wir lachen alle. Sie hoffentlich auch über mich und nicht nur aus Verlegenheit. Mit meinem Regenschutz sehe ich zu dämlich aus, aber er hält immerhin dicht. Meine Karte hat einen zu kleinen Maßstab, die winzigen Weiler sind alle nicht verzeichnet. Von Piste zu Asphalt und weiter zu einer Straße mit Mittelstreifen arbeite ich mich langsam wieder voran. Viele der kleineren Wege sind hier unasphaltiert. Da kann der Regen sogar von Vorteil sein, es staubt nicht so sehr bei vorbeifahrenden Autos. Nur die Verbindungen zwischen den Städten sind durchgehend geteert.

Ein paar Waldarbeiter sitzen am Straßenrand und halten Mittagspause. Ich grüße und werde auf Deutsch zurückgegrüßt. Einer von den beiden hat ein halbes Jahr in Baden-Württemberg an der schweizerischen Grenze gearbeitet und da einiges aufgeschnappt. Ich esse mein Butterbrot mit ihnen und radle weiter.

In der Distrikthauptstadt erfrage ich mit Händen und Füßen ein Restaurant. Ein Mann auf dem Fahrrad fährt voraus und führt mich. Nach einem Drei-Gänge-Menü, dem aufpäppeln meines Akkus und der weiteren Planung der Etappe mit Google Maps mache ich mich auf für die letzten sechzig Kilometer. Damit ich nicht meinen freien Tag in Riga aufgeben muss fahre ich heute wegen der ganzen Umwege über hundertfünfzig Kilometer. Am Zielort finde ich mein Quartier nicht. Meine Gastgeberin und ich telefonieren mehrmals und letztendlich kommt sie mit ihrem alten Volvo und fährt mir voraus zur Unterkunft. Ich gehe noch zu Fuß zum Supermarkt zurück, kaufe Brot, Käse, Gurken und eine Flasche Bier. Vor meinem Zimmer mit Blick in einen kleinen Park genieße ich beim Essen die letzten Sonnenstrahlen.

Riga empfängt mich mit einem richtigen Platzregen. Unter einem Baum Unterschlupf suchend ziehe ich meine Plastiktüten und den Rest meiner Regenkleidung wieder an. Als es auch unter der Baumkrone regnet fahre ich weiter. Kurz vor dem Zentrum verpasse ich die Spur für Radfahrer über den Fluss und fahre unter den Wasserfontänen der vorbeiziehenden Autos in die Stadt ein. Ich rette mich so schnell wie möglich in eine Seitenstraße und lege die letzten zwei Kilometer ruhig zurück. Im Hotel ziehe ich mir erst einmal die Überzieher aus, bevor ich zur Rezeption gehe. Darunter ist alles trocken, ein paar Plastiktüten gehören jetzt immer ins Gepäck!

Wieder einmal ein Länderwechsel

Nach siebzehn Tagesetappen erwartet mich in Riga ein fahrfreier Tag. Das haben meine Beine auch nötig! Ich besuche den großen Markt in den alten Zeppelinhallen. Hier in der Bahnhofsgegend ist es billiger und bunter. Der Markt bietet in mehreren Hallen und auch unter freiem Himmel alles für den täglichen Gebrauch. Obst und Gemüse, frischer und geräucherter Fisch, Fleisch, aber auch Kleidung und Pflegeartikel werden in den hohen alten Hallen angeboten. Dahinter sind Industriebrachen mit ein paar geöffneten Billigläden. Hier und in den angrenzenden Wohnvierteln ist der Lack ab. Ich komme an einer längeren Schlange vorbei. Die Leute halten alle Papiere in der Hand und warten, um an einem Polizisten vorbei ein Gelände betreten zu dürfen. Ob es sich um Amt oder Botschaft handelt, kann ich nicht erkennen. Ich komme an einem Friseur vorbei und lasse mir meine Haare schneiden. Ein guter Tag dafür, ein bisschen sitzen und dabei noch etwas Sinnvolles erledigen. Im Park ist ein Markt mit heimischen Produkten, Kunsthandwerk und Esswaren. Ich kaufe Anke eine dünne Wolljacke, die mir sehr gut gefällt. Hoffentlich passt und gefällt sie!

Nach einer Pause im Hotel möchte ich die dritten European Choir Games, zu der Chöre aus ganz Europa nach Riga reisen und in verschiedenen Wettbewerben gegeneinander antreten, besuchen. So etwas hätte ich mir vor ein paar Jahren auch noch nicht angesehen.

