Die Alpen

Criss Cross durchs Gebirge

Die Alpen

Team Tropicana legt ab...

Abfahrt vier Uhr morgens. Um halb sechs soll der Zug Richtung Basel in den Kölner Hauptbahnhof einrollen. Viviane wirft noch schnell die Kochutensilien aus dem Gepäck, um ihr Rad spurstabiler zu bekommen. Anke bittet mich, etwas auf Estelle aufzupassen. Die ist noch gut angehauen von ihrer Abiturfeier und hat keine Minute geschlafen.

Der Vollmond scheint durch die toten Fichten als wir den Königsforst durchqueren. Estelle fährt viel zu schnell für ihren Zustand und überholt mich auf dem frisch geschotterten Untergrund, um dann in Hotpants vorauszufahren. Martin fährt von hinten heran mit der ersten Tüte auf dem Zahn. Team Tropicana ist dieses Jahr mit Umbesetzungen zur nächsten Tour aufgebrochen. Leider ohne Guido, der wegen Meniskusproblemen kurzfristig absagen musste und den nun Vivianes Tochter Estelle vertritt. So wird unser Altersschnitt deutlich nach unten gedrückt, Martin ist 67, Estelle 17 und Viviane und ich bilden mit 45 und 53 Jahren den Mittelbau. Wir erreichen sicher und in der Zeit den Kölner Hauptbahnhof. Noch ein Startfoto und dann fährt auch schon unser Zug ein.

Gegen zehn Uhr startet in Basel der Schweizer Teil unserer Tour. Wir schlängeln uns durch die Stadt Richtung Jura, genießen erste Höhen und fahren mit dem Duft des frisch geschnittenen Heus in der Nase in einen sonnigen Tag. Vor über dreißig Jahren bin ich schon einmal hier mit meinem Bruder auf dem Weg von Köln nach Perugia durchgeradelt. Es ist ein schöner Einstieg, um dann über den Vierwaldstätter See in die Alpen vorzudringen. Nach teilweise heftigen Steigungen kehren wir zum Mittagessen in einen gut besuchten Gasthof ein. Ich erinnere Estelle daran ihr Akku anzuschließen, da sie weniger Ladekapazität als wir hat und unsere heutige Etappe noch recht lang wird. Von unserem Platz sehe ich wie sie hektisch in ihrem Gepäck wühlt und das Gesicht dabei immer verzweifelter wird. Schließlich kommt sie an den Tisch und murmelt etwas kleinlaut, dass ihr Akkuladegerät wohl bei der Schlüsselsuchaktion des gestrigen Nachmittags nicht wieder eingepackt wurde. Zusammen mit Viviane wird alles noch einmal auf den Kopf gestellt, aber das Gerät fehlt... Wir überlegen, wie es weitergehen kann und sehen zwei Lösungsansätze: Guido könnte uns eine Expresssendung zum nächsten oder übernächsten Übernachtungsort schicken oder wir finden morgen in Luzern Ersatz. Wir ändern unseren Tagesplan und suchen uns einen schnelleren Weg zum Tagesziel, damit möglichst wenig Akku verbraucht wird. Das es am Ende trotzdem über hundert Kilometer werden war schon vorher angelegt und auch kaum mehr beeinflussbar. In etwas getrübter Stimmung machen wir uns nach dem guten Essen wieder auf den Weg.

Die Landschaft des Schweizer Jura ist wunderschön, die Anstiege der teils sehr schmalen Wege brutal. Trotz E-Bike ist es an mancher Stelle nur mit über dem Lenker hängen möglich, die Steigungen zu bewältigen. An einer besonders bissigen Passage halten wir auf halber Höhe, um die Sattelstütze an Vivianes Rad einzustellen, da sich die Befestigung gelockert hat. Letztendlich wird daraus eine eineinhalb Stunden dauernde Aktion, da die Schraube ein kaputtes Gewinde hat und auch die - Gott sei's gedankt - vorhandene Ersatzschraube nur noch mit viel Mühe in die vorgesehene Gewindehülse einzuschrauben ist. Estelle holt in der Zeit eine kleine Mütze Schlaf nach. Wir klatschen uns vor Erleichterung ab, als wir endlich wieder startklar sind. Während Martin noch beim Akkuwechsel hilft, erklimmen Estelle und ich schon weiter den Berg. Als uns das Navigationsgerät aber auch noch über die Wiese weiterführen will wird klar, dass ein Fehler des GPS vorliegt. Wir drehen um, fahren den ganzen steilen Weg wieder bergab und halten im Dorf an einem Gasthof, damit wir uns ein paar Tipps für die weitere Wegführung holen können. Ich lasse mir ein paar kleinere Ortschaften auf unserem Weg auf einen Zettel schreiben und will versuchen mich daran entlangzuhangeln. Noch ein paar Kommentare von der biertrinkenden Runde mitnehmend, geht es weiter. Das Jura ist größer als gedacht oder erinnert, und so wühlen wir uns durch die Landschaft, immer wieder von schönen Ausblicken abgelenkt oder eine Zeitlang in den Wäldern gefangen.
Als wir zehn Stunden nach unserem Start in Basel und fünfzehn von Köln aus unser Hotel erreichen, sind alle schon etwas platt und wir freuen uns auf die warme Dusche. Leider steht dem noch der fehlende Code für die kleinen Tresore an der Eingangstür entgegen. Nach erfolglosem stöbern in meinen Mails erreiche ich beim wiederholten Versuch dann doch jemand, der mir unsere Zugangsdaten zum ersehnten Schlüssel geben kann.

Schon kurz nach sieben sitzen wir wieder im Sattel, um früh in Luzern anzukommen. Es ist eine gemütliche Tour, meistens durch das breite Tal, in dem auch Autobahn, Eisenbahn und Hauptstraße verlaufen. Hin und wieder fahren wir Passagen an den nun deutlich flacheren Hängen entlang. Ein paar Kilometer vor Luzern sehen wir ein kleines Radgeschäft mit angeschlossener Werkstatt. Der Inhaber ist sehr sympathisch und überlegt mit uns an einer Lösung für unser Problem. Nach mehrmaligem telefonieren bestellt er einen Adapter, der nun mit Expressservice in unser Hostel geliefert werden soll. Wir kaufen noch einen Rückspiegel für mein Fahrrad, weil ich als Navigator immer wieder schauen muss, ob die anderen noch hinter mir sind. Wenn ich mich dann neben Navigieren und auf den Verkehr achten auch noch immer umblicken soll, ist das recht nervend, so dass ich mich über meinen neuen Spiegel sehr freue. Wir kaufen noch ein viertes Ladegerät, das wir dann in Verbindung mit dem Adapter für Estelle brauchen. Die Werkstatt ist ein bisschen aus der Zeit gefallen und erinnert mich an die ebenfalls eigenwillige Fahrradwerkstatt in meiner Heimat. Der Schwager des Besitzers repariert noch eine Kleinigkeit an Martins Rad, während ich Interieur und Mechaniker fotografiere.

Wir radeln weiter ins schöne Zentrum von Luzern und genießen den Blick über Vierwaldstätter See und die umliegenden Berge. Das Panorama ist eine einzige Postkarte. An der Promenade auf einer Bank sitzend rauchen wir eine Tüte und überlegen, ob wir uns auf den Kurier verlassen oder noch einmal die Radläden der Stadt nach einem Adapter abklappern. Wir entscheiden uns für das Vertrauen in die Schweizer Pünktlichkeit.

