Europa 3 Südost

Der den Balkan reitet

Europa 3 Südost

Über die Alpen gen Venedig...

Abschied nehmen ist immer etwas melancholisch, es dauert ein paar Stunden bevor mit dem Ende des Nieselregens auch die Wolken in mir weichen und mein Blick sich nach vorne richtet. Hinter Altenkirchen klart es auf und ich pelle mich aus Jacke und Regenhose, um die Sonnenstrahlen auf meiner Haut zu spüren.

Die ersten drei Etappen sollen mich bis Dinkelsbühl führen, knapp vierhundert Kilometer durch das grüne Land. Heute endet die Fahrt in Limburg an der Lahn mit seiner schönen Altstadt und dem durch Tebartz-van-Elsts Prunk-Palast berühmt gewordenen Bischofssitz. Die unterirdisch begrabenen Millionen für den etwas pervertierten Architekturalptraum eines über die Strenge schlagenden Geistlichen stehen symptomatisch für eine gegen die Außenwelt abgekapselte Parallelwelt.

Auf dem Weg durch den Westerwald suche ich lange vergeblich nach einem Restaurant zur Mittagsrast und mit Hungerast versuche ich an einem offensichtlich geschlossenen Restaurant durch Türrütteln mein Glück zu zwingen. Tatsächlich öffnet die Inhaberin und bietet mir an ein Schnitzel mit Pommes für mich zuzubereiten. Sie ist Polin und ihr Mann Grieche. Die beiden bereiten sich gerade auf einen großen Leichenschmaus mit zweihundert Personen am Freitag vor. Der Gastraum ist im Umbruch und überall stehen Gegenstände aufeinander, aber ein Tisch steht mit Stühlen für mich bereit. Ich nehme Platz und schaue mich wartend ein wenig um. Eine alte Vereinsfahne des MGV Concordia und ein Foto der Meistersänger schmücken die Wände. Alles atmet den Geist vergangener Tage, eine typische Gastwirtschaft auf dem Lande. Ich lade mein Akku auf der Theke, esse eins von zwei Riesenschnitzeln und trinke eine Cola für den schnellen Schub. Die Wirtin erzählt mir ihren einfachen Plan: erst hart arbeiten und dann durch die Welt reisen. Die Arbeit sieht man ihrem freundlichen, aber verlebten Gesicht deutlich an. Ob Punkt zwei jemals umgesetzt wird, bezweifele ich im Stillen. Meine Gedanken schweifen zu den vielen Entwurzelten, die in der Fremde ihr Glück oder nur ein bisschen Frieden suchen. Mich für die freundliche Bewirtung außerhalb der Öffnungszeiten bedankend, packe ich meinen Kram samt zweitem Schnitzel wieder zusammen und fahre weiter durch das hügelige Gelände.

Aus dem Westerwald geht es die letzten zehn Kilometer fast nur bergab ins Lahntal. Am Eingang zur Altstadt leuchtet vor meinem Hotel eine weiße Bank. Bevor ich einchecke, nutze ich die Zeit für ein paar schöne Ankommminuten in der Sonne. Ich beobachte die vorbeiziehenden Leute, als zwei Mercedesfahrer sich nicht über die Vorfahrt einigen können. Der Siegburger und sein Kontrahent aus Limburg schimpfen lauthals und versuchen sich gegenseitig wegzudrängen. Siegburg kann sich als erster in die Straße quetschen, parkt dann aber so unglücklich, dass er noch einmal umparken muss. Limburg stoppt umständlich auf einem Behindertenparkplatz und schält sich zuerst aus seinem Auto. Ein Vorbeigehender schüttelt den Kopf und wir lachen uns an. Ich gehe ins Hotel und checke ein. Noch kurz duschen und Klamotten waschen, Akkus anschließen, WLAN Verbindung eingeben und dann schlafe ich auch schon für ein Stündchen ein.

Ein reichhaltiges Frühstück, bevor ich in Pullover unter Jacke und mit leichtem Entengang zum aufsatteln in die Garage watschle. Es ist deutlich kühler geworden, eine dichte Wolkendecke hängt über der Landschaft. Heute möchte ich knappe hundertvierzig Kilometer zurücklegen und zwischen Po und Sattel herrscht von der ersten Minute an Zwietracht. Immer wieder führe ich Ballett auf meinem Fahrrad auf, um durch verschiedenste Haltungen möglichst schmerzfrei durch den Tag zu kommen.
Trotz einem Zwischenstopp zum Akku laden geht mir etwa drei Kilometer vor Mönchberg der Strom aus. Durch die auf unterstützendes Fahren ausgerichtete Gangschaltung fehlt mir die nötige Untersetzung und um einer möglichen Muskelverletzung vorzubeugen, schiebe ich den letzten Kilometer bergauf zu meinem Nachtquartier. Heute bewege ich mich lediglich noch in die Gaststube zum Abendessen und nehme mir fest vor am nächsten Morgen meinen Sattel sorgfältiger zu justieren.

Wie immer passiert eigentlich nichts. Die Landschaft wechselt von mehr zu weniger hügelig und wieder zurück, Dörfer werden zu Wäldern, werden zu Wiesen. Das ist aber alles nur die Kulisse für die innere Landschaft. Radfahren verschafft mir Glücksgefühle. Mit meiner ewigen Bestenliste auf dem I Pod stellen sich – wahrscheinlich von Endorphin befeuert – immer wieder Passagen von totalem Wohlbefinden ein. Freiheit, verbunden mit dem Wissen um eine Reise in unbekannte Gebiete und dem leicht rauschhaften dahingleiten mit dem E-Bike erzeugt eine Ahnung von Unendlichkeit, fast eine religiöse Dimension. Das völlige mit sich eins sein kombiniert mit dem vom Zufallsgenerator ausgesuchten Lieblingssongs ist unschlagbar. Wenn kurz vor der Bergkuppe Pink Floyds „Wish you were here“ leise anläuft und sich dann der Blick über eine weite, sonnige Ebene mit hingetupften Kirchtürmen öffnet, dann weitet sich auch das Herz und für einen Moment ist alles perfekt.

Manchmal begleitet mich ein Schmetterling einige Meter. Dann beobachte ich wieder einen sich in der Thermik hochkreiselnden Milan oder einen Sperber mit schnellem Flügelschlag über einem Feld stehend, nach Beute spähend. Keine Sensationen, einfach nur Wahrnehmungen innerhalb eines ruhigen Tageslaufs. Die meditative Bewegung lässt mich wach sein für kleine Erlebnisse, Natur- oder Menschenbeobachtungen. Die Beine kreiseln und der Kopf zieht dahin in ruhigen Bahnen. Öfters verfalle ich in Blödsinn, rede laut in sinnentleerten Sätzen mit hessischem Dialekt oder singe Refrains von Karnevalsliedern. Die werden dann mein Mantra für einige Kilometer, bevor ich mit festen Willen meine Gedanken von ihnen reinige.

In Dinkelsbühl melde ich mich bei Sandy, die nach sechzehn Jahren in Chicago und Denver wieder zurück in die alte Heimat gezogen ist. Wir treffen uns in einem Biergarten und erzählen gegenseitig unsere momentanen Lebensumstände und was die letzten Jahre passiert ist. Sandy unterstützt ihre Eltern. Ihr Vater hat beginnende Alzheimer und ihre Mutter ist nach diversen, teilweise verpfuschten Knie- und Hüftoperationen ohne Lebensmut. Die wunderschöne Altstadt von Dinkelsbühl beherbergt ähnliche Geschichten wie der Rest der Republik. Sandy hat sich das Dachgeschoss im elterlichen Haus ausgebaut und kann, zum Glück der Eltern, daheim arbeiten und die Zeit zur Betreuung aufbringen. Das letzte Mal war ich hier vor neunzehn Jahren, als Sandy und Dan geheiratet haben. Sie zeigt mir ein paar Bilder von dem Fest, der Tanz im Morgengrauen mit der Schwiegermutter, meine Hüften mit zwei zusammengeknoteten Spülhandtüchern bekleidet. Erinnerungen an ein wunderbares Fest werden hochgespült. Das Bad im Entenpfuhl vor der Stadtmauer, die gemeinsame Fahrt hierher mit allen Freunden im gemieteten Reisebus, der Schwiegervater, endlos mit der Videokamera am Auge filmend … Dan mochte nicht nach Deutschland ziehen, Sandy nicht mehr in Colorado bleiben. Wir schauen uns zusammen mit ihrem neuen Freund und ein paar Bekannten in einem Biergarten außerhalb der Stadtmauern das WM-Spiel der Deutschen gegen Schweden an und gehen nach dem erleichterten Schlussjubel noch einen letzten Absacker trinken.

In Augsburg schaue ich mir die Fuggerei, die älteste Armensiedlung der Welt aus dem 16. Jahrhundert, an. Errichtet von der damals durch Handel unglaublich reich gewordenen Familie Fugger. Noch heute wohnen Bedürftige in der an eine Gartenstadt erinnernde Siedlung für einen knappen Euro Jahresmiete und täglich drei Gebete für die Stifter.

Aus einem Wald kommend erblicke ich die ersten Berge. Die Voralpen um Wallgau, Garmisch-Partenkirchen und Mittenwald sind das heutige Ziel, bevor ich morgen über den Brenner weiter nach Österreich und Italien fahre. Nach einer Mittagsrast funktioniert plötzlich mein GPS nicht mehr, kann meine Position nicht feststellen. So muss ich mit einer Menge Autos über die Bundesstrasse Richtung Garmisch fahren. Ein Outdoor-Shop lässt mich auf eine gute Landkarte hoffen, aber die gibt es hier nicht im Angebot. Der Besitzer, ein fülliger Pfeifenraucher mit starkem bayrischem Akzent, sitzt an einem mit allem beladenen Schreibtisch vor seinem Computer. Er zieht eine Straßenkarte aus dem Regal, setzt mich ins Bild. Nach einigen Erklärungen und ein bisschen Hin- und Her sind wir schon bei der Route des nächsten Tages. Ich schaue mir Bilder seiner Diesel-Enfield auf dem Computer an und als er anfängt seine Pfeife gemächlich in den Aschenbecher zu säubern wird mir klar, dass wir hier auch bis in den Abend hinein sitzen könnten. Ein Kunde, langhaarig und Pustefix T-Shirt tragend, betritt den Laden. Ich nutze die Gelegenheit und lasse mich ablösen. Das GPS fängt sich nach weiteren zwanzig Minuten wieder, so dass ich den Einstieg in das Karwendel Gebirge geniessen kann, jetzt glücklicherweise wieder vermehrt abseits verkehrsreicher Wege. Es ist herrlicher Sonnenschein, inzwischen schon fast sechs Uhr. Bergbauern sicheln Heu. Ein Paar recht das Gras in unglaublicher Hanglage zu Haufen zusammen. Ohne die durch das enge Tal verlaufende Bundesstraße 2 wäre das hier eine schöne Idylle.

Um dem Verkehr zu entgehen, schraube ich mich am nächsten Morgen ins Leutasch Tal und genieße beinahe autofrei die herrliche Hochebene samt den umgebenden Bergen. Aus ihren grünen Mänteln schälen sich die grauen Riesen mit den gezackten Spitzen heraus. In den knittrigen Gebirgsfalten letzte Schneezungen, vom Schatten vor dem Abschmelzen bewahrt. Am Ende des Tals geht es auf über 1500m hinauf, bevor sich der Blick ins weite Inntal und seine Nebentäler öffnet. Eine halsbrecherische Abfahrt von nur knapp zehn Minuten kostet mich tausend Höhenmeter, bringt dafür aber eine Menge Spaß.  Kurz vor Innsbruck dann ein brutaler Anstieg auf dem Brenner Radweg und schließlich der Brenner selbst. Vor dem Pass hole ich zwei Schweizer ein und wir fahren zusammen bis zum Brenner Schild. Gegenseitiges fotografieren, ein bisschen Radlerlatein und dann geht es über eine alte Bahntrasse hinab nach Gossensass.