Die Idee für diese Reise wurde auf der Tour 2016 nach Südportugal geboren. Die Gedanken über die Europäische Gemeinschaft hatten zum Anlass, dass ich nach dem Südwesten dieses Jahr in den Nordosten aufbrechen wollte. Das Brexit Votum im Juni und die damals bevorstehenden Wahlen in Frankreich, Niederlande und Deutschland mit der Möglichkeit eines starken Zugewinns an Wählern oder sogar Regierungsbeteiligung für Antieuropäische Parteien machte schwer nachdenklich. Zum Glück ist, wohl auch auf Grund der Wahl des Populisten Trump in Amerika das schlimmste verhindert worden. Nun hat das polnische Parlament de facto die Judikative in dieser Woche abgeschafft. Gerade bin ich noch durch das Land gefahren, habe den enormen Wandel seit 1989 gesehen und nun hat Kaschinski und seine PiS Partei den nächsten Schritt raus aus der Demokratie vollzogen. Ich bin gespannt, ob sich im Land mehr als bisher Widerstand formieren oder ob auch diese Maßnahme ruhig hingenommen wird. Noch gespannter bin ich auf die daraus folgenden Entscheidungen der Europäischen Union. Traurig mit anzusehen, wie in immer mehr eigentlich der Demokratie zuneigenden Ländern die dritte Säule von den Regierenden ausgehebelt wird, um die eigene Macht zu stärken. Hier wird von Polen, aber auch von Ungarn stark an den Grundpfeilern der EU gesägt. Es wird spannend!

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Durchs Baltikum bis Tallinn

Leider war der Wettbewerb der Chöre schon fast zwei Stunden eher vorbei als angegeben. Wahrscheinlich haben alle in ihrer Nervosität hier etwas schneller gesungen.
Ich gehe am Nachmittag zum „Freundschaftskonzert“ in den Park. Ein skandinavischer Mädchenchor singt zusammen mit einem lettischen gemischten Chor ein altes Lied der Samen. Es rührt mich sehr an und scheinbar auch die anderen etwa dreihundert Zuhörer. Die Letten treten in Trachten auf, die Skandinavier in orangen Kapuzen- Shirts. Ein schönes Motiv auch für ein friedliches Europa. Hier ist es, dass schon letztes Jahr beschworene Europa der Regionen. Welch ein Bild könnte besser passen für den Gedanken, Tradition und Zukunft miteinander zu vereinen und etwas gemeinsames Großes zu erschaffen? Es regnet inzwischen in Strömen, aber kaum einer geht. Mit Schirmen und Kapuzen oder unter den Bäumen stehend hören alle gebannt zu. Der lettische Chor singt noch drei weitere, wunderschöne Lieder. Begleitet von Klavier und zwei alten Xylophon-ähnlichem Instrumenten werden die dunklen, melancholieschweren Gesänge vorgetragen. Mir treten Tränen in die Augen, ich bin tief angerührt von dem nordischen Vortrag. Wie muss das in dunklem Winter in einer warmen, spärlich erleuchteten Kirche klingen und wirken! Die Schwermut des Vortrags hat etwas in mir ausgelöst, angestautes wird ausgespült. Ich bin froh, hier diesen Menschen zuhören zu dürfen.  Es sind neben den Verlusten des letzten Jahres die fast drei Wochen alleine durch die Landschaft ziehen, die mich hier so offen stehen lassen. Sowieso neige ich zur Melancholie, mag sie sogar und bin auch des Öfteren zu Tränen gerührt. Musik ist dafür ein Zugang, ein Chor hatte das bisher aber noch nicht geschafft.

Ein seltsamer Weg nahe der Grenze in Ainazi

Am Abend besuche ich noch ein Orgelkonzert im Dom von Riga. Es werden Werke von litauischen und französischen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts gespielt. Besonders zwei Stücke von Olivier Messiaen sind eindrucksvoll und erinnern mich an Tangerine Dream, nur einige Jahre früher. Manche Zuschauer sind entrückt, andere schlafen ein. Ich genieße die anderthalb Stunden und spaziere durch die abendliche Altstadt zum Hotel.

Noch drei Etappen bis Tallinn. Heute bin ich bis Ainazi gefahren. Der Ort liegt entlang einer Nebenstrasse direkt an der Grenze zu Estland am Meer. Ich gehe Musik hörend spazieren. Zum Meer muss man durch ein Naturschutzgebiet. Songs von meiner ewigen Liste laufen. Klassiker wie „When i was young“ von Eric Burdon, „Coyote“ von Joni Mitchell oder „Caravan“ von Van Morrison kommen per Zufall hintereinander. Ich klettere auf einen eisernen Aussichtsturm und genieße oben von der Plattform einen weiten Blick über Schilf, Sand und Meer. Die Sonne scheint und ein Wind bläst vom Meer kommend übers Land. Die Musik nimmt mich mit und schon wieder lache und weine ich gleichzeitig. Ich singe laut und spiele ein bisschen Luftgitarre.  