Zwei Personen in gelben Warnwesten kommen etwas hektisch mit einer Kiste voller Küken an den Steg vor unserer Bank. Wie ich von ihnen erfahre, handelt es sich um die vor einem Tag geschlüpfte Brut der Gänsesäger, die seit einigen Jahren in einem Turm hoch über der Altstadt brüten. Schon am ersten Tag stürzen sich die Küken vom Turm, um von da an außerhalb des Nestes versorgt zu werden. Leider hat ihre Mutter die Angewohnheit, mitten in der Altstadt mit den Kleinen zu landen und dann wegen der vielen Menschen hektisch zu flüchten. Über Handy sind die Helfer untereinander in Kontakt, um die Küken nahe der Mutter am Wasser abzusetzen. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass Mutter und Kinder nicht mehr zusammenfinden.
Hier scheint nicht der richtige Ort zu sein, die Helfer ziehen mit ihrer Kiste weiter, lassen mich aber erst noch ein Foto der Küken schießen. Wir genießen noch eine halbe Stunde das städtische Leben bevor wir weiter Richtung Gersau entlang des Sees fahren.

Nur wenige Kilometer vor unserem Ziel schickt uns das GPS steil in die Berge. Zuerst noch auf Asphalt, kurze Zeit später auf Schotter hecheln wir den Berg herauf. Die Steigung liegt oberhalb der 20% und die Sonne brennt gnadenlos vom Himmel. An einem Bauernhof wird gerade der Weg neu geschottert. Wir quetschen uns an den Baufahrzeugen vorbei und da ich bei zweimaligem Fragen, ob es hier nach Gersau gehe, jeweils eine knappe Bejahung von einem der Arbeiter höre, fahren wir weiter den Berg herauf. Als es schließlich von Schotter auf Wiese geht hoffe ich nur noch, dass wir wirklich auch einen Weg wieder hinab finden. Belohnt werden wir während der ganzen Strecke mit herrlichen Aussichten aus immer neuen Blickwinkeln. Kurz vor der Spitze passieren wir noch einen Bergbauernhof. Zwei Männer und eine Frau sitzen auf einer Bank vor der Scheune. Ich unterhalte mich kurz mit ihnen. Radler kommen hin und wieder einmal vorbei, mit Gepäck allerdings fast nie. Kein Wunder bei den Höhenmetern auf so kurzer Distanz! Ich fotografiere die drei und fahre meinem Team hinterher. Die Abfahrt ist durchgehend geteert und somit eine echte Belohnung für unsere Mühen. Wir hätten auch einfach dem Navi trotzen und die Seestraße noch etwa drei Kilometer bis zum Ziel entlangfahren können, aber manchmal sind die Fehler der Maschine auch eine, wenn auch anstrengende, Bereicherung der Tour...

Unser Hostel liegt direkt am See, so dass wir unser Gepäck nur kurz ins Zimmer bringen und danach erst einmal ausgiebig das herrlich frische Wasser genießen. Estelle missbraucht die Mülltüte aus dem Zimmer, um Bauzutaten in ihrem Bikini trocken zur Schwimminsel zu transportieren. Was für ein schöner Platz für ein richtiges Urlaubsgefühl! Leider holt uns der fortschreitende Abend wieder aus unseren Träumen zurück, da der Kurier auch bis zweiundzwanzig Uhr nicht auftaucht. Wir telefonieren mit dem Händler und er verspricht am frühen Samstag alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit wir hoffentlich morgen alle zusammen starten können und keiner zu einem späteren Zielort nachreisen muss.


Am Morgen warten wir immer noch auf die Expresssendung die eigentlich gestern am Abend schon eingetroffen sein sollte. Wir haben mit Guido schon einige Mails hin und her geschickt und er hat uns angeboten, das Ladegerät von Andreas zu bringen. Aber wir sind uns alle bewusst, dass wir ein solches Angebot nicht annehmen können. Vor allem, da Guido in zwei Tagen schon wieder zuhause sein muss, um ein MRT seines Meniskusschadens durchführen zu lassen. Außerdem ständen unser Vorteil und die Fahrtstrecke in überhaupt keinem Verhältnis. Somit bleibt uns nichts übrig, außer bei dem Fahrradhändler noch einmal anzurufen. Vielleicht hat der inzwischen beim Lieferanten Informationen über den Kurier bekommen. Während ich im Speiseraum Martin die nötigen Landkarten für unsere weitere Reise auf sein Navi spiele, ruft Estelle den Händler an. Kurze Zeit später kommen Viviane und sie freudestrahlend in den Raum. Das Gerät ist inzwischen im nächsten Ort eingetroffen und tatsächlich erreicht es keine zwanzig Minuten später unser Hostel. Estelle reißt den Karton erwartungsvoll auf und tatsächlich ist es passgenau der richtige Adapter. Jetzt noch zwei Stunden laden und dann kann es endlich sorgenfrei weitergehen. Wir nutzen die Zeit und genießen noch ein Bad im See.

Es ist elf als wir abfahren und die Sonne brennt heißer als an den vorherigen beiden Tagen. Entlang des Sees fahren wir bis Ingenbohl und dann weiter zum Zürichsee. Kurz vor unserem Ziel in Amden lockt der karibikblaue Fluss Linth. Wir gehen zum Ufer hinunter und lassen uns von zwei Einheimischen beraten. Die Strömung ist sehr stark, aber es gibt alle paar hundert Meter eine Leiter zum Rausklettern. Die Erfrischung ist perfekt, unsere leicht angebrannte Haut entspannt sich schnell im kühlen Wasser. Wir laufen direkt noch einmal ein Stück den Fluss hinauf, damit wir uns abermals runter treiben lassen können. Wieder einigermaßen klar im Kopf und mit angenehm runtergekühlter Haut geht es jetzt in den steilen Aufstieg zu unserem auf neunhundert Meter Höhe gelegenen Hotel.

Jeder Tag bisher hat uns mehr als zweitausend Höhenmeter beschert und morgen beginnen erst die „richtigen“ Alpen… landschaftlich fühle ich mich an die Märklin-Eisenbahn meiner Kindheit erinnert mit den selbstgebastelten tannenbestandenen Bergen und den hübschen Faller-Häuschen im Bausatz. Alles wirkt Schweiz typisch aufgeräumt und sehr akkurat. Wegen des guten Wetters wird allerorts Heu gemacht. Es duftet würzig nach Wiesenkräutern und Gras, wenn wir durch die breiten Täler mit ihren großen Wiesen fahren. Wir passieren Kuhherden, die mit ihren Glocken unseren Takt begleiten. Oft kommt es meinem Ideal einer harmonischen Kulturlandschaft nahe, auch wegen der auf weiten Strecken recht dünnen Besiedelung und dem hohen Anteil alter, sehr gepflegter Häuser. Mit ihren herrlich verwitterten Holzverkleidungen sind sie eine Zierde. Nur rund um den Zürichsee ist es zersiedelter und viele teure, aber auch monoton-kistige Neubaugebiete prägen streckenweise das Bild. Natürlich passieren wir auch Autobahn und Industriegebiete, aber das Verhältnis zwischen harmonischer Kulturlandschaft und Natur auf der einen und reiner Zwecknutzung auf der anderen Seite fühlt sich ausgewogen an. Die Schweiz ist ein reiches Land und das ist vielerorts angenehm sichtbar. Die Mischung aus Reichtum, Reinlichkeit und Traditionsbewusstsein, gepaart mit grandioser Natur, machen das Alpenland zu einem teuren aber schönen Vergnügen! Ein bisschen wie die Fahrt durch einen endlosen Park mit zu hohen Eintrittsgeldern.

Nach dem Frühstück werden wir direkt irregeleitet und landen einmal mehr auf einer steilen Sackgassenrampe. Aber auch ohne diesen Umweg sind es noch sechshundert Höhenmeter in den ersten vierzig Minuten bis wir auf über fünfzehnhundert Metern die Vordere Höhi erreichen. Der letzte Abschnitt des landwirtschaftlichen Weges ist erst seit Anfang des Monats schneefrei. Viviane und Estelle kühlen sich sofort am Hahn der Kuhtränke. Der Bauer kommt aus seinem Hof und bietet den beiden an, für ein Bad hineinzusteigen.