Die heutige Etappe ist eigentlich eine Genussfahrt. Doch nach einer halben Stunde stelle ich fest, dass mein I Pod nicht mehr bei mir ist. Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder vergessen im letzten Hotel oder gestohlen beim kurzen Zwischenstopp an einem Radladen. Die gerade fast ausschließlich bergab gefahren zehn Kilometer geht es nun retour bergauf zurück zum Weißen Rössl. Leider ist hier nichts zu finden, so dass ich von Diebstahl ausgehe. Ein echter Verlust, da die Musik ein sehr angenehmer Begleiter gerade in monotonen Passagen war.

Nach einer Mittagspause in der Altstadt von Klausen geht es an die letzten fünfzig Kilometer. Ein Auto fährt laut hupend dicht auf und schließlich dauerhupend neben mir. Der Fahrer gestikuliert wild, ist sauer, weil ich nicht auf dem Radweg fahre. Ich zeige ihm den Stinkefinger und er gibt Gas. Leider nur, um dann an der nächsten Haltebucht zu stehen. Zum Glück zweigt davor eine kleine Straße zum Radweg ab, so dass ich kurz vor dem cholerischen Hobbyverkehrserzieher links abbiege.

Daraufhin spurtet er über die Straße, mich lauthals als Wichser titulierend. Da sich der Radweg hier schon etwa drei Meter unter Straßenniveau und zehn Meter entfernt befindet kann er mir nicht nahekommen. Schnell bückt er sich, hebt größere Steine auf und wirft nach mir. Er verfehlt mich, ich trete in die Pedale und bringe mich in Sicherheit. Während ich mir noch Gedanken über das Ereignis mache, nähert sich der Radweg leider wieder der Straße.  Und da steht mein neuer Freund schon und stellt sich mir in den Weg, weiterhin laut zeternd. Wenn ich keine weitere Eskalation will, muss ich jetzt ganz ruhig bleiben. Ich halte in etwa zehn Metern Abstand und frage höflich, ob ich im etwas erklären darf. Überraschenderweise stimmt er zu, noch immer laut schimpfend, aber immerhin gesprächsbereit. Ich erkläre ihm, dass ich mit meinem E-Bike wegen des Nummernschildes nicht auf Radwegen unterwegs sein darf. Seine mehrmalige Frage: „Aber das ist doch ein Radl?“ verneine ich ebenfalls mehrmals und dann klickt es bei ihm, er dreht sich um, hebt den Arm und murmelt ein „Entschuldigung“. Sicherheitshalber bleibe ich nun auf dem Radweg, sowieso die schönere Alternative und überlege mir, für die weitere Reise keine Stinkefinger mehr zu heben … Deeskalation als Überlebenstaktik.

Mit kalten Muskeln geht es am Morgen die ersten achthundert Höhenmeter hinauf, dann kommt nach einer kurzen Abfahrt in ein Hochtal der sechzehn Kilometer lange Aufstieg zum Manghenpass. Auf 2030 Meter über Meeresniveau öffnet sich ein spektakulärer Blick über die Dolomiten. Aber kurz davor sind erst einmal die Akkus leer, meine Beine müde. Da mit der Übersetzung des E-Bikes gar nicht daran zu denken ist, den Rest des Anstiegs zu fahren, füge ich mich und beginne zu schieben. Wie ein Wunder taucht hinter der nächsten Kehre ein Gasthof auf und so lade ich bei leckeren Nudeln, Pudding und Apfelschorle alle Einheiten wieder auf. Nach zwei Stunden Pause und den letzten Metern bergauf beginnt eine dreiundzwanzig Kilometer lange Abfahrt. Ich bin heilfroh über meine guten Bremsen, genieße Luft und Natur, halte nur kurz an, wenn wieder einmal Kühe mit ihren helltönenden Glocken auf der Straße rasten. Als mein GPS mich statt durch das Suganertal noch einen Pass hochjagen will, streike ich und rolle die letzten fünfzig Kilometer gemächlich bis Bassano del Grappa. Ich esse köstlich in der Altstadt und genieße das Gefühl, nun mit den Dolomiten die Berge erst einmal hinter mir zu lassen.

In zwei Stunden fahre ich die sechzig Kilometer über flaches Land nach Mestre. Da ich mein Rad nicht mit nach Venedig nehmen darf, habe ich gestern im Internet recherchiert. Dabei bin ich auf ein bewachtes Fahrrad-Parkhaus direkt am Bahnhof gestoßen. Hier parke ich, verklappe noch eine prall gefüllte Tasche in der Gepäckabgabe des Bahnhofs, bevor ich mit dem Zug über den Damm in die Altstadt Venedigs dampfe. Ich kaufe ein Tagesticket für die Vaporettos und fahre zuerst nach Sant Emanuel in mein Hotel. Eigentlich ist der Aufenthalt so weit weg eine Fehlplanung. Ich dachte mein Ebike mitnehmen zu dürfen, außerdem war ich der Meinung, der Fährhafen läge neben dem Bahnhof von Venedig. Beides trifft leider nicht zu.  Aber andererseits ist die Insel eine Oase der Ruhe und ich freue mich an den Fahrten über die Lagune.

Durch mein frühes einchecken habe ich fast einen ganzen freien Tag. In aller Ruhe bringe ich mein Gepäck in Ordnung, lese zwei Stunden, bevor ich kurz über meinem Buch einnicke. Nach einer erfrischenden Dusche lasse ich mich auf die Hauptinsel übersetzen. Ich bummele durch die Stadt und sobald die Füße nicht mehr wollen, fahre ich mit einer der Fähren. Außen auf Deck weht immer ein angenehmer Fahrtwind, ich schippere den Canale Grande und ein paar Nebenarme im goldenen Abendlicht entlang. Venedig ist Melancholie in Steinen, die alten Gemäuer, die lange Geschichte, der sichtbare, ewig fortschreitende Verfall. Ein Wink aus der Vergangenheit, ein Versprechen, das die Zukunft nicht halten kann.

Selbst die Mengen von Touristen im Juni können die Stimmung der Stadt nicht zerstören. Abseits der Ströme um den Markusplatz findet man ruhige kleine Plätze, gemütliche Kneipen und immer wieder öffnet sich der Blick aus engen Gassen hin zur Lagune und den umliegenden Inseln. Auf dem Weg vom Hotel passiere ich Murano, bekannt für seine Glasbläsereien und Burano, eine Miniaturausgabe der Hauptinsel Venedigs. Auch an der Friedhofsinsel schippere ich vorbei.

Meine Gedanken gehen in der Zeit zu den schönen Wochen mit Anke in der Stadt zurück. Fast jede der umliegenden Inseln haben wir schon einmal zusammen besucht. Auf der Friedhofsinsel gibt es zu Ehren der Toten einmal im Jahr das Picknick der Angehörigen auf den Gräbern. Ein schöner Brauch, den Anke und ich bei unserem letzten Aufenthalt beobachtet haben. Lebende und Tote an einem Tisch, ein Gedenken an Vergangenes, ein bisschen Wehmut, aber natürlich auch Lachen und Schmunzeln. Wo passt ein solcher Brauch besser hin als in diese Lagune? Auch wir hatten uns ein Picknick mitgebracht und die Stimmung eingesogen.

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Das Land der Skipetaren

Das Abendlicht nutze ich zum Fotografieren, weil es so wunderbar zu dieser Stadt passt, die tausend verschiedenen Rot-Töne mit den Reflektionen der Sonne auf den Kanälen zu einem magischen Bild verschmelzen lässt. Jeder Meter ein Motiv, oftmals kitschig und nirgendwo so passend wie hier. Zur blauen Stunde esse ich an der Haltestelle Fundamente Nove noch eine Pizza, bevor mein Vaporetto mich übersetzt. Die Lampen auf den Holzpfählen leuchten gedämpft die Fahrrinne aus, während der Tag durch die Nacht im schwindenden Licht abgelöst wird. Nur ein paar müde Mitreisende sind im Boot, alle blicken in sich versunken hinaus über das Wasser.
Schon früh am Morgen stehe ich auf, um gegen sechs die Fähre über die Lagune zu erreichen. Die Sonne steht als rote Kugel am noch dunstigen Himmel. Leichter Nebel hängt noch in der Luft, das monotone Brummen des Dieselmotors lässt mich ein bisschen wegdösen. Die gestrige Pizzabude mit Stehtischen an der Haltestelle ist nun eine Kaffeebar mit Tisch und Stuhl. So früh aber stehen alle an der Bar, holen sich ihren ersten Espresso und manche ein süßes Gebäck dazu. Ein schönes Miteinander aus Menschen aller Berufsschichten, ich bin der einzige Tourist. Auf den Kanälen Richtung Bahnhof sind auch jetzt viele Schiffe unterwegs, aber statt der schwarzen Gondeln sind es jetzt die Lieferanten mit zigtausenden von Plastikflaschen, Mengen von Obst und allem anderen für den täglichen Bedarf der wenigen Einwohner und der Menge an Touristen. Es wird aus- und eingeladen, Päckchen und Worte fliegen durch die Luft, der tägliche Müll der Besucher verlässt die Insel.

Eine wunderbare Uhrzeit um das Herz der Stadt pulsieren zu sehen und doch sind nur ganz wenige Urlauber unter die Arbeitenden gestreut. Zwei schwer bewaffnete Soldaten steigen ins Boot, ebenfalls auf ihrem Weg zum Bahnhof. Sie erinnern mich an die Fragilität des Friedens, zeigen, dass ähnlich zur Terrorzeit in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wieder erhöhte Wachsamkeit herrscht. Venedig wird als ein mögliches Anschlagsziel der Islamisten gehandelt.
Zum Glück steht mein E-Bike unbeschadet im Parkhaus und so mache ich mich auf den Weg zum Fähranleger. Durch die äußerst bescheidene Beschilderung lerne ich noch einige Gebiete des großflächigen Hafens kennen, bevor ich den richtigen Weg einschlage. Froh, die Zeit großzügig eingeplant zu haben, nehme ich die Umwege als Erweiterung meiner Ortskenntnis. Der gesamte Planungsablauf an der Fähre ist chaotisch. Noch am Pier lerne ich Hermann kennen. Er erzählt mir von einem Jahre zurück liegenden Test griechischer Fähren, wie schlecht sie abgeschnitten haben, eigentlich nur durch die dick aufgetragene Farbe zusammengehalten. Im Schiff nehmen wir beide den falschen Aufgang und lernen so den nicht für die Gäste bestimmten Teil der Fähre kennen. Zusammen mit einem Koch benutzen wir einen wohl schon lange nicht mehr gewarteten Aufzug und werden von ihm durch die Kombüse und den Aufenthaltsraum des Personals in den Passagierbereich geschleust. Hier sieht alles sehr gepflegt und neuwertig aus. Um an Deck zu kommen, versuche ich noch einen anderen Aufzug, lande aber, vom Stewart an der Tastatur geleitet, in allen Etagen, nur nicht in der Gedrückten. Immer wieder steigen Leute ein und aus, wie im Slapstick fahren wir an anderen ein ums andere Mal vorbei, ohne sie mitzunehmen. Die verdutzten Gesichter der Wartenden und die erschrockenen der Mitfahrer sind äußerst amüsant. Nach zehn Minuten entscheide ich mich auszusteigen, um nicht womöglich noch für ein paar Stunden festzusitzen. Mein Vertrauen in die Technik der Fähre ist ernsthaft gestört.

Wir legen über drei Stunden nach der geplanten Abfahrtszeit vom Kai ab. Langsam verlassen wir die Lagune, nach zwei Stunden ist kein Land mehr in Sicht. Der Fahrtwind und die warme Luft lassen viele an Deck bleiben. Lager werden aufgebaut, Essen ausgepackt, die ersten Biere bestellt. Für 27 Stunden sind wir nun eine schwimmende Stadt auf dem Meer.
Hermann ist von München aufgebrochen, um mit dem Fahrrad einen Freund in Griechenland zu besuchen. Nach dem Tod seiner Frau und dem erwachsen werden seiner beiden Söhne ist er nach Thailand umgezogen und hat dort vor fünfzehn Jahren angefangen, sich ein neues Leben aufzubauen. Alle zwei Jahre besucht er die alte Heimat mit ihren Freunden und Verwandten. Wir verstehen uns sehr gut, erzählen uns Anekdoten und sitzen einige Stündchen zusammen. Ähnlich wie mich, packt auch ihn immer wieder das Reisefieber, die Lust am kleinen Abenteuer. Mit zweiundfünfzig Jahren verkaufte er sein Haus in Castrop-Rauxel und kam mit dem Geld bis ins Rentenalter. Durch die niedrigeren Kosten in Thailand kann er gut leben, genießt mit seiner Partnerin und der größtenteils bei ihnen wohnenden Beuteenkelin seine Zeit. Die Tochter seiner Frau und ihr Mann haben das Kind nicht ernähren können, es letztendlich nach einem Besuch bei der Oma nicht mehr abgeholt. Seitdem sind die beiden in Bangkok verschwunden und die Enkelin wird von Stiefopa Hermann und seiner Frau aufgezogen. Hermann gibt mir seine Visitenkarte und lädt mich ein, ihn zu besuchen. Sein thailändischer Name ist Jack, genau wie die thailändische Frau meines besten Freundes Joe heißt.