Weites flaches Land im Nordosten

Am schmalen Strand liegen viele Möwenfedern, aber kein Müll. Ich ziehe die Sandalen aus und fühle den Sand zwischen meinen Zehen. Nach einer halben Stunde spaziere ich zurück zur Straße und wandere an schönen alten und verfallenden Holzhäusern vorbei. Ich komme zur Grenze und bin erstmals auf estischem Boden. Zurück in Lettland finde ich eine Art Mole aus großen schwarzen Steinen, die durch den Schilfgürtel hinaus aufs Wasser führt. Ich verstehe den Sinn nicht und frage mich, ob es einen künstlerischen Grund für das Bestehen dieses Bauwerks gibt. Ich gehe bis zum Ende, was anstrengend ist, weil die Steine locker geschichtet und die Hohlräume nicht verfüllt sind. Vom Wasser aus ist der Blick zurück sehr beruhigend. Nur das Grün des Schilfes und das Blau des Himmels ist zu sehen und natürlich der sehr schöne schwarze Weg. Andauernd schießen die Tränen in meine Augen, ohne dass ich traurig wäre. Eine interessante Stimmung! Zurück im Hotel treffe ich einen deutschen Radfahrer aus Nürnberg. Wir essen zusammen zu Abend und erzählen von unseren Touren. Besonders interessieren mich seine Berichte aus Mazedonien und Albanien. Über eine Fahrt in diese Länder habe ich in den letzten Wochen nachgedacht. Nach dem Essen verabschieden wir uns. Er möchte sich in der Nähe noch einen Platz zum Zelten suchen.

Idylle am Meer

Am nächsten Morgen treffe ich Stefan, der Tourenfahrer von gestern, an einer kleinen Kaffeebude neben der Hauptstraße in der Sonne sitzend wieder. Er erinnert mich ein bisschen an Michel Houellebecq und während seiner zwei Kaffee zum Aufwärmen raucht er mindestens genau so viele Zigaretten wie der französische Schriftsteller. Wir nehmen den Faden vom Vorabend noch einmal auf und ich erfahre einige Details über Albanien und Montenegro. Fünf Lullen später verabschieden wir uns und ich fahre mit Musik in den Ohren weiter auf der E 67 nach Pärnu, dem ehemaligen Pernau. Heute ist das die sogenannte „Sommerhauptstadt“ der Esten. Wer es sich leisten kann, und im Land bleiben möchte, verbringt hier seinen Urlaub. Das Zentrum und der Strand sind sehr entspannt und eine Menge kleiner Restaurants und Bars lassen die Urlaubsstimmung steigen. Es ist der wärmste Tag meiner Reise und bei 25° C T-Shirt Wetter. Viele fahren auf Leihfahrrädern durch den Ort, der Strand ist angenehm belegt. In der kleinen Kirche im Zentrum ist Hochzeit. Sommer auf estnisch.

Stefan mit Kippe und Espresso am Frühstückstisch

Fast drei Wochen bin ich unterwegs und nun kurz vor meinem Ziel. Alles ist sehr gut gelaufen, keinerlei Schäden an Körper oder Rad. Schlaf habe ich immer weniger gebraucht. Trotz der Anstrengung habe ich kaum über sechs Stunden pro Tag geschlafen, ein seltsames Phänomen. An meinem E-Bike musste ich nicht eine Schraube nachziehen, noch nicht einmal Luft in den Reifen nachpumpen. Es hätte ruhig des Öfteren etwas wärmer sein können, das Thermometer ist kaum über die zwanzig geklettert. Dafür habe ich während der Fahrt nur zwei richtige Regenschauer abbekommen und ein paar Mal tropfte es vom Himmel. Es waren wieder die kleinen Erlebnisse, kurze und ein paar längere Gespräche und die kulturellen Verschiebungen, die diese Reise interessant gemacht haben. Die Landschaft ist nicht spektakulär, oft auch etwas monoton zwischen kilometerlangen Kiefernwäldern. An manch kleinem Ende der Welt habe ich gesessen, Orte, an denen die Zeit still zu stehen scheint. Manch sentimentaler Moment, manch kleine Melancholie, aber auch einige Momente purer Freude und hochhüpfenden Herzens.

Der Weg ist das Ziel, trotzdem...