Allzu viele leicht bekleidete Frauen kommen hier wohl nicht vorbei. Die Abfahrt ist so steil, dass wir teilweise in den Bremsen stehen. Für Viviane ist das ein Problem, weil ihre Hinterradbremse sich nicht mehr ganz frisch anhört. Besser zu fahren wird es nach dem Erreichen der Hauptstraße. Die schier endlose Abfahrt bringt Martin und mich zum Jauchzen. Mit siebzig Stundenkilometern erreiche ich meinen bisherigen Geschwindigkeitsrekord.

Wir sind froh, heute schon seit kurz nach halb acht im Sattel zu sitzen, weil es schnell sehr viel wärmer wird. Gegen Mittag hat das Thermometer schon deutlich die dreißiger Marke hinter sich gelassen. Vor Chur bemerke ich erstmals meinen Sonnenbrand an Fuß und Unterschenkel. Nach unserer Ankunft in der Stadt sind alle dankbar etwas Schatten und eine kalte Dusche genießen zu dürfen!

Weil Estelle gerne etwas essen möchte, ziehen wir los und finden auch ein sehr schönes Café am Rande der Altstadt. Die anderen haben danach noch Lust eine Runde gehen, ich möchte eigentlich ins Hotel zurück. Dann schaue ich mir aber allein doch noch ein paar Ecken an und lande in der achthundert Jahre alten Kathedrale. Sie ist nicht sonderlich imponierend, dafür aber herrlich kühl. Ich schlendere einmal herum und setze mich dann auf einen der neben den Kirchenbänken stehenden Stühle. Meine Gedanken schweifen zu Joe. Noch kein halbes Jahr ist seit seinem Tod vergangen, trotzdem scheint es mir eine Ewigkeit her zu sein. Viel Zeit haben wir zusammen verbracht, zahllose Momente zusammen erlebt… Ich bin allein in der Kirche und so halte ich Zwiesprache mit Joe. Erzähle ihm für was er für mich stand und wo er mir besonders wichtig war. Als ich eine Zeitlang wegen einer drohenden Verhaftung nicht nach Deutschland konnte, besuchte er mich jedes Wochenende. Sich nach seiner Arbeit als Maurer, noch in Bauklamotten, in sein Auto zu setzen und von Köln nach Amsterdam zu fahren war eine freundschaftliche Großtat. Die Tage mit ihm waren Feiertage in meiner Wohnung, den Coffeeshops und in den interessanten Clubs der Stadt. In dieser Zeit hat er mich über Wasser gehalten und mir mehr Gutes getan, als ich jemals zurückgeben konnte. Ob als Trauzeuge bei seiner Hochzeit im nordwestlichen Thailand, auf Tour durch Kamerun, kiffend in Kenia oder noch letztes Jahr in Costa Rica, Joe und ich haben uns zusammen immer wohl gefühlt. Ich spüre das Loch, das er durch seinen Tod gerissen hat. Unersetzbar. Eine geführte Gruppe betritt die Kathedrale und mit dem Beginn des Vortrags ist der Moment des Andenkens und der Ruhe vorbei. Ich trete wieder hinaus ins blendende Sonnenlicht und spaziere ruhig und nachdenklich zum Hotel.

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Unbeschwert in die Alpen...

Da es am Nachmittag in den Bergen regnen soll, starten wir schon um halb sieben. Aus dem Zentrum und durch die Vororte, vorbei an verschlafenen Schulkindern, nähern wir uns mit jedem Kilometer dem San Bernardino Pass. In einem kleinen Ort oberhalb unserer Strecke kaufen wir ein und frühstücken unter Platanen am Dorfplatz. Diese Momente des Innehaltens sind mir auf Tour genauso wichtig wie die in Bewegung. Immer kommt jemand vorbei und grüßt, eine kleine Geschichte spielt sich vor unseren Augen ab, jemand spielt ein Instrument am offenen Fenster oder ein verstecktes Vogelnest wird entdeckt. Der Brunnen füllt noch unsere Flaschen bevor wir aufbrechen. Größtenteils werden wir über ruhige Nebenwege geführt, fahren aber auch kurze Teilstrecken entlang der Autobahn. In einem kleinen Dorf scherzen wir mit einem Hundebesitzer für einige Minuten, sein Tier badet währenddessen im Dorfbrunnen. Laut seinem Herrchen ist das Buddahs tägliche Routine, selbst bei Minusgraden im Winter.

Vor dem Einstieg in die Haarnadelkurven des letzten Aufstiegs zur Passhöhe halten wir noch einmal für ein kleines Mittagspicknick. Im gegenüberliegenden Restaurant scheint es anspruchsvolle Küche zu geben. Der Parkplatz wird von einem Bentley Cabrio, einem Triumph Oldtimer, einem neuen Mercedes G-Klasse und ähnlich exklusiv-teuren Wagen zugeparkt. Wir fühlen uns bei Käse, Schinken und Brot zum Dorfbrunnenwasser ebenfalls privilegiert.
Lange haben wir auf den richtigen Aufstieg gewartet, nach einem kleinen Irrweg durch das Gelände jenseits der Straße geht es dann doch noch los. In endlosen Schleifen fahren wir dem höchsten Punkt entgegen. Estelle und ich spurten voraus und puschen uns gegenseitig den Berg hinauf. Auf 2066m haben wir es geschafft und lassen uns von anderen Passbesuchern am Gipfelschild fotografieren. Noch eine halbe Stunde mit einer Tüte auf der Bank sitzend, die Höhenluft genießend und dann rollen wir auf der anderen Seite des Berges hinab ins Dorf San Bernardino. Im örtlichen Supermarkt kaufen wir für ein weiteres Picknick ein und machen es uns auf der breiten Mauer vor der Kirche gemütlich. Etwa gleichzeitig bemerken Martin und ich die tief fliegenden Schwalben. Kurz danach fallen auch schon die ersten dicken Tropfen. Wir packen schnell alles zusammen, flüchten in unsere Zimmer. Auf dem Weg genießen wir aber noch den würzigen Geruch von Regen auf heißem Stein. Eine unvergessliche Kindheitserinnerung, die uns allen sehr lieb ist, wie wir auf dem Bett liegend uns erinnern. Viviane und Estelle laufen noch schnell durch den Regen zum Dorfladen und kaufen ein Kartenspiel. Während es sich draußen verdunkelt, lerne ich Shithead, lustig und einfach. Wir hören Musik und spielen Runde um Runde, bis irgendwann die Sonne den Regen wieder ablöst. Für Estelle ist ein Ort, in dem sie nur für einen halben Tag strandet um dann weiterzuwehen ein wenig langweilig. Für mich gibt es immer die Fotografie, die Vorbereitung des nächsten Tages oder meine Einträge ins Tagebuch. Martin raucht einfach einen weiteren Joint und verschläft ein paar Stunden. Bei Viviane ist es ähnlich. Am Abend gehen wir zusammen in die Dorfkneipe, spielen zu viert weiter Karten und lassen uns eine Minestrone schmecken.