Um zehn Uhr ziehe ich mich in die obere Etage meiner Vierbett-Kabine zurück. Durch die Innenlage bin ich ohne Lichteinfall ziemlich von der Aussenwelt abgeschlossen. Nur das sonore Brummen der riesigen Dieselmotoren dringt zu mir durch. Meine drei Mitbewohner, Lastwagenfahrer aus Griechenland, schlafen bereits. Auch ich sinke schnell hinab ins Reich der Träume.
Da die Fähre ihre Verspätung von der Abfahrt nicht aufholt, kommen wir erst gegen sechs Uhr am Sonntagabend in Igoumenitsa an. Beim Entladen verkeilt sich direkt der erste Lastwagen und nur durch vorbeimogeln schaffe ich es, um sieben Uhr endlich auf dem Rad zu sitzen. Hermann und ich nehmen Abschied, seine Fahrt führt ihn weiter gen Süden. An der Küste entlang geht es nun Richtung Albanien. Nach einigen Kilometern lenkt mich mein GPS von der gut geteerten Straße auf eine Piste. Ich bekomme immer stärkere Zweifel, ob ich mich auf das Gerät hier verlassen kann. Als auch noch ein Gatter den Weg versperrt, bin ich kurz vor Umdrehen. Das ich trotzdem weiterfahre wird aber belohnt. Der Weg führt mich auf einem niedrigen Damm durch ein feines Feuchtbiotop. Ich scheuche etwa zwanzig Reiher auf, diverse Wasservögel fliegen davon und dann sitzen auch noch einige Pelikane stoisch auf dem Wasser. Eine Schildkröte kreuzt meinen Weg, aber kurz vor der nächsten Ortschaft versaut dann leider eine wilde Müllkippe diese wunderbare Oase.

Immer wieder werde ich von dem Hauptweg auf teilweise abenteuerliche Trassen geführt, aber auch immer wieder mit wunderbaren Ausblicken verwöhnt. Die Außengrenze der EU zu Albanien überquere ich problemlos. Bestens gelaunt geht es meinem Zielort Ksamil entgegen. Die letzten acht Kilometer fahre ich auf die untergehende Sonne zu. Noch eine Flussüberquerung auf einem in die Jahre gekommenen Holzfloß, eine letzte Anhöhe. Zusammen mit der nun rot im Meer badenden Sonne habe ich den Tageseinsatz geschafft. Viele Kinder spielen an verschiedenen Stellen auf der Straße Fußball. Alle Altersgruppen sind bunt gemischt. Ich suche etwas in dem Ort ohne Straßennamen, bevor ich nach mehrmaliger Nachfrage die Privatunterkunft finde. Meine Gastgeberin empfängt mich sehr freundlich. Nach kurzer Zeit sitze ich auf der Terrasse und habe drei Teller mit gebratenem Gemüse aus dem Garten, frisches Weißbrot, selbstgemachten Joghurt und eine Flasche Raki vor mir stehen. Der Hausherr hilft mir beim Internet einstellen und kommt später noch einmal kurz vorbei, um mir zu raten, mein E-Bike ins Haus zu stellen. Er flüstert mir dabei lächelnd ein „Mafia“ zu.

Meine Gastgeberin spendiert mir am nächsten Tag ein Frühstück. Kaum sitze ich draußen bekomme ich ein Tablett mit heißer Milch, Spiegelei, gewürztem Schafskäse und Brot vorgesetzt. Als ich losfahren möchte, verabschieden wir uns mit Küsschen links und rechts. Gastfreundschaft wird hier großgeschrieben.

So habe ich mir die Fahrt heute nicht vorgestellt: Statt gemütlich am Meer entlangzufahren, geht es andauernd dreihundert Meter rauf und wieder runter. Bei teilweise doch sehr knackigen Steigungen leiden Akku und Muskeln. Dazu sind es weit über dreißig Grad, Schatten gibt es in dieser kahlen Felslandschaft so gut wie keinen.

Antonio, ein Spanier aus Oviedo, kommt mir entgegen. Auch er ist schon relativ leergefahren, erkundigt sich bei mir nach einer Möglichkeit ohne Höhenverlust an einen Strand zu kommen. Davon gibt es auf meinem Teil der Strecke genug und ich zeige ihm kurz auf der Karte die nächsten beiden Stellen. Antonio ist seit zwei Monaten unterwegs. Eigentlich wollte er bis in die Türkei, überlegt jetzt aber in Griechenland seine Tour abzubrechen. Nicht das Fahren macht ihm Probleme, die zunehmende Hitze ist es. Wir unterhalten uns noch eine Viertelstunde an unserem knapp bemessenen schattigen Platz, dann fahren wir beide wieder hinaus ins gleißende Licht. Gegen Mittag habe ich schon zig Steigungen hinter mir, aber vor mir noch einen Pass auf über tausend Meter Höhe. Ich beschließe eine lange Mittagsrast. Die ersten beiden Läden werden offensichtlich von heruntergekommenen Alkoholikern geführt und ich trinke nur eine Cola. Dann finde ich ein sehr schönes Restaurant unter Führung einer rührend sich um die Gäste kümmernden Familie. Ich fresse mich richtig voll, trinke über einen Liter Wasser, lade meine Akkus wieder genügend auf und bleibe lange auf der erhöhten Terrasse mit Blick über die ruhige See sitzen. Der anschließende Anstieg zum Llogara Pass führt zum Glück mit relativ gleichbleibender Steigung in sehr langen Kehren den Berg hinauf. Auf der Höhe dann eine totale Veränderung der Landschaft. Das Kahle wechselt zu einem mit teilweise sehr alten Kiefern bewachsenen Wald. Hier beginnt der Nationalpark Kombitar i Llogarase. Die Abfahrt ist unglaublich schön und eröffnet immer wieder Blicke durch die Bäume auf das Wasser und das davorliegende grüne Tal. Ohne Meer würde man sich auf dem Weg in ein alpines Hochtal fühlen. Die Berge ziehen sich vom Meer hinauf bis auf zweitausend Meter.
Mein heutiges Ziel Orikum ist, wie viele der kleinen Städte am Meer, seit dem Ende der Diktatur zu schnell gewachsen. Eine Mischung aus Phantasievillen der Systemgewinnler, mehrstöckigen Zweckbauten und nicht fertig gestellten Baustellen. Die Mülltonnen laufen über, Nebenstraßen sind ungeteert und Bauschutt wird leider noch viel zu oft am Ortsrand abgeladen. Plastik ist auch hier ein sich dauernd verstärkendes Problem und das Bewusstsein für die Umwelt mit dem Verpackungsmüll noch nicht mitgewachsen.

Aber durch die dünne Besiedlung gibt es trotzdem sehr viel Naturraum mit Mengen von Kleintieren. Libellen in verschiedensten Ausführungen, große Käfer, Echsen, Schildkröten und eine Spinnenart mit sehr großen Trichternetzen fallen mir auf. Schlangen sehe ich bisher nur überfahren, aber davon scheint es auch, versteckt lebend, einige zu geben.
In den Cafés sitzen auch unter der Woche viele junge Männer. Die Arbeitslosenquote liegt durchschnittlich bei dreizehn Prozent, bei der Jugend aber immer noch bei dreißig. Das ist schon weniger als in den zurückliegenden schlimmen Jahren, aber natürlich trotzdem ein großes Problem. Der ineffiziente, teilweise korrupte Staat und ein Mangel an gut ausgebildeten Menschen machen Albanien zu schaffen. Wer eine gute Ausbildung hat, geht oft ins Ausland. Trotzdem hat das Land schon einen weiten Weg zurückgelegt und die Abhängigkeit von den im Ausland lebenden Albanern ist stark rückläufig.

Der Weg ist überwiegend flach, aber ich habe heute nicht „die Körner“ und der Backofen, durch den ich fahre, gibt auch noch das übrige dazu. So quäle ich mich ein bisschen entlang der Piste. Hinzu kommt, dass Flachetappen meistens auch landschaftlich eher öde sind. Hier ist Albanien landwirtschaftlich geprägt, jedoch auch mit industriellen Gebieten und dichterer Besiedlung. Das führt zur Zerfaserung und leider auch Vermüllung. Spannend wird es, als ich durch ein Pistenareal fahre, in dem kleinteilig nach Öl gebohrt wird. An verschiedenen Plätzen steigen Flammen abgefackelten Gases in die Luft. Außer mir sind hier nur Lastwagen und Pickups der fördernden Firmen unterwegs. Das apokalyptische dieses Landstriches erinnert an Endzeitfilme wie Mad Max. Es ist eine verwüstete Landschaft, hat aber durchaus ihren Reiz – vor allem, um Fotos zu schießen und sich dazu ein paar Gedanken über unseren Energie aufzehrenden Lebensstil zu machen.... Hier wird herausgepumpt, was wir dann verbrennen.

Meine Fahrt endet in Lushjne, einer Kleinstadt mit einem großen verkehrsfreien Platz in der Mitte. Auf dem wird am Abend scheinbar von der gesamten Bevölkerung Schwätzchen gehalten, Fußball gespielt oder Weltmeisterschaft in den umliegenden Cafés geschaut. Die Bauten haben einen sozialistischen Charme der Achtziger Jahre, sind aber in gutem Zustand. Ich genieße mein Abendbier und Pizza beim Beobachten des Geschehens.

Die Angst, die ich vor der heutigen Etappe nach Lezhe habe, ist vor allem der Länge und dem Wetter geschuldet. Um die Strecke etwas abzukürzen, wähle ich die Option „Kurz“ statt wie sonst „Schnell“ auf dem Steuerungsgerät. Dadurch sind es zwar immer noch Hundertdreißig Kilometer, aber damit komme ich mental schon besser zurecht. Der Weg führt mich somit eher in bergiges Terrain. Das hiermit auch wesentlich schlechtere Wege verbunden sind, erkenne ich schon nach wenigen Kilometern. In Albanien ist das Straßennetz sowieso sehr unterschiedlich. In der Kurve einer Nebenstraße kann der Belag von bestem Teer zu Geröllpiste wechseln und kurz danach auch wieder zurück. Gullideckel sind manchmal einfach abhandengekommen, so dass sich tiefe Löcher auftun. Eine große Aufmerksamkeit ist hier immer gefragt! Dafür sind die anderen Verkehrsteilnehmer unfassbar rücksichtsvoll und ich habe kein einziges Mal das Gefühl von Bedrohung oder Gefahr. Kurzes Anhupen vor dem Überholen, freundliches Winken und einfach einmal abwarten, wenn eine unübersichtliche Situation naht, sind hier gelebte Rücksicht.