Die Gespräche mit Anke haben mir immer wieder gutgetan und ich habe mich über jeden Anruf gefreut. Meine Art zu reisen ist auf der einen Seite spartanisch, aber durch die Nutzung von Handy, I Pod, Computer und natürlich auch Kamera und Fahrradmotor auch luxuriös und nahe am Puls der Zeit. Das Eintauchen in die Geschichte der bereisten Orte mit Buch und Internet schafft die nötige Vertiefung. Oft ist ein halber Tag vor Ort genau richtig, manchmal aber auch etwas kurz. Für ein oberflächliches Kennenlernen Einheimischer oder anderer Reisenden reicht es und mehr wäre letztendlich auch über die Reisetage hinaus nicht haltbar. Dafür ist das Geflecht aus Freunden und Familie, aus Verpflichtung und Freizeit zu eng geknüpft. Neue Eindrücke sind aber auch eine Menge zum Mitnehmen, um in der Folge dann davon zu zehren. Auch zum Einordnen der eigenen Situation ist die Tour sinnvoll. Sowohl der Abstand zur Heimat und die Sicht aus der Entfernung als auch der Blick auf das andere in der Fremde befruchten das Leben, brechen aufkommende Verkrustung wieder auf.

Müde erreiche ich Tallin. Die letzten hundertdreißig Kilometer geht es fast ausschließlich an der Europastraße 67 entlang, die auch Via Baltica heißt und die wichtigste Fernverbindung Nordosteuropas ist. Hunderte LKWs und tausende PKWs sind an mir vorbeigezogen, während ich Musik hörend stoisch meinen Halbmeter breiten Randstreifen entlang ziehe. Noch durch die Vorstädte kämpfen und dann stehe ich vor meinem Hotel in der wunderschönen Altstadt von Tallinn. Nach genau 2200km bin ich angekommen. Wärme, strahlender Sonnenschein und ein angenehmes Hotel empfangen mich.

Nach einer Dusche gehe ich zum Hafen und kaufe mir für Übermorgen mein Fährticket nach Helsinki. Die finnische Hauptstadt ist übers Meer nur achtzig Kilometer entfernt.

Jugendliche auf dem Linnahall-Gelände

Dem Ufer folgend komme ich an der Ruine der sowjetischen Linnahall vorbei, einer zur Olympiade in Moskau errichteten Mehrzweckhalle. In Tallinn fanden damals die Segelwettbewerbe statt. Heute ist hier alles geschlossen und nur die riesigen Treppen und Freiflächen, an Graffiti besprühten Wänden und einer Menge Beton vorbeiführend sind zugänglich. Junge Leute beleben das Areal um in den Abend chillen. Von hier gehe ich weiter, dem Ostseeufer folgend und komme an einem selbstverwalteten Kunstrevier vorbei. Eine von mehreren Punkbands spielt gerade vor ein paar Zuschauern zum Aufwärmen für die Konzerte am Abend. Ich genieße die anarchische Atmosphäre, fotografiere das aus der Zeit gefallene Bild. Ein schöner Ort, so zentral in der Stadt. Ich spaziere an alternativen Cafés vorbei, passiere das alte, bedrohlich wirkende Gefängnis Patarei, heute vernagelt und auf neue Nutzungspläne wartend. Das ganze Ufer war zur Sowjetzeit Speerzone und ist noch heute in einem Schwebezustand. Das ist sehr attraktiv, weil zwischen den verrottenden Marinebooten, den zerbröckelnden Betonplatten am Wasser und den alten Hallen des ehemaligen U-Boot Bauers Noblessner noch viel Platz ist für kulturelle Kleinprojekte.

Das Linnahall-Gelände wird vielseitig genutzt

Eine Party wird aufgebaut, ein kleines Theater bereitet den Abend vor und ein Café in einer alten Lagerhalle am Ufer ist Treffpunkt für die Schönen und die Interessanten. Hier lasse ich mich nieder, genieße die langsam sinkende Sonne und esse, wie fast überall auf meiner Reise, hervorragend. Das ganze Terrain gehört inzwischen schon Investoren und wird sicherlich in ein paar Jahren ein neues Gesicht bekommen. Schräg gegenüber dem Café sind schon die ersten beiden Häuser eingerüstet und für den Umbau bereit. In der Stadt gibt es einige Befürchtungen, dass der Zugang zum Wasser dann an manchen Stellen wieder geschlossen wird. Aber da die Besitzer der Grundstücke zusammen mit den Verantwortlichen von Tallinn den herrlich abwechslungsreichen Uferweg freigegeben haben, wird es wohl eher auf die übliche Mischung aus alten sanierten Bestandsbauten und einer ergänzenden Landmark-Architektur hinauslaufen.