Knapp hundertdreißig Kilometer sollen es heute sein. Mein Navi erzählt mir es seien fünfzig weniger. Leider ist die Zuverlässigkeit in der Schweiz schon vor ein paar Jahren fragwürdig gewesen und das hat sich auch nicht geändert. Wir genießen erst einmal den frühen Morgen mit einer endlosen Folge von längeren Abfahrten Richtung Bellinzona. Zwischendurch eine kurze Kaffeepause zum Aufwachen in einem der etwas verfallen wirkenden Dörfern. Zwei Gastwirtschaften nebeneinander buhlen um die paar Kunden. Wir sind in unserem Café die ersten Kunden. Die Besitzerin nimmt unsere Bestellung auf und geht zum nahegelegenen Bäcker, um jedem ein Croissant zum Kaffee zu kaufen. Die Bergdörfer haben es schwer in unserer modernen Welt. Es gibt oftmals nicht genug Arbeit und Perspektive, so dass die Alten die Jugend ziehen lassen müssen. Während die Städte aus allen Nähten platzen, veröden die Bergdörfer und leeren sich Zusehens. Die Infrastruktur ist zu schwierig, um attraktiv zu bleiben. Nur an touristisch interessanten Flecken ist die Altersstruktur noch in Ordnung. Ich finde es traurig, die leeren Fensterhöhlen zu sehen, die grauen Mauern und dazu ein paar alte Menschen, die trotz schlechter Versorgung bis zum Ende ausharren. Vielleicht führt die Digitalisierung zu einer Revitalisierung solcher verlorenen Orte. Digitalnomaden mit Vorliebe für frische Bergluft gesucht, Glasfaser ist schon unterwegs…

In Bellinzona suchen wir einen Fahrradladen, damit Vivianes Bremsen erneuert werden. Trotz Inspektion vor unserer Fahrt sind sie so weit runter, dass Beläge nicht mehr erkennbar sind. Der Mechaniker zeigt uns die ausgebauten Teile. Selbst das Metall ist schon schräg angeschliffen. Damit sind die Scheiben auch direkt fällig. Estelle braucht noch neue Beläge am Vorderrad und so bleiben wir knappe zwei Stunden erzählend zwischen Mülltonnen und Hauptstraße bis es durch die Stadt weiter Richtung Lugano geht. Zufrieden, dass wir jetzt wieder ohne schlechte Gedanken Berge runterfahren können, zischen wir ab. Ein Pass zwischen den Städten mit einigen Baustellen und einer Menge Verkehr wird von Estelle und mir zu einem kleinen Muskelspiel genutzt. Wenn der Rhythmus gefunden ist und das Gefühl aufkommt, ewig so weiter treten zu können, keine Angst vor Übersäuerung und Muskelkater haben zu müssen, dann können Bergfahrten richtigen Fahrspaß bieten. Estelle hat, genau wie ich, Freude am Kräftemessen. Auch wenn sie bei gleichen Bedingungen mir deutlich überlegen wäre, ist es so, mit ihrem schwächeren Motor, ein fast gleichwertiges Rennen. Martin und Viviane lassen es gemütlicher angehen, so dass wir uns erst nach der Abfahrt in der nächsten Stadt wiedersehen. Wir erreichen in Lugano den See, kaufen ein paar Sandwichs und spannen in einem schönen Park mit prächtigem altem Baumbestand eine Stunde aus, bevor wir weiter zum Comer See radeln und nach einem letzten Aufstieg unsere Villa über dem Wasser beziehen. Auf dem Weg kaufen wir noch ein. Während die Frauen in den Supermarkt gehen, warten Martin und ich vor der Tür. Es fängt an zu regnen, dicke Tropfen bei dreißig Grad. Wir schieben die Räder unter ein Vordach und genießen wieder einmal den Sommergeruch. Schon nach ein paar Minuten ist es vorbei. Die Tropfen sind, schon bevor die beiden wieder vor der Tür erscheinen, verdunstet. In dem sehr ansprechenden Haus, mit einer Terrasse, die See und Bergen zugewandt liegt, entspannen wir bei leiser Musik aus dem Handy, während Viviane ein leckeres Abendessen für uns kocht. Auch wenn Kochgeschirr und Zubehör letztendlich dem besseren Fahrgefühl zum Opfer gefallen sind, kommen wir doch noch in den Genuss ihrer guten Küche.

Mit dem Verlassen des Hauses fallen die ersten Regentropfen, es folgen weitere Myriaden auf den nächsten sechzig Kilometern. Da die Temperatur aber weiterhin hoch ist, fahren wir in kurzen Hosen und Sandalen los. Nach ein paar Kilometern ziehen wir aber doch unsere Regenjacken über. Leider fällt auch heute wieder das Navi phasenweise aus, so dass wir mehr Hauptstraße und damit auch mit mehr Verkehr als nötig fahren. Nach fünfundzwanzig Kilometern gönnen wir uns eine Regenpause in einem Café mit angeschlossener Spielhalle. Die Frau hinter der Theke ist äußerst attraktiv und so ist es wohl nicht erstaunlich, dass sich der Parkplatz immer weiter füllt und - außer unserem - jeder Tisch von Handwerkern der Umgebung besetzt wird. Beim Verlassen des Cafés kommen sie und ich kurz ins Gespräch, weil sie auch mit einem kleinen Joint mit nach draußen kommt. Sie erzählt, dass sie hier ihrem Vater aushilft, eigentlich aber in Oldenburg arbeitet, wo sie für die Europäische Union Seminare über gewaltfreie Sprache hält. Damit hätte ich niemals gerechnet! Aber es zeigt mir, wie verzweigt die europäische Idee inzwischen ist und wie tief verwurzelt auch, durch Studium, Arbeit oder Schüleraustausch, in vielen Köpfen. Ich wünsche ihr Spaß mit ihrer Friedenstüte und nach dem abtrocknen der Sättel geht es im wieder stärker gewordenen Regen weiter. Das Wasser kommt aus allen Richtungen, aus dem Himmel, aus den Pfützen und seitwärts von den vorbeipreschenden LKWs… Zum Glück biegt unser Weg nach kurzer Zeit ab und wir landen auf dem Sentiero Valtellina, einem herrlich am Fluss vorbeilaufenden über hundert Kilometer langen Radweg. Jetzt, wo die anderen Fahrzeuge schon einmal weg sind und das Navi auch wieder einwandfrei funktioniert, ist der warme Regen nicht weiter tragisch. Die Tropfen laufen am kurz über der Brille endenden Visier von links nach rechts und zurück bis sie dick genug sind, um herunterzufallen und Platz für die nächsten freizugeben. Dreißig Kilometer vor Etappenziel hört der Regen langsam auf und wir machen eine weitere Pause, um uns aufzuwärmen und ein paar trockene Sachen überzuziehen. Estelle schnallt ihre durchnässten Schuhe auf den Gepäckträger, von dem sie auf einer buckeligen Waldstrecke bald auf nimmer Wiedersehen verschwinden.

In Villa di Tirano empfängt uns unser Gastgeberpaar mit größter Freundlichkeit. Die Räder werden in die Garage geschoben und der Mann fragt uns, ob wir ein Ciabatta haben möchten. Hunger habe zumindest ich immer und so freue ich mich über das Angebot und bejahe. Dann bringt er uns noch einen Mehrfachstecker und nimmt auch noch direkt meine nassen Anziehsachen zum Trocknen mit. Erst als ich schon auf meinem Zimmer im Bett liege, frage ich mich, wo denn das angebotene Brot bleibt. Die Aufklärung erfolgt einige Zeit später, als uns klar wird, dass wir heute unser erstes italienisches Teekesselchen gelernt haben: Ciabatta heißt auf Italienisch auch Mehrfachstecker…

Weil Estelle neue Schuhe braucht, fragen die beiden Frauen, ob es in der Nähe ein Schuhgeschäft gäbe. Die Besitzerin unserer romantischen Herberge bietet sich an, sie in die nächste Stadt zu fahren und so ziehen die drei gemeinsam los. Nach zwei Stunden kommen Estelle und Viviane freudestrahlend und fast tänzelnd die Straße zum Hotel entlang. Beide mit neuen Turnschuhen, Viviane dazu noch in einem hübschen grünen Kleid. Die Gastgeberin hat sich selbst auch noch schnell eine Handtasche gekauft… Martin und ich haben uns währenddessen den alten Ortskern angeschaut.

Nach einem weiteren Spaziergang mit Martin durch das Dorf treffen wir uns alle im Innenhof und freuen uns auf ein leckeres Abendessen im angeschlossenen Restaurant. Nach mehreren Gängen lokaler Spezialitäten, umspült von köstlichem Weißwein und mit Grappa gefinished, sitzen wir noch eine Zeitlang zusammen, bevor mir langsam die Augen schwer werden.