Nach zwanzig Kilometern werde ich wieder einmal von der Hauptstraße weggelenkt und auf Nebenwege geführt. Das ist bei dem dünnen Straßennetz auch nicht anders möglich, um nicht zu große Umwege fahren zu müssen. Diesmal geht es aber eine brutale Geröllpiste mit enormer Steigung hinauf. Ohne Motor hätte ich hier nicht die geringste Chance und auch so ist alles fahrerische Geschick gefordert, um auf dem sehr tief ausgewaschenen Gelände eine fahrbare Spur zu finden. Im Gegensatz zu sonst wird die Piste aber diesmal nicht besser und führt auch erst nach zwanzig Kilometern wieder zurück auf Asphalt. Dafür fahre ich hier durch eine unfassbar schöne voralpine Landschaft, fast vollständig bewaldet und nur manchmal von ein paar Feldern oder Wiesen unterbrochen. Das Gefälle ist beträchtlich und im Dunst erkenne ich zehn und mehr Bergketten hintereinander. Tiefe Taleinschnitte rechts und links des Weges lassen mich noch vorsichtiger fahren. Alle paar Kilometer gibt es eine kleine Bauernansiedlung. Mir kommen Frauen mit Reisigpäckchen auf dem Rücken und mit grasbepackten Eseln entgegen. Das Heu wird zum trocknen zu großen Kegeln aufgeschichtet. Die Häuser sind aus dem regionalen Stein gebaut und wohl schon sehr alt. Ich fühle mich auf einer Zeitreise und genieße jeden Meter! Nur einmal wird es unangenehm, als ich zu nah an eine Ziegenherde komme und nach dem ersten zähnefletschenden Hirtenhund auch der zweite, dritte und vierte dazukommen. Ich steige auf der den Hunden abgewandten Seite vom Rad, nehme meine Reizgasampulle sprühbereit in die Hand und gehe sehr langsam und ohne aufzublicken weiter. Die Viecher lassen mich abziehen und ich bin glücklich als ich mich wieder traue aufzusteigen. Das ist gerade noch einmal gut gegangen! Zum Glück haben hier fast nur die Hirten Hunde, die Bauernhöfe und sonstigen Häuser sind weitestgehend hundefreie Zone.
Gegen Abend steht noch die Durchquerung von Tiranas Peripherie an. Schon einige Kilometer vorher liegt eine Werkstatt neben dem nächsten Gebrauchswarenhandel. Hier gibt es alles für Auto, Haus und Wirtschaft.

Der Verkehr nimmt deutlich zu und es wird zweispurig. Auch jetzt werde ich von den großen Straßen oftmals durch kleinste Wege und sogar Pisten zur nächsten größeren geführt. Teilweise nimmt die Bebauung recht verkommene Zustände an, der Großteil ist aber zwar ästhetisch fragwürdig aber gut bewohnbar. Was bleibt, ist die mir entgegen gebrachte Freundlichkeit. So wird mir auch eine Menge Stress genommen. Ich schlängele mich durch den dichten Feierabendverkehr und wünsche mir die reine Luft des Vormittags zurück. Dann geht fast gar nichts mehr. Die Autos verstopfen Kreuzungen und Kreisverkehre, parken die rechten Spuren zu und es herrscht chaotischer Stillstand. Ich weiche mehrmals auf den Bürgersteig aus, um überhaupt vorwärtszukommen. Als ich aus dem Gröbsten raus bin, geht es zwanzig Kilometer an einer Schnellstraße ohne Seitenstreifen lang. Wenn die Lastkraftwagen ihren Sog entwickeln, ist das recht unangenehm. Noch schlimmer aber ist überholender Gegenverkehr. Wenn mir auf meiner Spur die Wagen entgegenrasen hilft nur konzentriertes Spurhalten. Gegen Ende meiner Fahrt ist auch mein Akku am Ende. Um schnell hier durchzukommen, habe ich eine zu große Unterstützung gewählt. Ich lade noch zweimal jeweils eine halbe Stunde in Cafés nach und schütte mir währenddessen fast zwei Liter Wasser die Kehle hinunter. Im zweiten Café darf ich noch nicht einmal zahlen, und das so nahe der Hauptstadt an einer Schnellstraße!

Albanien hat meine Erwartungen positiv übertroffen. Besonders in Richtung Seealpen war die Landschaft spektakulär. Die gefühlten Zeitsprünge und das wirtschaftliche Gefälle sind sagenhaft für Europa. Landwirtschaft in reiner Handarbeit und auf kleinen Höfen in unwirtlichen Lagen wechseln mit den lauten und dreckigen Städten. Und irgendwo steht immer ein reparaturbedürftiger Benz in der Landschaft… Auffallend waren auch die in Dörfern entstehenden oder schon fertigen Protzhäuser. Oftmals habe ich offensichtlich unbewohnte, teure Villen gesehen. In der FAZ-online gab es einen Bericht über die Zurschaustellung von in den Städten oder im Ausland erlangtem Wohlstand in der alten Heimat. Viele dieser Häuser sind Prestigeobjekte, meistens nur zwei Wochen im Jahr bewohnt. Die Besitzer geben oft alles, was sie erübrigen können, um den daheim gebliebenen ihren Erfolg im wahrsten Sinne vor die Nase zu setzen.
Die Freundlichkeit der Menschen hat mich sehr berührt. Einfache Handlungen, die dem Gesetz der Gastfreundschaft folgen, aber dabei frei von Hintergedanken sind: Die Frau am Obststand, die den Preis abrundet, die Frau in der Bäckerei, die noch mit Servietten hinter einem herkommt oder die vielen Ermunterungen auf meinem Weg. Die religiöse Mischung ist unauffällig. Kein Zurschaustellen von religiösen Symbolen und öfters standen in einem Dorf Kirche friedlich neben Moschee. Frauen sind überall im öffentlichen Leben vertreten. Das für Schwellenländer übliche Müllproblem hat der Schönheit manchmal Abbruch getan. Kaum ein Müllcontainer, der nicht überläuft, immer wieder wilde Müllkippen in idyllischen Lagen. Das Land war aufregend, wirkte aber angenehm unangestrengt und ich bin sehr gespannt, wohin die Entwicklung der nächsten Jahrzehnte Albanien tragen wird.

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Wie jeden Tag bisher sehe ich auch an diesem eine Schildkröte auf meinem Weg. Aus einem Urlaub meiner Kindheit haben wir einmal Snoopy Borek Zadar nach Hause mitgenommen. Naturschutz war, zumindest bei uns, noch kein großes Thema und irgendwie wollten meine Eltern mir wohl meinen Wunsch das Tier mitzunehmen auch nicht verweigern. Leider ist Snoopy dann nach kurzer Zeit auf nimmer Wiedersehen aus seinem Gehege verschwunden.
Etwa auf der Hälfte der Strecke bin ich heute Morgen an der Grenze zu Montenegro angekommen. Ein kurzer Schwatz mit dem montenegrinischen Grenzer, zwei Antworten auf die Fragen, warum ich Pfefferspray mal wieder aus meiner Lenkertasche gucken habe und was das Fläschchen daneben denn sei und ich bin ein Land weiter.
Zum Glück hole ich mir noch eine Flasche Wasser und trinke einen halben Liter Joghurt, denn jetzt geht es durch einen Hohlweg in die Berge weiter zum Skadar-See und auch bald steil bergauf. Ein paar einsame gelegene, halbverlassene Dörfer säumen den Weg. Nach echter Plackerei erreiche ich die letzte Kehre, geniesse dann aber einen wunderschönen Blick von weit oben über See und umliegendes Gebirge. Die Abfahrt entlang der Felswand ist umwerfend und gehört zum schönsten, was ich bisher geradelt bin. Das erste Dorf mit seinen Restaurants lasse ich links liegen, ich träume vom Platz am Wasser. Das bleibt leider ein Traum, den jetzt führt die Straße zwei Stunden lang durch die Berge, uralte Kastanienwälder und immer mal wieder eine feine Aussicht auf den See. Zugänge ans Wasser gibt es auf der gesamten Strecke nicht, leider auch keine einzige Möglichkeit zum Essen oder Trinken.

Ein solches Naturereignis wäre in fast ganz Europa schon touristisch durchstrukturiert. Hier verlassen die Menschen die kleinen Orte der Gegend und flüchten auf der Suche nach Arbeit in die Städte. Auch an meinem Zielort gibt es keinerlei Restaurant oder Geschäft. So muss ich nach einchecken und kurzer Pause wieder los, um im Nachbarort endlich fündig zu werden. Der Skadar-See, größer als der Bodensee, ist auf der montenegrinischen Seite äußerst dünn besiedelt. Auf dem Wasser sieht man kaum Boote, Segelboote habe ich kein einziges wahrgenommen. Die Touristen werden überwiegend von den Meeresorten abgefangen. So bleibt es hier noch sehr ruhig, trotz der offensichtlichen Magie des Ortes.

Die letzten Kilometer in Richtung Kotor, nach der halbstündigen Abfahrt hinab zur Touristenhochburg Budva, sind ein verkehrstechnischer Horror: Die Straße ist vollständig verstopft. Kurz vor dem Ziel muss ich dann noch durch einen fast zwei Kilometer langen Tunnel. Mir kommen schon Abgasschwaden aus der Einfahrt entgegen und drinnen ist die Luft grau. Zudem lässt die Akustik die Fahrzeuge wie eine einzige Sirene klingen. Als ich wieder rauskomme, beißen mir die Abgase im Hals und auf der Haut. Ich gurgele ein paar mal bevor ich trinke und fühle mich leicht schwindelig. Noch ein weiterer Kilometer, dann wäre ich wohl an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben....
Kotor empfängt mich mit Touristenmaßen. Die Stadt ist sowohl wegen ihrer Architektur als auch der Lage berühmt, steht auf der Liste des UNESCO-Welterbes und wird von einigen Mittelmeerkreuzfahrten angesteuert. An der Touristeninformation ist eine Frau so nett und ruft meine Gastgeber an, damit die mich abholen. Leider geht es zu meinem Privatzimmer sechzig Stufen in der Altstadt hoch. Zusammen mit meinem Vermieter und unter Schweißausbrüchen tragen wir Rad und Gepäck aufwärts. Er und sein Bruder sind sehr sympathisch und wir unterhalten uns über meine bisherige Reise. Dazu gibt es leckeren Saft und ein schattiges Plätzchen vor dem Haus, während ich auf mein Zimmer warte. Ich bleibe erst einmal ein paar Stunden in dieser Oase und denke, dass ich lieber am späten Nachmittag losgehe. Dann sind die Tagestouristen wieder auf ihren Schiffen, was zur Aufnahme der Stimmung dieses Kleinods sicher positiv beitragen wird.