Restauriertes Schiff nahe den Noblessner Hallen

Hoffentlich nicht, wie leider auch üblich, dann tot saniert und nur am Sonntag zum Spazieren gehen gut besucht. Der oft begangene Fehler ist, Cafés und Restaurants einzuplanen, aber Supermarkt und Geschäfte für den täglichen Gebrauch außen vor zu lassen. Auch die Einplanung einer heterogenen Anwohnerschaft wird meistens zugunsten des Gewinns nicht zugelassen. So bleiben ähnliche Projekte zu oft weit hinter dem Möglichen zurück und schaffen es nicht integrativer Bestandteil des Stadtlebens zu werden.

Der sportliche Nutzen von Absperrungen

An meinem freien Tag gehe ich zum oberen Teil der Altstadt mit ihren Aussichtspunkten, Burg und einigen Kirchen. Es ist Sonntag und der Gottesdienst in der orthodoxen Kirche fängt gerade an. Golden glänzen die Ikonen und genauso golden glänzen die Gewänder des Priesters und seiner Helfer. Die Predigt wird aufgeteilt zwischen verschiedenen Personen, eine Art Wechselsingsang in verschiedenen Tonlagen. Die Gläubigen bekreuzigen sich sehr oft, die Touristen, außer mir zumeist Asiaten, schauen gespannt zu. Es brennen viele der langen, dünnen Kerzen, wie ich sie schon aus anderen orthodoxen Kirchen kenne. Vor der Kirche stehen mehrere Frauen mit Kopftüchern und bitten um Almosen.

Unterhaltung im alternativen Zentrum

Von einem der Aussichtspunkte sehe ich den Bahnhof und die dahinter liegenden alten Industriehallen. Hier haben sich die Kreativen der Stadt eingemietet. Ich gehe den Burgberg hinunter und wechsle über die Schienen in den Stadtteil Kalamara. Das Viertel ist wesentlich weniger touristisch. Die hierher kommen sind meistens jünger und an anderen Themen interessiert. In den alten Industriehallen sind neben Büros auch Geschäfte für Billiges oder junges Design, Café, Restaurant oder Kindergarten untergebracht. Es ist ein vibrierender Teil der Stadt, alternativ und innovativ. Estland hat immerhin Skype auf den Weg gebracht, eine der wenigen erfolgreich gegen Kommunikationsprodukte aus Silicon Valley konkurrierenden Programme.

Lust an der Freiheit

Neben den alten Anlagen sind es die über fünfhundert alten, zweigeschossigen Holzhäuser, die zur Attraktivität des Stadtteils beitragen. Ganze Straßenzüge sind mit zumeist Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen ehemaligen Arbeiterhäusern erhalten. Das Viertel hat in den letzten zwei Jahrzehnten den üblichen Weg von Bohème zu Bourgeoisie durchlaufen. In den letzten Jahren sind die Preise durch die Decke geschossen. Es gibt noch ein paar dem Hafen zuarbeitende Betriebe, auch die Bevölkerung ist noch nicht abschließend gentrifiziert. Aber die kleinen Läden und Cafés sehen schon recht stylisch aus.

Im ehemaligen Industrieareal treffen sich die Menschen um die Abendsonnezu genießen

So kurz vor Ende der Reise freue ich mich über die Nachricht der polnischen Demonstrationen. Das Land scheint doch zu großen Teilen die Demokratie als Freiheit begreifen zu wollen und hoffentlich wird auch hier nun ein Teil des populistischen rechten Flügels zurückgedrängt. Der Kampf wird auf beiden Seiten nun weitergeführt. Aber es scheint, als seien viele Menschen aufgewacht und hätten begriffen, dass Kampf für Ziele unabdingbar ist. Spannende Zeiten...

Meine Radreise ist zu Ende, die Rückreise beginnt. Mit der Fähre fahre ich nach Helsinki, radele die zwanzig Kilometer vom Stadthafen zum Hansaterminal. Leider führt der Weg über die dreispurige Autobahn und durch einige Baustellen. An dem Fährterminal gibt es eine eigene Spur für Radfahrer. Insgesamt fünf sind wir, als ein Follow-me-Auto uns abholt und quer durch das Hafengebiet, vorbei an all den Containern und Kränen zu unserer Fähre bringt.

Wir vertäuen die Räder und verstreuen uns auf dem Schiff. Über Travemünde geht es mit meinem E-Bike nach Lübeck. Eine letzte Übernachtung im Hotel und dann mit dem Zug zurück nach Köln. Mein Zuhause wartet und ich freue mich auf seine Bewohner!

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