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Schwitzen und rasen...

Blauer Himmel und beste Temperaturen bringen uns nach köstlichem Frühstück gut präpariert auf die Piste. Am Flussradweg flüchten zwei Rehe vor uns. Plötzlich sehen wir, dass keine zwei Meter von uns noch ein Rehkitz im Gras liegt. Als wir anhalten steht es mit seinen wackligen Beinen auf, gibt einen kurzen hellen Ton von sich und verschwindet zittrig im Dickicht. Wahrscheinlich ist das Kitz nicht mehr als eine Nacht alt und hat vor uns gerade seine ersten Schritte getan.

Noch einige Kilometer einfahren und dann geht es auf den für Autos gesperrten Aufstieg zum Passo del Mortirolo. Durch unendliche Haarnadelkurven und mit kilometerlangen Steigungen von achtzehn oder mehr Prozent werden wir durch den waldigen Aufstieg geführt. Schnell setzen Estelle und ich uns ab und ziehen in gutem Tempo bergan. In kurzen Passagen ist es aber so steil, dass Estelles Vorderrad den Boden verlässt und sie sogar zwei kleine Stücke schiebt. Da wir trotz längerem warten nichts von den anderen beiden sehen, rufen wir sie an und sie  erfahren durch uns, dass sie falsch abgebogen sind und nun ein ganzes Stück wieder bergab fahren müssen, damit sie dann wieder steil bergauf zu uns aufschließen können. Erst kurz vor dem höchsten Punkt treffen Estelle und ich wieder auf die Autostraße. Unsere letzten sechs Kurven sind nummeriert und wir zählen rückwärts bis wir oben am Pass ankommen. Hier gibt es sogar eine Akkuladestation und als alle vier eingetroffen sind, schließen wir uns für eine Stunde an. Immer mehr Rennradfahrer erreichen den höchsten Punkt. Die Stimmung ist super, alle reden miteinander, Beweisfotos werden mit zahllosen Handys geknipst, Proteinriegel geknabbert. Endorphine mäandern durch den Körper. Einer der Radfahrer bietet Viviane und Estelle das neueste Riegelprodukt aus Brasilien an, viel Zucker, viel Fett, lauter frische Energie spendend. Ich möchte gerne wissen, welche Produktinformationen hier täglich ausgetauscht werden…
Italien ist eine Radnation, besonders natürlich als Gastgebernation des Giros seit jeher dem Rennrad verpflichtet. Überall, ob Berg oder Ebene, sehen wir Einzelfahrer und größere Gruppen, meist in den schreiend bunten Trikots der Profiteams, durch das Land rasen. Somit ist auch der Wille zur Schaffung einer radgerechten Infrastruktur groß und oft gut fahrbar umgesetzt. Wir freuen uns jeden Tag über die wunderschönen Routen, weit weg vom Autoverkehr.

Nach berauschter Abfahrt radeln wir durchs Tal weiter Richtung Passo del Tonale. Wir biegen in einen kleinen Ort zum Mittagessen ab und haben großes Glück mit unserem Restaurant. Ein schon fast ruinös preiswertes Menü inklusive aller Getränke entschädigt ein wenig für die in der Schweiz ins Portemonnaie gefressenen Löcher und lässt uns satt und zufrieden die letzten vierzig Kilometer angehen. Kurz vor dem Einstieg in den Passaufstieg landen wir noch einmal auf für uns unfahrbaren Schotterpisten. Wir kehren zurück auf die Hauptstraße und ertragen lieber die wenigen Fahrzeuge, statt im steilen Wald schieben zu müssen. Der Tonale empfängt uns kühl. Ich ziehe mir meine Jacke über, bevor wir unser Passfoto schießen.

Seit ein paar Minuten warte ich auf Viviane. Martin ist längst auf der endlosen Abfahrt entwischt. Ich habe nur noch gesehen, wie er die ersten beiden Autos überholt hat… Da es hier aber eine Weggabelung gibt, möchte ich sicher gehen, dass wir alle den richtigen Abzweig nehmen. Ich beginne mir Sorgen zu machen, als ich Viviane doch noch kommen sehe. Zwei Rehe sind dicht vor ihr aus dem Dickicht gebrochen und fast vor das Rad gelaufen. Danach musste sie sich erst ein paar Minuten von dem Schrecken erholen, bevor an Weiterfahrt zu denken war. Es hängt oft nur an dem einen richtigen Abzweig, an dem einen alles entscheidenden Moment. Noch mal gut gegangen. Auf der restlichen Abfahrt erhöhe ich an günstiger Stelle meinen Urlaubsgeschwindigkeitsrekord auf über achtzig Stundenkilometer.

Unsere heutigen Gastgeber ernten rubinrote Kirschen. Wir bekommen auch ein Kilo auf unseren Balkon gereicht und spucken eifrig Kerne in eine Espressotasse. Viviane hat noch anderes Obst klein geschnitten und mit Joghurt vermischt. Sie karamellisiert Walnüsse dazu und so gibt es zu einheimischem Käse und Kümmelbrot auch eine gesunde Vitaminbombe. Wir trinken noch die vom Gastgeber zum Empfang gespendete Weißweinflasche leer und gehen alle recht früh müde zu Bett.

Da wir gestern zu spät angekommen sind, haben unsere Kleidungsstücke keine Chance gehabt zu trocknen. Mein Versuch mit dem Föhn wenigstens die Radunterhose tragbar zu bekommen, scheitert an Überhitzung des Geräts. Viviane versucht es mit der Mikrowelle. So richtig funktioniert das auch nicht, aber immerhin wird gut Hitze aufgebaut. Martin und ich werfen unsere Sachen ebenfalls hinein. Als er sie rausholt, dampfen sie mächtig. Genug, um sie nach dem Frühstück trockenzutragen. Nicht so gut läuft es mit Estelles Socken und Martins Radfahrhose, beide verlasen die Mikrowelle mit etlichen Brandlöchern und werden als Verlust abgeschrieben. Den Teller der Mikrowelle muss ich von den Kunststoffresten anschließend mit einem Spachtel befreien. Als Experiment interessant, zum Nachmachen offensichtlich nicht besonders geeignet.

Wir kommen früh in Pergine Valsugana an. Endlich steht in unserem Apartment auch die herbeigewünschte Waschmaschine, so dass wir zwei Maschinen hintereinander durchjagen. Beim Trocknen auf der Terrasse kippt der Wind anschließend nicht nur den Wäscheständer zweimal um, sondern weht auch mehrere Teile in die nebenan stehende Feige und auf den Balkon des unteren Apartments. Wir beschließen, die Wäsche drinnen weiter zu trocknen. Nach unserer Café- und Einkaufsfahrt ins Zentrum des kleinen Städtchens angeln wir mit einem Rechen Martins T-Shirt aus dem Baum, das Handtuch vom anderen Balkon ist inzwischen durch den Wind auch unten vor der Garage angekommen…

Wir fahren weiter nach Bassano den Grappa. Vierundachtzig Kilometer reine Lustfahrt entlang der Brenta. Unser Weg führt fast durchgehend entlang der bestens ausgebauten Radroute Cicliesta del Brenta. Kurz vor unserem Ziel sonnt sich eine Schlange auf dem Weg. Estelle sieht sie zu spät und die Schlange ist bei zweiunddreißig Grad wohl auch etwas schläfrig. So überrollt der Vorderreifen das Tier, panisch schlängelt sie sich in alle Richtungen, kommt dabei aber zwischen unsere Räder. Ich habe Angst, dass sie einen von uns beißt. Es ist, soweit ich das in dem kurzen Moment erkennen kann, eine Natter, also wohl ungiftig, aber ein Biss kann trotzdem problematisch werden. Wie durch ein Wunder schafft sie es sich wild hin und her werfend durch die Räder zu bugsieren, um anschließend ins hohe Gras zu entwichen. Estelle ist etwas geknickt, weil sie das Tier überrollt hat, ich glaube aber, dass es mit dem Schrecken davongekommen ist.