Wie ich es schon von vergangenen Radtouren kenne, ist auch hier wieder an nicht mehr als sechs Stunden Schlaf zu denken. Das ist insofern nicht schlimm als ich den ganzen Tag keinerlei Müdigkeit fühle. So stehe ich früh auf und wasche die gestern schon eingeweichte Wäsche auf der Hand. Hier gibt es einen kleinen Hof in dem mein Rad geparkt ist und dort kann ich auch meine Klamotten zum trocknen aufhängen. Die Treppen abwärts gehend, verlasse ich durch das Südtor die Altstadt Richtung Post um mit Anke, Eddy und meiner Mutter zu telefonieren. Da mein Prepaid-Handy einen unverschämten Tarif hat, ist das die beste Möglichkeit, um Gespräche mit den Lieben zu führen. Gegenüber früheren Zeiten ist das sowieso alles recht luxuriös. Anke schickt mir Bilder von Kindern und Haus, E-Mails wandern hin und her und dann auch noch mobil telefonieren. Eigentlich ist man gar nicht mehr richtig weg. Vor kurzem habe ich bei meiner Mutter alte Postkarten vom Urlaub meines Vaters mit meinem ältesten Bruder Claus aus den 60er-Jahren in Norwegen gelesen. Das hat mich sehr angerührt. Alle paar Tage eine Postkarte und einmal in der Woche ein Auslandsgespräch. Eine kleine Reise in die Vergangenheit, als mein Vater ungefähr in meinem jetzigen Alter war. Es ist mir immer wieder eine große Freude, die Stimmen aus der Heimat zu hören und auch wenn ich dadurch nicht völlig weggeschaltet bin, ist das mir wichtig und ich möchte es auf keinen Fall missen. Auf dem Rückweg kaufe ich mir genug Wasser und Studentenfutter. Ab Morgen geht es ins Hinterland und da ist, soviel habe ich nun schon mitbekommen, doch ziemlich der Arsch ab. Auf dem Markt nehme ich noch frisches Obst mit und frühstücke am kleinen Tisch vor meinem Haus.
Während ich auf dem Bett lese und ein bisschen für die letzten Übernachtungen recherchiere, fängt es immer lauter an zu donnern und es blitzt auch heftig dazu. Ich hole die Wäsche ins Zimmer. Kurze Zeit später höre ich auch schon den Starkregen auf das Dach trommeln. Der restliche Tag ist grau, immer wieder mit Schauern oder Nieselregen. Nur zum Essen und WM-Viertelfinalspiel verlasse ich den Raum. Das ist mir aber ganz recht, meine Beine brauchen den Ruhetag. So werde ich auch erst gar nicht in Versuchung geführt. Am Abend höre ich mir dann doch noch ein bestuhltes Open-Air-Konzert vor der Kirche an. Zwei Akustik Gitarristen spielen sehr virtuos mit sichtbar guter Laune unter dem wieder offenen Himmel und werden vom Publikum dafür auch gebührend gefeiert.
Während Kotor  am Morgen wieder unter einer Wolkendecke liegt, fahre ich los ins Landesinnere. Zuerst ein paar Rampen und anschließend durch 27 Haarnadelkurven geht es auf neunhundert Meter hoch. Schon nach kurzer Zeit fühlt sich mein Hinterreifen schwabbelig an, ich vermute einen schleichenden Platten. Nur durch Ausbauen des Schaltwerks bekomme ich das Hinterrad überhaupt aus der Halterung. Dann scheitere ich trotz Werkzeug am Abziehen des Mantels. Keine Ahnung, was der Trick dabei ist. Ehe ich den innen liegenden Schlauch zerstöre, versuche ich es mit aufpumpen. Das hätte ich doch einmal zuerst machen sollen! Der Schlauch ist gar nicht kaputt, sondern hat nur durch das ewige Geländefahren, aber wohl auch durch meinen letzten Aufenthalt auf Meeresniveau Druck verloren. Leider bekomme ich nun die Gangschaltung nicht mehr ganz in ihre Ausgangsposition, so dass ich einen Gang nicht mehr schalten kann. Nach mehreren Versuchen, bei denen sich die Schraube zum Befestigen immer schief ins Gewinde dreht, gebe ich auf. Kleine Metallspänne zeigen mir an, dass mein Gewinde mir nicht mehr viele Versuche zugestehen wird. Ich hoffe, das Reifen und Schaltung mich nun nicht unterwegs im Stich lassen und werde am Montag in Zabljak hoffentlich einen Laden zur Reparatur finden. Wie ein Rad-Hypochonder horche ich auf jedes Geräusch, halte wiederholt an, um den Reifendruck zu prüfen. Liegenbleiben mitten in dem zu durchquerenden menschenleeren Gebiet wäre eine ganz schlechte Option! Aber alles läuft und nach einiger Zeit bin ich beruhigt und genieße meine Fahrt. Als dann auch noch eine frisch asphaltierte Straße hinaufführt und ein neuer Tunnel mich die letzten Höhenmeter zum Pass schwänzen lässt bekomme ich gar nicht die kleine Abbiegung mit. Erst nach sechs Kilometern bemerke ich den Fehler und muss umkehren. Das konnte nur passieren, weil die Straßenführung neu ist und weder meine digitale noch meine analoge Karte den richtigen Verlauf anzeigen.

Einzelgehöfte und kleine Siedlungen unterbrechen das an mir vorbeiziehende grün-graue Band aus Felsen und Pflanzen. Irgendwann erreiche ich eine Kneipe im Nichts. Ich halte an, um etwas Strom zu tanken. Ein Esel begrüßt mich, sonst ist keiner da. In der Wirtschaft ist alles noch unaufgeräumt von der letzten Nacht und neben dem Bollerofen hat sich jemand ein Nachtlager mit Decken eingerichtet. Die Theke ist mit vier Stapeln Briefen, Handtuch und einem weiteren seltsamen Mix belegt. Neben einem 22er Schraubenschlüssel liegt ein Kosmetikspiegel. Eine gebrauchte Kaffeetasse steht vor einer Raki- und einer Weinflasche. Ich schließe mein Akku an einer Steckdose an, setze mich auf einen der vier Küchenstühle vor der Tür und lese ein paar Seiten. Nach zehn Minuten biegt ein auberginenfarbener Lada Niva um die Ecke. Vuko Vucotic, wie ich später auf der mir überreichten Visitenkarte lese, steigt aus und begrüßt mich mit einem tiefen Bass aus seinem voluminösen Körper. Wir sprechen leider keine gemeinsame Sprache, aber Vuko versteht, dass ich gerne einen Kaffee hätte. Er wirft den Spirituskocher an und nach kurzer Zeit bekomme ich einen echten Türkentrunk. Selbst nach absinken lassen und vorsichtigem umrühren sehe ich nur Kaffeemehl. Ich schlürfe einen kleinen Schluck. Als Vuko ein Telefongespräch annimmt gehe ich eine kleine Runde mit meiner Tasse spazieren und dünge das Grün. Er bekommt seinen Euro, ich schließe mein Akku wieder ans Rad und biege meinerseits um die Ecke.

Das Radeln kann manchmal für sich genug sein. Die Landschaft zieht vorbei, der Motor rauscht leise, ein wenig Fahrtwind sorgt in der Hitze für die richtige Temperatur. Kleinigkeiten erzeugen Aufmerksamkeit, regen eine Gedankenkette an, die sich dann alsbald wieder im Nebel verliert. Zwei Vögel umfliegen sich, ein Vogel fängt einen Käfer, ein Käfer klatscht gegen meine Schulter. Die Wildblumen am Wegesrand biegen sich leicht in der Brise, der nächste Hügel naht, die Steigung beginnt, die Steigung geht zu Ende, zwei Gänge hochschalten, ein neuer Ausblick, ein neuer Gedanke. Manchmal fangen die Gedanken auch an sich zu drehen – fast wie das Rad, die Ritzel oder meine Füße. Das ist dann oft ein sinnentleertes Mantra, dauern wiederkehrend, bedeutungslos. Eine Liedzeile aus dem Karneval, ein Satz in einem Dialekt gesprochen, Blödsinn. Langweilig wird es eigentlich nie, nur manchmal geistig auf recht kleiner Flamme kochend. Sehr auf mich selbst geworfen, durch die Disziplin des Fahrens zusammengehalten. Mein Weg führt mich über eine Hochebene, die mich in ihrer Kargheit deutlich an die schottischen Highlands erinnert. Für mich ist es erstaunlich wie so wenig so schön sein kann, ähnlich Wüsten- oder Meereslandschaften.

Noch im Bett liegend habe ich Leon de Winters „Geronimo“ gerade zu Ende gelesen. Ein Buch wie ein guter Tarantino Film, explosiv, verschlungen und mit unglaublichen, aber interessanten Wendungen. Es beginnt mein zweiter freier Tag in Montenegro. Ich bin in Zabljak, Hauptort des Durmitor Nationalparks. Fünfzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel und umgeben von vierzig Bergen über zweitausend Metern.

Leider ist es noch wolkig, gestern hat es am Nachmittag sogar kurz geregnet. Hin und wieder brennt die Sonne ein Loch und der blaue Himmel mit der einen oder anderen Bergspitze schaut hindurch. Mein Vermieter Sreten wird mich gleich auf einer Jeeptour durch den Park führen und mir die Höhepunkte zeigen: Der tiefste Canyon Europas, zweittiefste nach dem Grand Canyon weltweit, die Tara Schlucht. Ein paar Aussichtspunkte mit besonderer Berg- oder Seesicht. Hier gibt es einige sehr beeindruckende Gewässer. Gestern habe ich mir den Schwarzen See angeschaut, ähnlich dem Königssee im Berchtesgardener Land nur fast ohne touristischen Schnickschnack. Laut Sretens Wetterapp reißt der Himmel gleich auf, wir werden sehen. Durch mein E-Bike kamen wir gestern ins Gespräch. Er ist eine runde Probe gefahren und begeistert zurückgekommen. Auf der Terrasse trinken wir ein Bier zusammen und Sreten zeigt mir auf einem Youtube-Video sich und seine Freunde beim Schneemobil fahren in den verschneiten Bergen. Hier geboren fühlt er sich tief verwurzelt in seiner Heimat. Er erzählt mir von der auch hier herrschenden Landflucht und das die Dorfschule dieses Jahr mit drei Kindern in die erste Klasse startet und wohl bald geschlossen wird. Für Sreten versagt die Politik, weil drei große Firmen in dieser Gegend schließen mussten und nur noch der Tourismus Arbeit verspricht. Durch die veralteten Liftanlagen ist aber auch im Winter nicht mehr viel los, andere Winterorte übernehmen mit modernen Einrichtungen das Geschäft. Sein Hotel bleibt nun von November bis März auch geschlossen und er nimmt sich die Zeit, die im Sommer nicht vorhanden ist. Neben den Jeepfahrten verdient Sreten sein Geld mit den Zimmern, Rafting auf der Tara und Canyoning. In den Sommermonaten wird das Geld für das ganze Jahr verdient.

Unsere Jeep Fahrt endet leider in den Wolken und so kehren wir nach einer Stunde wieder zum Haus zurück. Trotzdem war es schön zumindest einmal etwas tiefer in den Nationalpark hineinzufahren und einen Blick von zweitausend Meter Höhe auf den Schwarzen See und das Umland zu bekommen.
Nach einstündiger Fahrt aus dem Hochtal geht es nun einige Kilometer bergab zur sechs bogigen Brücke über die Tara. Hier frühstücke ich mit atemberaubendem Blick und gehe einmal in Ruhe nach drüben und zurück, bevor ich dem Fluss bis zu meinem heutigen Ziel folge. Es ist eine einfache, aber sehr schöne Fahrt durch die Schlucht. Links und rechts Steigen die Berge steil nach oben, unten fließt die türkisgrüne Tara. Im Frühjahr, wenn der Schnee schmilzt, ist es ein Höhepunkt für Rafting Profis den Fluss zu bezwingen. Jetzt macht es mir einfach nur Spaß ihn entlangzufahren.

Nach dem Einchecken fahre ich in den Nationalpark Biogradska Gora. Hier gibt es einen der letzten drei Urwälder in Europa. Am Parkeingang kommt einer der Chefs und lässt mich umsonst hinein. Wahrscheinlich, weil er weiß, wie viele Höhenmeter ich jetzt in Schlaufen abtrampeln muss, um an dem See, eine der Hauptattraktionen hier, zu kommen. Auf dem Weg stehen die breitesten Birken meines Lebens. Auch riesige Ahornbäume fallen mir auf. Eine gemütliche Runde um den See zeigt mir einige der alten Baumriesen und auch ein Hochweg über ein kleines Moor ist bei dem sich durch die Blätter stehlenden Licht sehr romantisch. An Orten wie diesem hätte ich manchmal gerne etwas mehr Zeit, auf der anderen Seite bekomme ich auf den täglichen Fahrten auch schon jede Menge schöner Plätze im Vorbeiziehen mit.

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Heute steht wieder einmal ein Länderwechsel an, ich möchte nach Peja im Kosovo. Die ersten sechzig Kilometer fahre ich in einem Rutsch, fast durchgehend entlang eines Flusslaufs. Hinter Berane steigt die Straße langsam an und die Berge um mich gewinnen an Höhe. Da mir die Fahrt recht lang erschien habe ich die Funktion kurz gewählt. Das heißt fast immer zwischendurch steile Anstiege und unasphaltierte Wege. In einem kleinen Dorf sehe ich die letzte Chance Wasser und Strom aufzutanken, bevor es richtig in die Höhe geht. An einer kleinen Dorfkneipe halte ich an. Ein englischsprechender Mann begrüßt mich mit Händedruck und nimmt direkt mein Akku mit Ladegerät entgegen. Ich werde mit Wasser versorgt und es wird angeboten aus dem Dorf etwas Essbares zu besorgen. Ich lehne dankend ab, hole meinen Nussvorrat aus der Packtasche und genieße die Terrasse. Natürlich muss ich Rede und Antwort über meine Tour geben und nach mehrmaligem Ablehnen akzeptiere ich einen köstlichen Obstler. Alle trinken schon am Vormittag Bier und Härteres. Kaffee und Obstler feuern meinen Kreislauf an, weitere Kurze lehne ich trotz der Einladung „You want Schnaps?“ dankend ab. Der Wortführer ist auf Urlaub aus Dubai in der Heimat. Auf meine Frage, ob dort gut bezahlt wird, antwortet er, dass es nicht so richtig gut sei. Wahrscheinlich aber weit besser als arbeitslos hier. Sein Neffe lebt in Duisburg mit einer Deutschen zusammen, er besucht die beiden einmal im Jahr und kennt das Ruhrgebiet ganz gut. Ich lese ein bisschen und studiere meine Karte. Nach einiger Zeit gehe ich nach drinnen, um mein zweites Akku auch noch ein wenig zu laden. Es gibt Sessel und Stühle, drei Fernseher zeigen Wimbledon und Wettquoten. Ein kleines Wettbüro ist eingerichtet und mein Mann erklärt, dass hier gerne kleine Beträge gesetzt werden. Es sind nur Männer und Kinder, keine Frauen anwesend. Auf meiner Karte wird mir gezeigt, wo wir uns befinden und danach gibt es lebhafte Diskussionen über den besten Weg. Meine Route ist wohl möglich, allerdings ungeteert und recht rau. Auch führt sie über die grüne Grenze ins Nachbarland. Mir wird ein anderer Weg geraten, ich werde es aber erst einmal versuchen. Von hier aus geht es auf jeden Fall über einen Pass und auf fast zweitausend Meter Höhe. Mein Gesprächspartner fährt zur Familie, meine Rechnung schon beglichen. Hier ist Gastfreundschaft über die Jahrhunderte überlebenswichtig gewesen und eine Ehre und Verpflichtung. Nach dieser sehr angenehmen Erfahrung packe ich meine Sachen und mit der Verabschiedung beginnt der Aufstieg ins Ungewisse.