Bassano der Grappa ist die schönste Kleinstadt auf unserem Weg. Die erste, die auch Touristen anzieht. Wir radeln durch die Altstadt, wechseln die Flussseite und schieben dann über die wunderschöne Holzbrücke zurück, um dann auf der Piazza Liberale ein wenig Leute zu gucken und etwas zu trinken. Vom Rockerclub über den Junggesellinnenabschied bis zur Fußballmannschaft schlendern alle an uns vorbei. Trotz des abwechslungsreichen Programms möchte ich aber noch gerne für zwei Stunden ins Hotel, damit bis zum Abendessen die Hitze hoffentlich gebrochen ist und wir wieder freier atmen können. Estelle hat den Kiffer-Strand von Bassano am Fluss entdeckt und zieht nach dem Abendessen noch einmal alleine los. Gegen Mitternacht sitzen wir noch im Hof unserer Anlage, als sie uns etwas verzweifelt anruft. Ihr Rad hatte sie in einem Park angekettet und nun ist das Eingangstor abgeschlossen. Sie findet aber ein Loch zum Durchkrabbeln und kann dann auch die Bauarbeiter an einer Stelle des Parks überzeugen, sie schließlich mit Rad wieder hinauszulassen.

Ein sonniger Morgen empfängt uns und nach einem Frühstück im Freien starten wir unsere erste Dolomitenetappe. Entgegen der angedachten Route fahren wir erst einmal über zwanzig Kilometer der gestrigen Etappe zurück, bevor wir unseren Einstieg in die Berge durch einen recht engen Pfad nehmen. Nach den bisherigen Erfahrungen sind wir etwas misstrauisch. Unter Bergüberhängen hindurch und an einer steil abfallenden Schlucht entlang geht es von nun an wieder Richtung Norden. Nach einiger Zeit weitet sich auch unser Weg und wir kommen wieder auf eine öffentliche Straße. Leider führt uns die dann auf die stark befahrene SS50 und da heute Sonntag ist, ziehen unzählige Motorräder an uns vorbei. Zum Glück können wir einige Tunnel auf alten Straßenabschnitten umfahren. Wo es keine Alternative gibt, erzeugen durchquerende Harleys mit offenen Auspuffanlagen ohrenbetäubende Lärmteppiche. Zusammen mit den Auspuffabgasen, den Lüftungsanlagen und dem wenigen Abstand zwischen Autos und uns sorgen sie dafür, dass wir uns recht unwohl fühlen. Jedes Mal sind wir beim Verlassen eines Tunnels erleichtert.

Wir nehmen einen falschen Abzweig und bemerken das erst nach einigen Kilometern bergauffahren. Immerhin liegt der Rückweg zur richtigen Route dann rollend schnell hinter uns. Die letzten zwanzig Kilometer führen glücklicherweise abseits der Hauptstraße durch nun schon wieder alpine Natur. Der finale Anstieg erfolgt auf einer reinen Fahrradstraße. Nach einer wunderbaren Hängebrücke geht es in steilsten Serpentinen bergan. Martin hat sich vorgenommen heute schneller als Estelle den Berg hinaufzukraxeln und gibt alles, um Abstand rauszufahren. Während ich mit einem Hungerast hinterherschleiche, ziehen die beiden kräftig an. Letztendlich bleibt aber auch Estelle zurück und Martin fährt allein davon. Wir restlichen drei treffen uns an einer Baustelle etwas weiter oben wieder. Links führt unser Weg eigentlich zu unserem Etappenziel San Martino di Castrozza. Hier ist er aber auf etwa fünfzig Meter abgesperrt. Martin ist in seinem Endorphin-Wahn wohl einfach weiter geradeaus gefahren. Wir schieben die Absperrungen beiseite und warten auf der anderen Seite einige Minuten, ob er zurückkommt. Schließlich fahren wir ohne Martin die letzten Höhenmeter ins Dorf und setzen uns vor unser Hotel. Eigentlich muss er den Weg finden, Batterieladung hat er auch genug und so sind wir recht sicher, dass er bald aufkreuzen wird. Als Martin nach einer Stunde immer noch fehlt, machen wir uns zunehmend Sorgen. Wir überlegen, was wir tun können. Viviane versucht erfolglos einen Roller zu mieten, um das Gelände jenseits der Baustelle absuchen zu können. Ich ziehe dann los, um zumindest bis zur Baustelle den Weg abzufahren und zu schauen ob ich Martin irgendwo in der Nähe treffe. Zum Glück kommt schon kurze Zeit später der Anruf, er ist beim Hotel eingetroffen. Seine Erzählung ist lustig und abenteuerlich. Wie er sich immer tiefer verfranzt und dabei sein Rad auf schmalen Wegen entlang der Felskante gefahren und geschoben hat. Wie er seinen Weg durch ein trockenes Flussbett gesucht hat und nach einem weiteren Joint endlich einen breiteren Weg gefunden hat, der ihn weit oberhalb des Ortes wieder zurück in die Zivilisation bringt. Fast zehn Extrakilometer durch unwegsamstes Gelände später steht Martin nun Adrenalin geladen vor uns und wir lachen alle vor Erleichterung und wegen der anschaulichen Darstellung seines kleinen Abenteuers.

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Die Dolomiten...

Das Abendessen bringt mir leider eine Magenverstimmung, so dass ich in der Nacht mehrmals auf Toilette muss und am nächsten Morgen recht geschwächt bin. Trotzdem geht es weiter und wir starten direkt mit unseren ersten fünfhundert Höhenmetern zum Passo Rolle, einem der ältesten Alpenpässe. Bis auf 1984m geht es hinauf. Neben uns ragen die grauen Riesen der Dolomiten auf. Mir ist etwas flau und meine Beine sind mit Pudding gefüllt, aber es nützt ja nichts zu jammern, also fahren wir, zwar etwas langsamer, aber stetig weiter unserem Ziel entgegen. Die Hitze ist heute feucht drückend, ab morgen soll es Regen und Gewitter geben. Ich bin froh, als wir am frühen Nachmittag unser Ziel erreichen und ich mich den Rest des Tages ein wenig ausruhen kann. Aber auch die anderen sind nach dieser Hitzeschlacht froh über eine Dusche und ein bisschen Zeit zum Wäsche waschen, einkaufen und im Schatten parken. Nach dem leckeren Abendessen, dass Viviane uns am Abend kocht, sitzen die drei noch auf der Terrasse, während ich auf dem Bett in meinem Buch versinke. Viviane und Estelle basteln mit Gaffa Tape Besen, Kehrblech und alles Auffindbare ab ein Meter Länge zusammen und angeln uns vom Nachbarbalkon noch zwei weitere Stühle damit alle eine Sitzgelegenheit haben. Zuerst geht alles gut und der erste Stuhl ist schnell geholt. Da der zweite aber erst hinter einem Tisch hergezogen werden muss, wird das Gerät noch länger gebaut und natürlich bleibt bei der erfolglosen Aktion ein Teil auf dem Nachbarbalkon liegen. Viel Gekicher, mehr Tape und ein neuer Versuch bringen dann auch den zweiten Stuhl plus verlorenes Gerät auf unsere Seite. Zufrieden wird noch einer gerollt und eine zweite Flasche Wein entkorkt.

Der einzige Tag zur freien Verfügung… Nachdem wir die ersten tausend Kilometer eingefahren haben, ist heute nichts weiter geplant. Wir entscheiden uns, da der Regen noch auf sich warten lässt, mit der Seilbahn und einer Wanderung die Berge zu erkundigen. Am zweiten Stopp erwartet uns ein Murmeltier in der Bergstation. Wir haben direkt die erste Gondel am Morgen erwischt und so auch das possierliche Tier überraschen können. Hektisch sucht es den Ausgang, läuft erst in die falsche Richtung, aber dann entwischt es doch durch die weit offene Eingangstür. Draußen, auf seinen Hinterbeinen kauernd, beobachtet es uns noch eine kurze Zeit, bevor es unter dem Betonboden der Station Schutz sucht.

Fantastische Ausblicke erwarten uns an den verschiedenen Stationen. Aber es wird auch hier klar, was uns schon anderweitig aufgefallen ist: Das Wasser in Norditalien ist knapp in diesem Jahr. Auf  unserem Wege waren es bisher die kleinen Rinnsale in breiten Flussbetten, hier ist es nun der kaum vorhandene Schnee auf den Dreitausendern. Kleine Flecken gibt es zu sehen, aber kaum noch größere zusammenhängende Flächen. Auf den schneearmen Winter ist ein viel zu trockener Frühling gefolgt. Der Po als einer der großen Wasserversorger der gleichnamigen Ebene liegt fast gänzlich trocken. Pläne, Wasser aus dem Gardasee abzuleiten, zeigen die Verzweiflung und auch die Kurzsichtigkeit von Landwirten und Politikern. Der bereits jetzt absehbare Schaden beim Getreide wird in die Milliarden gehen und ein weiteres Loch in die Lebensmittelversorgung reißen. Schon der Comer und der Luganer See haben Tiefststände bei unseren Umrundungen. Der Klimawandel und seine furchtbaren Folgen zeigen sich überall anders, aber nirgendwo gar nicht. Wir freuen uns trotzdem an der Großartigkeit der uns umgebenden Natur und erleben heute wieder einmal in der schroffen Bergwelt unsere eigene Mickerigkeit.

Das Wandern bringt uns ganz schön ins Schwitzen. Die dünne Luft erschwert das Gehen und wir werden alle etwas kurzatmig. Als wir am frühen Nachmittag wieder an der oberen Seilbahnstation ankommen, sind unsere T-Shorts schweißfleckig. Während Martin und ich nach Hause zum Duschen gehen, holen die beiden Frauen noch Speck und Biernachschub. Nach dem Mittagessen schaue ich mir vom Balkon die Umgebung an. Ein Nachbar hackt unentwegt Holz für den Winter, packt es in eine Kiste und zieht die mit einem Seilzug in die erste Etage. Haufenweise steht das Brennholz hier schon zwischen den Fenstern gestapelt, um in der kalten Jahreszeit wohlige Gemütlichkeit zu verbreiten. Auf der Straße ziehen Motorräder und Wohnmobile vorbei. Ein Hubschrauber landet zwischen Bäumen und Fluss, startet wieder und kehrt erneut zurück. Zwischen den Häusern ziehen die Gondeln der Seilbahn bergan. Der Regen kommt kurz, verschwindet aber genauso schnell wieder. Die Sonne blinzelt durch die Wolken, kann sich aber auch nicht behaupten. Estelle bricht mit dem Liegestuhl zusammen und liegt als Sandwichfüllung auf dem Boden. Beim Versuch sich aufzurichten, reißt sie noch den Wäscheständer runter. Während Martin schadenfroh loslacht, hole ich schnell die Kamera für ein paar Zeugenfotos.

Der neue Tag startet mit einem Donnerschlag. Kurz nach vier fährt dann der Blitz durchs Tal. Schlagartig geweckt, schließe ich meine Augen direkt wieder. Dann kommt der Regen in großartiger Lautstärke. Eine Zeitlang höre ich zu, aber mit abnehmendem Donnergrollen entschlafe ich wieder.

Wir verspielen unseren Trockenrabatt im Bett und am Frühstückstisch, so dass wir in der Garage direkt die Plastiktüten mit Gaffa um die Schuhe tapen müssen. Die beiden Putzfrauen des Hotels sind so nett, uns einen ganzen Packen Säcke zur Verfügung zu stellen. Ich fotografiere jeden einmal in voller Montur bevor wir loslegen. Der Starkregen lässt das Wasser während unseres Aufstiegs schon an allen denkbaren Stellen eintreten. Regenhose nicht richtig dicht, Handschuhe trotz GoreTex durchnässt. Es ist einfach zu viel Wasser, das vom Himmel fällt, wir legen am Passo Pordoi eine Teepause ein und dichten uns noch einmal besser ab. Danach fallen wir einige hundert Höhenmeter ins Tal, bevor der Aufstieg zu unserem zweiten heutigen Pass, dem etwas niedrigeren Passo Campolongo, beginnt. Nach weiteren sechzig Kilometern Fahrt passieren zwei Dinge: Es hört auf zu regnen und wir merken, dass wir einen Umweg von dreißig Kilometern gefahren sind. Ich schaue mir an, wie wir von hier aus weiterfahren sollen, dann schwingen wir uns auf das Rad und fahren nun in schönstem Sonnenschein über Toblach unserem Hotel entgegen.

Wir passieren den hellgrünen Toblachsee mit seinem herrlichen Bergpanorama, kurven auf Waldwegen am Wildbach vorbei und legen die letzten Kilometer nach Schluderbach zurück. Kühe inmitten des Waldes machen mit ihrem Glockenschlag auf sich aufmerksam. Die Landschaft und auch unser Hotel hauen alle um. Wir legen uns seitlich des Gebäudes auf vier Liegen, rauchen einen und lauschen dem Glockengeläut der auf einer gelb und grün leuchtenden Weide stehenden Kühen. Mittig auf der Wiese liegt ein Bauernhof und daneben eine kleine Werkstatt. Die Glocken sind in verschiedenen Tönen gestimmt und es ist grandios dem Free Jazz der Kühe zu lauschen. Um uns herum die grünen und die grauen Berge, vor uns eine selten grandiose Idylle. Der Bauer kommt mit einem Eimer auf die Weide und beginnt eine Kuh nach der anderen zu melken. Einer seiner zwei Hunde liegt achtsam einige Meter hinter ihm. Das Licht ist nach dem Regen pures Technicolor, blauester Himmel mit ein paar Schäfchenwolken. Vor uns stehen ausgehöhlte Baumstämme als Tröge, aus denen die Kühe trinken. Wir lieben diesen Platz, vielleicht der Übernachtungshöhepunkt. Zwei weitere Radfahrer kommen an und hängen ihre Wäsche zum Trocknen über den Weidezaun. Heute sind alle nass geworden, dafür werden wir aber mit diesem Nachmittag mehr als belohnt.


 

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Hinab in die Realität...

Entgegen allen Prognosen ist die Sonne auch am Morgen für uns da und begleitet uns den ganzen Tag bis ins hoch gelegene Meransen. Trotzdem wir einen Teil des gestrigen Weges noch einmal fahren müssen, genießen wir jede Minute dieser Wohlfühletappe. Bis Toblach gehört unsere Strecke zu den landschaftlich spektakulärsten der ganzen Tour. Das enge Tal wird von den reich gezackten Spitzen der Dolomiten gesäumt. Wir schauen uns die Drei Zinnen aus der Entfernung an. Andere Formationen erscheinen uns mindestens genauso spektakulär, sind aber bei weitem nicht so touristisch. Es ist wie an vielen Plätzen auf der Erde, mit UNESCO-Titel wird es rummelig…


Ab Toblach weitet sich das Tal und die Szenerie des Pustertals wird lieblicher. Am frühen Nachmittag geht es im Schlussanstieg über kleine Straßen in vielen Kurven bis über 1500m hinauf. Die Steigung macht deutlich, dass die Jugend auf Dauer nicht aufzuhalten ist. Ich bin direkt am Anfang wegen Akkutausch aus der Hatz ausgeschieden. Viviane fährt ihr Tempo. Und auch wenn Martin kämpft wie ein Löwe und vor Estelle ankommt, muss man doch akzeptieren, dass mit gleichen Mitteln das Ergebnis klar anders wäre. Oben gekommen genießen aber alle zusammen das Panorama gleichermaßen und mit dem weiten Blick über das tief unter uns liegende Tal rollen wir die letzten Kilometer zum Hotel.