Ein leicht ansteigendes Tal, rechts strömt ein Fluss talwärts. Nach drei Kilometern stehen ein paar Autos im Weg. Es werden neue Stromleitungen gezogen und der Hubwagen blockiert die Straße. Schnell steigt jemand aus einem der Wagen und setzt sich hinten auf das vor mir anhaltende Motorrad. Wir fahren an der Engstelle vorbei und weiter geht es Richtung Kosovo. Der Weg wird schlechter, die Häuser weniger. Ein Pagodenhaus mit Schwimmbecken und Teich inklusive Fontäne ist das letzte Anwesen, bevor es in den Wald geht. Hier hat wohl ein Neureicher seine Fantasie ausgelebt. Die Schlaglöcher sind nun größer als die geteerten Flächen und schließlich wird der Weg zur Piste. Für zehn Kilometer kämpfe ich mich steil nach oben über Steine und Lehm. Eigentlich ist das selbst im weiteren Sinne kein Weg mehr, sondern ein grobsteiniges Flussbett.

Dann verfängt sich ein Ast in meiner Schaltung und die Kette sitzt festgeklemmt zwischen Krantz und Speichen. Es dauert fast zwanzig Minuten bevor ich sie befreien kann und es weitergeht. Leider hat sich die Schaltung wohl etwas verbogen, ich kann nur noch ein paar Gänge schalten. Fast direkt danach geht es in eine weitere Kehre und auf einmal wird die Piste unbefahrbar. Noch viel steiler und dazu nun auch noch matschig geht es weiter. Ich schiebe noch einige Meter, lasse dann das Rad stehen und schaue, ob sich hier noch etwas ändert. Leider hat mich mein GPS beschissen und so bleibt mir nur die Kapitulation. Ich fahre den gesamten Weg am Café vorbei nach Bejane ein zweites Mal.

Als ich wieder eine gesicherte Strecke gen Peja finde habe ich vierzig Kilometer zusätzlich auf dem Zähler. An einer Tankstelle versuche ich die Gangschaltung zu richten, habe aber nur geringen Erfolg. Mit mäßig gefüllten Akkus mache ich mich an die nun noch ausstehenden siebzig Kilometer und habe auch noch immer einen Pass auf 1800m ü. NN vor der Nase. Im letzten Ort vor dem Anstieg esse ich eine Kleinigkeit und lade noch etwas Strom. Es ist ein typischer grenznaher Ort in einem armen Land: Eine große Anzahl von Autowerkstätten, Supermärkten, billigen Hotels und Marktständen mit Obst und Plunder ziehen sich die Hauptstraße entlang. Ein Unwetter braut sich zusammen und plötzlich regnet es stark. Ich warte noch eine halbe Stunde und mache mich auf den Weg. Kurze Zeit später donnert und blitzt es schon wieder und ich schaffe es gerade noch in eine Garage. Es schüttet wie aus Eimern und ich ziehe Regenkleidung an und Plastiktüten über meine Schuhe. Leider wird der Strom nicht reichen und ich schicke Stoßgebete in den Himmel, dass ich nicht zu weit unter der Passhöhe leer laufe. Fünf Kilometer vorher ist es soweit und jetzt stehe ich mit kaputter Schaltung und ohne Strom da. Ich halte ein Auto an und lasse mich bis zum Grenzhäuschen mitziehen. Mit vollem Gepäck und bergauf durch lauter Kurven ist das gar nicht einfach und ich bin heilfroh, als ich den Grenzer voraus sehe. Ein Danke meinem Helfer zurufend lasse ich los und ackere mich die hundert Meter zur Station hoch.  Ich bitte die Polizei mir mein Akku etwas aufzuladen und einer der beiden ist tatsächlich hilfsbereit, der andere kann das nicht verstehen. Nach zwanzig Minuten herumstehen und mit einem bei VW arbeitenden Heimaturlauber unterhalten erledige ich die Passformalitäten und fahre weiter. Leider geht es doch noch länger bergauf als mir erzählt wurde und so ist der Strom einen Kilometer vor der Spitze schon wieder weg. Ich quäle mich hinauf und genieße die Abfahrt. Leider setzt jetzt verstärkt die Dämmerung ein und ohne Strom auch kein GPS und vor allem kein Licht. Im Zwielicht rase ich bergab, stoppe nur kurz um mein nasses Trikot gegen ein Trockenes auszutauschen und einen wärmenden Pullover überzuziehen. Ein Foto möchte ich auch noch schießen, aber natürlich geht die Batterie der Kamera auch gerade jetzt hier leer. Egal, ich fahre weiter und bin heilfroh in schon fast völliger Dunkelheit ein Restaurant zu finden.

Nur die zwei Besitzer sitzen fernsehend und Bier trinkend da. Sie machen mir aber noch einen Teller mit Fritten, Salat und Hühnchen. Die erste richtige Mahlzeit nach hundertsechzig Kilometer Fahrt! Ich lade mein Akku, tippe Tagebuch ein und lasse es mir schmecken. Noch fünfzehn Kilometer bis zu meinem Hotel liegen vor mir. In der völligen Dunkelheit, jetzt aber wieder mit meiner Beleuchtung geht es bergab und dann noch über die Ebene in die Stadt hinein. Es ist ein etwas komisches Gefühl, in einem unbekannten Land so spät noch unterwegs zu sein. Ab der Peripherie nehmen die Lichter deutlich zu und ich fühle mich jetzt wohl und bin leicht euphorisiert mein Ziel doch noch erreicht zu haben. Bei einer Gruppe junger Männer halte ich kurz, erkundige mich nach dem Hotel und freue mich, als sie es mir mit dem Finger in der Entfernung zeigen können. Ich fahre mit dem E-Bike im Aufzug in den achten Stock und schaue in die verwunderten Gesichter des Personals. Wir einigen uns, dass ich kurz ablade und einchecke, bevor ich wieder abwärts zum Abstellen fahre. Selten habe ich eine Dusche so verdient!
Ich habe Glück und direkt der Erste, den ich frage, kann mir den Weg zu einer Radwerkstatt erklären. Hier sprechen viele ein wenig und manche auch sehr gut deutsch. Jeder scheint selbst einmal in Deutschland gelebt oder noch einen Verwandten dort zu haben. Viele waren während der Balkan Kriege nach Deutschland geflüchtet. Fast jeder vierte Kosovare lebt heute im Ausland. Ein Straßenkehrer, den ich kurz vorher gegrüßt habe, stellt seine Schubkarre mit Besen und Kehrblech vor der Werkstatt ab. Er hat nur noch drei Zähne und der Meister meint er wäre verrückt, aber sein deutsch ist gut und er weiß einiges über Politik und das Leben. Wir sprechen über Familie, er erkundigt sich, ob meine Eltern noch leben. Seine sind schon vor längerer Zeit gestorben, aber ein Onkel lebt noch in Amerika. Der Laden ist gut frequentiert, alle paar Minuten wird ein neues Fahrrad hereingeschoben. Die in Südtirol gekaufte Kette wird montiert, die Schaltung ein wenig gedengelt und verschoben, noch ein paar Schrauben justiert – alles läuft wieder. Der Helfer pumpt mir meinen Hinterreifen noch etwas auf und schraubt einen neuen Schutzdeckel auf das Ventil. Ich bin fertig für die Weiterreise. Mich verabschiedend verlasse ich die Runde, packe und fahre weiter nach Ferizaj.

Immer wieder fallen mir die UÇK Tafeln auf den Friedhöfen auf. Die „Befreiungsarmee des Kosovo“ wurde von Albanien gesteuert und kämpfte für die Unabhängigkeit von Serbien. Durch massive Unterstützung der Nato wurde Kosovo letztendlich zum eigenen Staat, wenn auch nicht von allen Ländern anerkannt. Die schwarzen Steintafeln sind nicht nur mit dem Symbol der UÇK sondern teilweise auch mit Bildern der Gestorbenen in Uniform mit Maschinengewehr verziert. Sehr gewöhnungsbedürftig für einen Grabstein, so etwas martialisches kennen wir in Deutschland höchstens von Kriegerdenkmälern.

Heute ist der Kosovo nach außen weitgehend friedlich, unter der Oberfläche brodelt es aber noch immer. Erst im Januar ist ein serbischer Politiker aus dem Nordkosovo ermordet worden. Auffallend ist, dass die in Albanisch und Serbisch geschriebenen Ortsnamen oftmals den serbischen Namen übersprüht haben.
Während meiner Etappe komme ich an unzähligen kleinen Werkstätten und Betrieben vorbei. Es fühlt sich an, als würde das gesamte Land entlang der Straßen an irgendetwas bauen oder basteln. Hier sind die Gewerke noch nicht in die extra ausgewiesenen Industriegebiete auf der grünen Wiese umgesiedelt, sondern noch in Sichtweite an den Ausfallstraßen und Hauptverkehrsachsen. Auch die Menge der mobilen Menschen ist enorm. Die Bevölkerung ist die jüngste in Europa und es wird wesentlich mehr geboren als gestorben. In den Städten sind die Kaffeehäuser voller Menschen, Männer aber auch Frauen. Religion spielt keine große Rolle, das Land ist stark säkularisiert. Trotzdem weckt mich um vier Uhr morgens erstmals der Ruf des Muezzins vom Turm der nahen Moschee. Ob er es persönlich ist oder nur seine Stimme vom Abspielgerät kann ich nicht sagen. Ich lausche kurz, schließe das Fenster und schlafe noch zwei Stunden.

Trauben und Kirschen tragen mich den Berg zur mazedonischen Grenze hinauf. Das gestern an einem Stand gekaufte Obst zuckert mir mit schneller Energie den Weg frei und ich kurbele ordentlich. Ein Hund bellt mich an, ich fahre einen Bogen, aber leider läuft er laut und böse kläffend hinter mir her. Das Pfefferspray ist seit der letzten Grenze noch in der hinteren Packtasche und so schalte ich zwei Gänge rauf und auf Turbo. Bergauf schaffe ich es zu entkommen, bleibe aber von Kopf bis Fuß durchflutet vom Adrenalin und mit Gänsehaut überzogener Haut einen Kilometer später stehen. Jetzt erst einmal tief durchatmen und dann das Spray wieder in die Lenkertasche! Entgegen den anderen durchreisten Ländern gibt es im Kosovo streunende Hunde und leider auch nicht wenige. Bisher sind sie mit dieser Ausnahme aber immer bellend und brav geblieben.
Mazedonien empfängt mich mit einer bisher unbekannten Dichte an Traktoren. Fast immer mit Anhänger transportieren sie landwirtschaftliche- und Alltagsgüter aller Art. Durch ihr geringes Tempo sind sie fahrende Barrieren und so staut sich der Verkehr immer wieder. Es gibt aber kein Hupen oder Lamentieren. Da laut Kalender kein Welttrekkertag ist, nehme auch ich das als Normalzustand hin. Erstmals auf meiner Reise sehe ich traditionelle Kopfbedeckungen bei Frauen und Männern. Das Land gehört zu den ärmsten Volkswirtschaften Europas und hat augenscheinlich noch einen hohen in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerungsanteil und damit im ländlichen Raum auch einen noch von Traditionen bestimmten Alltag.