Unsere Zeit in Südtirol läuft heute ab. Wir starten früh in Richtung Brenner und fahren zügig durch den Vormittag. Das Tal wird immer enger und so sind Autobahn, Eisenbahn, Bundesstraße und Radweg teilweise irrwitzig übereinandergestapelt. In Teilen können wir dem Druck entkommen, aber letztendlich landen wir doch immer wieder eine Zeitlang im dichten Verkehr. Österreich empfängt uns mit starkem Gegenwind, so dass sogar die recht flache Brennerabfahrt mit dem Tritt in die Pedale erarbeitet werden muss. Nur kleinere Passagen führen uns auf Nebenwegen angenehm durch das Stubaital rollend weiter Richtung Innsbruck.

Auf den letzten zwanzig Kilometern blitzt und donnert es einmal mehr. Starkregen dringt bis in unsere Socken vor. Meine gerade einmal zwei Jahre alten Meindl Schuhe sind so undicht, dass sie heute ihre letzte Fahrt angetreten haben und im Hotel direkt entsorgt werden. Zum Glück halten die Fahrradtaschen das Wasser zuverlässig ab, so dass wir nur das trocknen müssen, was wir am Körper getragen haben. Letztendlich ist so eine Regenfahrt auch ein großer Spaß, solange die Temperatur stimmt und am Ende eine warme Dusche wartet. Lachend erreichen wir unser Ziel, satteln die Pferde ab und freuen uns des kleinen Abenteuers.

Noch ohne die versprochene Sonne starten wir zum Starnberger See. Einmal mehr geht es über eine Höhe. Estelle und ich fahren vorneweg, während Martin und Viviane es ruhiger angehen lassen. Oben angekommen warten wir auf die zwei. Nach einer halben Stunde ist immer noch niemand angekommen und wir werden ein bisschen nervös. Es gab nur eine Abbiegung auf halber Strecke und die war so breit, dass eigentlich keiner sie verpassen konnte. Wir fragen zweimal ein paar andere Radfahrer, ob sie zwei E-Biker mit Gepäck gesehen haben. Sie sagen uns, dass etwa ein Kilometer entfernt welche rasten würden. Als nach weiteren zwanzig Minuten noch immer keiner in Sicht kommt, schnappe ich mir mein Gefährt und rolle den beiden entgegen. Das Paar entpuppt sich als zwei Fremde, die gerade in einen Waldweg einbiegen, als ich sie sehe. Ich entschließe mich so lange weiter runterzurollen, bis ich beide treffe und so geht es dann letztendlich den gesamten Berg hinab, die ganzen schönen siebenhundert Höhenmeter bis zum Fuß der Steigung und dann ergebnislos wieder hinauf. Oben steht Estelle mit einem anderen Radfahrer, inzwischen hat sie auch mich wohl schon vermisst. Wir leihen uns sein Handy, rufen Anke an und bitten sie Martin zu kontaktieren, um ihm die genaue Zieladresse durchzugeben und anzubieten, dass wir uns auf der Strecke in einem Restaurant wieder treffen können. Nicht ganz beruhigt fahren wir weiter. Nach kurzer Abfahrt erschließt sich uns ein wunderbares Hochtal. Auf etwas über tausend Meter geht es bei wolkenlos blauem Himmel und ständigem leichten Gefälle mit über dreißig Stundenkilometern weiter. Wir essen zu Mittag, rufen Anke vom Handy des Wirtes an und sind beruhigt, dass die beiden zwar irgendwo anders, aber heil auch gerade Mittag machen.

Wir fahren weiter bis das Tal sich verengt und wir die nur durch ein Schild am Straßenrand gekennzeichnete Grenze nach Deutschland passieren. Bergab durch Mittenwald genießen wir den herrlichen Sommertag und erreichen den Walchensee. Wir umfahren die Westseite und beschließen noch eine Runde zu schwimmen, bevor wir den See verlassen. Estelle duckt mich zweimal und ich sehe ein, dass ich besser klein beigebe, bevor ich zu viel Wasser schlucke. Wir rollen noch eine Tüte und schauen über den See hinweg ein letztes Mal auf die Alpen. Die Abfahrt ins Voralpenland ist grandios. In ungezählten Kurven schweben wir abwärts. Ohne zu bremsen, legen wir uns in eine Kurve nach der anderen, mal durch Wald, mal mit Weitblick ins Tal. Scheinbar endlos geht es immer weiter, bevor wir am nächsten See auslaufen lassen. Die nun flache Landschaft nach zwei Wochen alpiner Herrlichkeit müssen wir erst mal verdauen. Zum Glück ist es auch hier schön und über ein paar angenehme Wege ziehen wir an zahllosen Holzscheunen auf grünen Wiesen stehend vorbei. Ein Erdbeerstand lässt uns anhalten und über die weitere Fahrt verschwindet eine Frucht um die andere in unseren Mündern, bis der ganze Korb geleert ist. In Bernried am Starnberger See treffen wir Viviane und Martin wieder. Letztendlich sind sie ähnlich gefahren und zwanzig Minuten vor uns eingetroffen. Wir werfen ein paar nicht ernst gemeinte Vorwürfe hin und her. Zusammen spazieren wir zum Seeufer und Viviane und ich schwimmen in dem angenehm temperierten Wasser allen Staub des Tages ab. Zum Abschluss verwöhnen uns die Drei Rosen mit guter bayrischer Küche. Das Bier und der viele Wein führen immer wieder zu Lachexplosionen und der Abend endet in einer Beach-Bar bei schlechten Cocktails in totalem Blödsinn.

Ein bisschen verkatert nehmen wir unser Frühstück auf der Seeterrasse ein. Estelle schläft noch etwas länger, weil wir heute zum Abschluss erst gegen zehn Uhr abfahren müssen. Vorher gehen wir aber noch im See schwimmen. Als Martin auf die kleine Badeplattform klettern will, bemerkt er ein auf der Leiter brütendes Blässhuhn-Weibchen. Das Männchen paddelt auch direkt heran, erst, um von seinem Partner abzulenken, dann um Martin fortzuscheuchen. Das gleiche geschieht ein paar Minuten später, als eine Haubentaucher-Familie dem Nest zu nahekommt. Ganz aufgebracht und immer wieder kleine Attacken schwimmend, lenkt das Männchen die Familie geschickt um den Brutplatz herum. Wir beobachten noch, wie die Haubentaucher ihrem Nachwuchs anschließend die Jagd beibringen, bevor wir uns auf den Weg machen.

Der Hauptbahnhof ist dank der neun Euro Tickets und der in manchen Bundesländern bereits begonnenen Sommerferien sehr voll. Unser Zug soll zuerst nur Verspätung haben, fällt dann aber leider ganz aus. Den ganzen Nachmittag rennen wir zwischen Gleisen und Servicepoint hin und her. Mit unseren Rädern gibt keine Chance, einen Zug zu bekommen. Die nächste Möglichkeit zur Fahrradmitnahme wäre in drei Tagen! Schließlich werden wir von der Deutschen Bahn gegen fünf in ein Hotel in Bahnhofsnähe eingebucht. Für den morgigen Tag mieten wir einen Mercedes Transporter. So feiern wir im nahegelegenen Augustiner Biergarten am Abend noch einmal Abschied. Der Maßkrug ist für uns Rheinländer unfassbar riesig, leert sich aber dann bei diesem heißen Wetter doch zügig. Es folgen noch ein paar Obstbrände auf das Brauhausessen. Ich ziehe mich in mein Hotelzimmer zurück, während die anderen noch feuchtfröhlich in einer Bar auf Haselnussschnaps weiter durch die Nacht fliegen.

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Die Alpen