Tetovo ist die sechstgrößte Stadt des Landes mit gerade einmal knapp vierzigtausend Einwohnern. Ich kämpfe mich durch den Moloch der Hauptstraßen und setze mich an einem Kreisverkehr in ein Lokal, um die Lage meines Hotels zu peilen. Die Arrabiata ist mit Rindfleisch und die Carbonara laut Karte mit Salami und weißer Soße. Italien ist weit weg und ich lasse es mir schmecken. Auch hier sind einige Frauen mit Kopftuch oder Hijab bekleidet, westliche Kleidung überwiegt aber bei weitem. Überraschend oft höre ich Wortfetzen von in deutsch geführten Gesprächen. Es ist Urlaubszeit und wahrscheinlich viele im Ausland lebende Mazedonier in der alten Heimat.
Am Abend treibt mich eine Rockröhre noch einmal aus der waagerechten Bettlage. Mein Hotel liegt an einem großen Ovalverkehr der an einer Seite in einen rechteckigen Platz übergeht. Hier ist mir schon am Nachmittag eine Bühne aufgefallen. Mehrere Bands spielen seit dem frühen Abend. Jetzt ist es krachende Rockmusik, ein guter Gitarrist und eine auffallend gute Stimme. Ich gehe nach vorne, es sind nur etwa zweihundert Menschen, die sich hier fast verlieren. Neben mir nur Kinder, dafür aber auch begeistert.  Die Erwachsenen stehen etwas reserviert weiter hinten. Nach ein paar Songs gehe ich noch etwas in der lauen Luft spazieren. Die harten Kanten des Tages sind gebrochen, die Laternen lassen gnädiges Licht über Häuser und Straßen fließen. Die Eckläden in den Vierteln sind meistens Lebensmittel und täglichem Gebrauch vorbehalten. Ihre Auslagen überbieten sich in Auswahl und Darstellung. Oft wird thematisch geordnet, hier das Obst, da das Trinken und dort die Reinigungsmittel. Es sind noch viele Kinder unterwegs. Wahrscheinlich müssen die Wohnungen auch erst abkühlen, damit an erholsamen Schlaf gedacht werden kann. Alte Männer sitzen auf Plastikstühlen vor der Tür, Frauengesichter werden von den Displays der Mobiltelefone beleuchtet und an der Eisdiele ist Hochbetrieb. Hin und wieder werden potente Maschinen von ihren lauten Besitzern angeheizt. An den Hauptstraßen und Plätzen kontrolliert die Polizei ein paar Autos. Auffallend viele bunt beleuchtete Spielhallen gibt es im Zentrum. Das Zocken ist hier wie auch in den Nachbarländern sehr beliebt. Die Stimmung in der Stadt ist angenehm, auch in den stilleren Vierteln sind noch viele zu Fuß unterwegs. Die Dichte an Cafés ist, wie auch schon in den anderen Städten, überwältigend. Hier scheint das Fernsehen die Leute noch nicht so sehr zuhause festzuhalten wie bei uns. Als ich wieder am Platz ankomme sind die Konzerte zu Ende, eine Crew baut die Anlage ab. Es sind genauso viele Leute wie zuvor da. Ich gehe ins Hotel zurück und lausche bei offenem Fenster noch eine Weile den Geräuschen .
Es ist halb acht als ich das Hotel und die Stadt verlasse. Noch kilometerweit ziehen sich links und rechts der Straße Geschäfte und Betriebe.

Auch hier wieder unzählige Cafés und alle sind schon von Espresso trinkenden Männern besucht. Die Geschäftsbesitzer spritzen alle ihre Bordsteine mit dem Schlauch sauber, so dass ich dauernd durch Pfützen fahren muss. Auch am Sonntag wird überall gearbeitet. Eine Kuh ist geschlachtet worden und hängt bereits ohne Fell an einem Haken neben der Straße. Der Schlächter beginnt mit dem scharfen Messer das Zerteilen, während sein Helfer mit dem Schlauch das Blut vom Bürgersteig spritzt. Während in der einen Gemeinde noch die Überreste des gestrigen Marktes am Wegesrand liegen, wird in der nächsten gerade aufgebaut. Bauern fahren ihre Erzeugnisse vor, die Marktleute räumen und stapeln. Am Ende wird das angegammelte Gemüse liegengelassen und vermischt sich mit dem immer in Mengen anfallenden Plastikmüll. In jeder Gemeinde gibt es mehrere Friedhöfe.

Anders als in den anderen drei Ländern zuvor werden hier naturbelassene Steine oder flache Platten oft oben zugespitzt in die Wiese gesetzt. Es gibt keine Wege oder ein erkennbares System. Einfach Wiese und viele Grabsteine. Auch die mich bisher begleitenden Bilder der Verstorbenen auf den Grabmälern fehlen. Nur Name und Lebensdaten.

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An der Schnittstelle vom städtischen zum ländlichen Raum liegt ein Kieswerk. Die Rüttler und Zermahler machen einen Höllenkrach. Hier wohnen auch ein paar Roma Familien. Mir kommen drei junge Männer entgegen, zwei zu Fuß und einer mit einem alten Lastenfahrrad. Sie bringen ihre Ladung zum Altmetallhändler. Auch hier, wie wohl überall, gehören die Roma zu den Ärmsten der Armen. Sie sind zu anders für die anderen und deshalb auch immer wieder Ausgegrenzte. Geringe Alphabetisierung, fehlende Ausbildung und fehlende Integration sind ein paar der mannigfaltigen Probleme. Hier wohnen sie im Müll. Wilde Müllkippen gibt es viele auf dem Balkan und hier noch mehr als sonst. Vor der behelfsmäßigen Unterkunft einer der Familien liegt der Müll meterhoch, ein ausgebranntes Autowrack steht auch davor. Zwei Kinder winken mir zu, ich winke zurück. Hinter jeder Kurve hat wieder jemand die Überreste des Wohlstands abgekippt. Streunende Hunde suchen nach Nahrung, reisen Tüten auf und schnüffeln nach verwertbaren Bissen. Wesegen es keine andere Entsorgung zu geben scheint, als die Mengen von Plastik an die Wegesränder zu kippen weiß, ich nicht. Selbst mitten in schönster Natur sind die Abladungen normal. Ein halber Hund, genauer die hintere Hälfte plus die sechzig Zentimeter herausragende Wirbelsäule liegt auf der Straße. Ich halte die Luft an, kann dem bestialischen Gestank aber nicht ganz entkommen. Es wird jetzt ländlicher und auch der Müll wird deutlich weniger. Ich passiere ein schönes Dorf, Moschee in der Mitte, Bauernhäuser mit den hier typischen Nebengebäuden aus unten Stall und oben Heuschober sowie andere Wohnhäuser bilden das Ensemble. Immer weiter führt der Weg ins Gebirge. Leider spinnt mein GPS irgendwann wieder und zeigt mir plötzlich über zwanzig Kilometer mehr zum Ziel an. Nach einer Schleife bin ich eine Stunde später wieder am gleichen Dorf, habe vorher wieder Kiesgrube, Roma, Hund und die Müllmengen hinter mir gelassen.

Diesmal frage ich eine Gruppe Männer und - wie hier fast immer - spricht einer deutsch. Er hat einen schönen Wiener Dialekt und erklärt mir, dass der Weg schwer zu fahren sei. Es ist der alte Busweg, aber seit fünfzig Jahren kaum noch von jemandem gebraucht und natürlich ungeteert. Er fährt mir ein Stück voraus und zeigt mir den versteckten Abzweig. Fünfzehn Kilometer Rüttelpiste bis auf 1150m ü. NN liegen vor mir. Am Ende wartet ein Gipsabbaugebiet auf mich. Die weißen Halden blenden mich und ich sehe den richtigen Weg nicht. Die Arbeiter unterbrechen ihre Mittagspause, schauen aus der Bude und zeigen mir wo es langgeht. Ich schieße noch ein paar Fotos. Das erinnert mich an die Salinen, die Anke mit mir bei unserer Radtour an der Algarve gesehen hat. Nachdem ich noch einen schwer beladenen LKW auf der Piste abwärts hinter mir lasse und so der endlosen Staubfahne entkomme, treffe ich auf die A2, die direkte Verbindung nach Kiçevo und zu Noras Ranch. Ich stoppe noch für ein Mittagessen und bin bereit fürs WM-Finale am Nachmittag.
Ich fahre meinem dritten Ruhetag in Ohrid entgegen. Die Kleinstadt liegt am gleichnamigen See. Ohrid hat auch Unesco-Weltkulturerbe Status. Die Stadt ist recht touristisch, aber angenehm ruhig dabei. Die geschützte Altstadt scheint etwas dem Verfall preisgegeben. Es passt, das auf dem lokalen Flughafen demnächst ein paar Billigfluglinien steuerbegünstigt landen sollen. Statt das Erbe zu schützen wird wohl eher auf schnelle Einnahmen durch Masse gesetzt. Noch ist hier aber ein gemütlicher Platz mit einem glasklaren See der bis achthundertfünfzig Meter tief sein soll. Erstmals auf meiner Fahrt gehe ich im mit dreiundzwanzig Grad angenehm temperierten Wasser schwimmen.

Nach meinem Ruhetag in Ohrid überquere ich erst wieder einmal die tausend Höhenmeter Marke und danach die Grenze zu Albanien. Fühlt sich ein bisschen wie nach Hause kommen an, nachdem ich hier im Land schon vor zwei Wochen einige Tage verbracht habe. Eigentlich habe ich an Korçe gar keine Erwartungen und bin jetzt positiv überrascht. Viele Grünzonen, ein paar Alleen, die Fußgängerzone mit sehr schönen Cafés und die Altstadt wird offensichtlich nach und nach renoviert statt abgerissen. Hier ist nicht alles super, aber sehr vieles besser als in den anderen Städten. Korçe ist schon früher die albanische Stadt der Literatur gewesen und scheint auch heute noch kulturell interessant zu sein. Ich sehe Plakate eines Kurzfilm-Festivals und in einer Woche startet ein Musikfestival.
An einem Ende der Fußgängerzone steht ein zehn Stockwerke hoher Turm. Ich frage nach und erfahre, dass es eine Aussichtsplattform ist. Mit dem Aufzug fahre ich hoch und genieße einen schönen Blick weit über Stadt und Umland. Am Rand von Korçe wird eine riesige marode Fabrik abgerissen.

Ich gehe ein bisschen aus dem Zentrum in die umliegenden Viertel. Eines gefällt mir besonders. Viele alte Häuser in allen Stadien von totalem Verfall bis liebevoll gepflegt bilden eine besondere Kulisse. Die scheinbar chaotisch durch die Straßen laufenden Stromleitungen werfen Schattenmuster an die Hauswände. Ich fange an Szenen und dann ein paar Menschen zu fotografieren.

Viele sind freundlich und aufgeschlossen. Das Viertel ist arm, aber die Nachbarschaft scheint sehr gut zu funktionieren. Ein junger Mann spricht mich auf Deutsch an. Er erzählt, dass er erst seit ein paar Monaten wieder in Albanien ist. Sein Name ist André und kurioserweise hat er vorher in Bergisch Gladbach gelebt. Eines Tages kam die Polizei, hat seinen Ausweis eingezogen und ihm mitgeteilt, dass er Deutschland verlassen muss. Nun ist er wieder in seiner Heimat und arbeitet als Maler. Zuerst bin ich misstrauisch, aber André ist einfach nur nett und er hat Lust mich ein wenig zu begleiten. Bei den Kindern, die immer am neugierigsten sind, übersetzt er für mich ein wenig.

Die Alten spielen hier in Zweier- bis Vierergruppen Domino, die Frauen tratschen und die Kinder kicken oder spielen sonst was. Wir kommen an zwei Backgammonspielern vorbei. Interessiert bleibe ich stehen und nach ein paar Sätzen in Deutsch werde ich zum Mitspielen aufgefordert. Achmed und sein Partner beenden ihre Partie und dann spiele ich einen Zweisatz gegen Achmeds Sohn. Der ist nach mehreren Jahren in Leipzig und Frankfurt auch aus dem Land gepflogen. Wie er zugibt auch wegen massiver Probleme, was für welche frage ich nicht nach. Achmed und sein Sohn sind Libanesen. Fotografiert werden mögen sie nicht, ich denke, dafür gibt es auch Gründe. Schnaps lehne ich ab, also bekomme ich eine Fanta ausgegeben. Ich verliere eins zu zwei und wir verabschieden uns mit Handschlag und kurzer gegenseitiger Beweihräucherung.

Mit Sonnenaufgang erwache ich und nach kurzem stöbern durch die neuesten Nachrichten im Netz beschließe ich die Stadt beim Aufwachen zu begleiten. Noch sind nur ein paar Menschen unterwegs, wenige Cafés sind offen, noch sitzen nur vereinzelt Männer bei Espresso und vielleicht schon einem ersten Rhaki zusamen. Die Händler bauen Stände mit Obst und Gemüse auf, Zigaretten werden ausgetauscht, Gespräche geführt. Das Knattern von Lastenmopeds wird durch die Abgase unterstrichen. Die Sonne strahlt noch fast horizontal einzelne Szenen aus dem Schatten.

Müde, gelebte Gesichter blinzeln mich, den Fremden an. Ich finde eine Bäckerei, kaufe mir eine Art Hotdog und setze mich in ein Café in der Nähe. Die Inhaberin spricht meine Sprache, hat acht Jahre in Karlsruhe gelebt. Es gibt eine Art Tresen an der Straße, an den ich mich setze und meinen Kaffee genieße. Auch im Marktleben gibt es Hierarchien.

Fest installierte Stände sind oben, Männer mit drei Bündeln irgendwas und roten Plastiktüten für das Verpacken der Verkäufe, wie Revolver am Gürtel befestigt, stehen unten auf der Hackleiter. Hin und wieder kommt eine Bettlerin vorbei, ein Schuhputzer hat erste Kundschaft. Die ganz Frühen tragen schon Taschen nach Hause, vielleicht noch vor dem Gang zur Arbeit oder dem Aufwecken der Kinder. Die stählernen grauen Rollläden vor den Geschäften werden eine nach der anderen nach oben geschoben. Die Stadt ist erwacht.

Auf dem Weg aus der Stadt passiere ich die Müllkippe. Direkt daneben ist ein Slum der Roma. Alte Autoreifen halten das Blech auf den Dächern, Pappen und Speerholz bilden die Wände. Ein paar Kinder spielen im Dreck, eine Frau schaut zu. Das Tor der Müllkippe ist geschlossen, daneben aber der Zaun niedergetreten. Ein Schweinehirt zieht mit seinen Tieren vom Müll in Richtung Stadt. Während ich ihm noch nachschaue, kommt ein Junge mit Muttersau und einem Dutzend Ferkeln hinterher. Schweine essen eine ganze Menge, wahrscheinlich gibt es hier mehr als genug Auswahl...mein Appetit auf Schweinefleisch sinkt rapide.

Die Strecke verlässt nach einiger Zeit das Tal und es geht in eine archaische Bergwelt. In der Entfernung sehe ich eine graue Felswand, der ich mich langsam heute und morgen nähern werde. Dazwischen liegen bewaldete Hügel und Hochtäler. Ich bewege mich immer um die tausend Höhenmeter. Es ist paradiesisches Fahren, fast Auto- und inzwischen endlich auch Müllfrei. Hin und wieder wird eine Kuh, ein Pferd oder ein paar Ziegen irgendwohin geführt. Schäfer machen Mittagsnickerchen unter Bäumen und ihre Hunde zum Glück auch. Längere Strecken gehört diese Landschaft mir völlig allein. Mein Gasthof ist ein einzelnes Haus mit Restaurantterrasse den Bergen zugewandt. Ich entspanne bei einem leckeren Hühnchen und freue mich auf meine letzten zwei Etappen.

Nach zwei Stunden genussvollem Radeln steht die graue Wand vor mir. Zum Glück geht es hier nun für mich links in Richtung Süden zur Grenze. Die Panoramen auf dem Weg hierhin haben mich oftmals anhalten lassen. Eine Pferdeherde, die ohne Zäune ein großes Tal für sich hat, ein See umrahmt von herrlichen Blumenwiesen und immer wieder weite Blicke in die Bergwelt.

Die Straße, die auf meiner Papierkarte noch ein 4x4 Track ist, wurde geteert und so fliege ich nun siebenhundert Höhenmeter hinab zum Grenzfluss. Ein kurzes Schwätzchen an den beiden Posten und ich bin wieder in der Europäischen Gemeinschaft. Ich kühle mich im herrlich klaren Fluss ab und dann geht es aus dem fruchtbaren Tal erst einmal wieder hinauf in die Berge. Der kleine Ort Mesovouni ist mein Ziel und ich freue mich, als ich in der Dorfmitte die Taverne mit dem von einer Linde beschatteten Platz sehe. Mein erstes griechisches Essen ist ein leckerer Gemüseeintopf. Als Nachtisch ein griechisches Frappé. Bei meiner Nachfrage stellt sich heraus, dass ich hier schon genau richtig bin. Mein Zimmer liegt direkt über der Gaststätte – angekommen!
Nach duschen und dem Bearbeiten und Speichern der heutigen Fotos auf dem Rechner bemerke ich, das meine Brille fehlt. Das Zimmer durchsuchen bringt genauso wenig Erfolg wie die Nachfrage in der Taverne. Ich fahre die sechs Kilometer zu meinem letzten Stopp noch einmal zurück. Hier hatte ich mir auf dem Computer angeschaut, wie ich fahren musste. Ohne langes Suchen finde ich das gute Stück. Leider ist inzwischen ein Auto oder LKW drübergerollt und sie ist verbogen, zerbrochen und ohne Gläser. Ich rufe direkt beim Optiker an und bestelle die Brille neu. Zum Glück habe ich eine Versicherung, so dass ich nur zwanzig Prozent des Neupreises zahlen muss. Die Brille hat leider noch nicht einmal fünf Wochen überlebt. Zig Mal habe ich mich erwischt, wie ich sie auf den Boden legen wollte, beim Fotografieren oder Lesen. Immer versucht, mich darauf zu konditionieren einen sicheren Platz am Fahrrad zu nehmen- letztendlich erfolglos. Die Ersatzbrille ist mein geflicktes altes Exemplar. Da sie an der dünnsten Stelle am Steg zwischen den Gläsern gebrochen war und mit Sekundenkleber geflickt, bin ich gespannt, ob sie bis zum Tütberg hält.

Die letzte Etappe, noch einmal hundertzwanzig Kilometer bis zum Fährhafen von Igoumenitsa. Einen Großteil der Strecke geht es durch die Bergwelt des Vikos-Aoos-Nationalparks. Fantastische Abschnitte, aber natürlich auch eine Menge Auf und Ab. An einem Berg treffe ich zuerst einen deutschen Mercedes Transporter Fahrer, der mich freundlich grüßt. Kurz danach überhole ich seine Frau, die sich hier die Steigung hoch quält. Zusammen mit ihrer vorausfahrenden Schwester sind die Drei bei der Vorbereitung einer geführten Radtour durch Griechenland und Albanien im nächsten Jahr. Ihre Firma heißt Kappenberg Radreisen und kommt aus Wuppertal. Zusammen fahren wir den Rest des Berges und erzählen ein wenig von unseren jeweiligen Touren. Oben biege ich zum Wasser nachtanken ab und verabschiede mich.
Die letzte Stunde bis zum Zielort muss ich mich quälen. Die ganzen Berge und Hügel und die mörderische Hitze fordern ihren Tribut. Mein Akku droht auch leerzulaufen und so bin ich heilfroh, als ich über die letzte Hügelkuppe hinunter in den Ort am Meer rolle. Nach kurzem Suchen finde ich eine ansprechend aussehende Taverne und esse meine erste, sehr leckere Moussaka in diesem Urlaub.
Nach fast dreitausend Kilometern und über dreißig Höhenkilometern ist meine Tour hier so gut wie zu Ende. Jetzt kommt nur noch der Abspann, ein Tag hier vor Ort, dann die Fährfahrt bis Venedig und die restliche Strecke mit dem Zug über München nach Hause.

Der dritte Teil meiner Europaerkundung mit dem E-Bike ist geschafft und ich bin geschafft und trotzdem glücklich. Durch acht Länder bin ich geradelt, wobei der Fokus natürlich auf den vier mir noch unbekannten, Albanien, Montenegro, Kosovo und Mazedonien lag. Landschaftlich haben alle überzeugt, vor allem in den Bergregionen, auf die ich mich auch besonders gefreut habe. Die Freundlichkeit der Menschen war rührend. Im Verkehr bin ich kein einziges Mal in eine gefährliche Situation gekommen. Die Autofahrer waren sehr zurückhaltend. Hunderte von „Daumen hoch“ haben mich angetrieben und genauso viele freundliche kurze Hupzeichen. Des Öfteren wurden mir kleine Speisen geschenkt, ein Getränk ausgegeben oder der Preis abgerundet. Übervorteilt musste ich mich kein einziges Mal fühlen.
Ein Wermutstropfen war die manchmal unübersehbare Armut, vor allem die himmelschreiende der Roma.
Auch die wilden Müllkippen, hauptsächlich in Mazedonien und im Kosovo, stießen mich immer mehr ab. Ich denke, dass auch andere Reisende hier Anstoß nehmen und dem aufkeimenden Tourismus geschadet wird. Aber es ist auch leicht, kein Müllproblem zu haben, wenn vor der Haustür vier Mülltonnen in verschiedene Farben für die reichlich anfallenden Reste des guten Lebens bereitstehen. Ich erinnere mich an die wilden Müllkippen bei uns im Rösrath der Siebziger. An einem meiner Lieblingsorte im heimischen Wald gab es von einem Tag auf den anderen plötzlich einen Riesenberg aus Autoteilen, alten Batterien und leeren Farbeimern. Auch heutzutage wird regelmäßig Müll auf unserem Waldweg abgekippt, aber eben auch relativ schnell wieder von der Müllabfuhr aufgeladen und entsorgt. Solange es kein entsprechendes Müllsystem gibt, der Müll immer mehr zunimmt, ist das Problem leider nicht lösbar.
Die Städte waren alle bis auf die Altstadt Kotors und in Teilen Korçe städteplanerisch und architektonisch eher als Proviant- und Übernachtungsmöglichkeiten zu verbuchen. Zweckbauten, durch fehlende Gelder und fehlendes Wissen eher gewucherte Strukturen, teilweise ohne Verständnis für die eigene Geschichte vernachlässigte Altstädte. Interessant nur durch ihre Bewohner und die Möglichkeit soziale Strukturen zu verstehen. Nicht viel für den normalen Touristen und sicherlich kein Grund für eine Anreise. Aber um einsame Bergwelten und intakte Natur jenseits der Straßen und Wege zu erleben und sicherlich lohnende Touren in die Bergwelt zu unternehmen sind es eindrucksvolle Länder. Ohne an Gipfeln anstehen zu müssen und mit interessanter Flora und Fauna zum Betrachten können Naturverbundene hier schöne Wochen verbringen.

Die Fähre verlässt Igoumenitsa mit viereinhalb Stunden Verspätung. Mehrmals rechne ich durch, ob ich meine Zugverbindung von Venedig nach München schaffe. Genau werde ich es wohl erst bei Ankunft wissen, habe aber gute Hoffnung das es funktioniert. Wir fahren stundenlang erst an der griechischen und dann an der albanischen Küste entlang. Die endlosen kahlen Hügelketten sind unsere Begleiter. Es ist diesig und manchmal verschwindet das Festland fast völlig. Wie weiße Mützen legen sich auf manche Kuppe die Wolken und lassen den darunter liegenden Berg durch die helle Abstrahlung als Teil des Himmels erscheinen. Schließlich verlassen wir die Küste endgültig und um uns ist nur noch das Blau von Meer und Himmel.

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Europa 3 Südost